Seit den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind linke
Medien wie Jungle World und Konkret von einer
geradezu unüberschaubaren Flut antiislamischer
Tiraden geprägt. Was sich für die einen als offene
Komplizenschaft der deutschen Linken mit dem
westlichen Krisenimperialismus und dem sich
formierenden antimuslimischen Rassismus in
Deutschland darstellt, wird von den anderen als
notwendige Aktualisierung linker Religionskritik
gerechtfertigt. Richten sich die Dschihadisten mit
ihrem Terror etwa nicht gegen genau die
gesellschaftlichen Werte, für die Progressive so
viele Jahre gestritten haben? Die Emanzipation der
Frau, die sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf
Blasphemie.
Freilich stellt sich die Frage, warum Religionskritik
in Deutschland immer ausgerechnet dann entdeckt wird,
wenn es um den Glauben der Anderen geht. Die
Millionenproteste französischer Katholiken gegen die
Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die
Demonstrationen der Kirchen in Baden-Württemberg
gegen sexuelle Vielfalt im Unterricht und die
internationale Missionstätigkeit US-amerikanischer
Evangelikaler, die in Uganda erfolgreich für die
Todesstrafe für »Homosexualität in schweren Fällen«
warben - all das war der deutschen Linken, zumal der
islamkritischen, keine nennenswerte Intervention
wert.
In Wirklichkeit
handelt es sich bei der von ihnen beanspruchten
linken Religionskritik um eine »erfundene Tradition«
(Hobsbawm). Denn seit Ende des 19. Jahrhunderts war
der Antiklerikalismus eine Domäne der Liberalen und
Nationalen, an der sich die aufkeimende
sozialistische Arbeiterbewegung bewusst nicht
beteiligen wollte. Zwar trat das Erfurter Programm
der SPD von 1891 für eine strikte Trennung von Staat
und Kirche ein; aber damit einhergehend auch für ein
Ende der liberalen Unterdrückung der Religion etwa in
Gestalt des Jesuitengesetzes und des
Kanzelparagraphen, mit dem katholische Geistliche in
Deutschland seit den 1870er Jahren kriminalisiert
wurden.
»Den
Bismarck überbismarcken«
Während dieser Zeit
verschärfter Repression gegen den Katholizismus tat
sich besonders Friedrich Engels dabei hervor, den
lärmenden Antiklerikalismus von Blanquisten und
Anarchisten in der Internationalen
Arbeiterassoziation zu isolieren. »Der einzige
Dienst, den man Gott heutzutage noch tun kann, ist
der, den Atheismus zum zwangsmäßigen Glaubensartikel
zu erklären und die Bismarckschen
Kirchenkulturkampfgesetze durch ein Verbot der
Religion überhaupt zu übertrumpfen.« »Den Bismarck zu
überbismarcken« wirft er vier Jahre später auch
seinem Gegner Eugen Dühring vor; »er dekretiert
verschärfte Maigesetze, nicht bloß gegen den
Katholizismus, sondern gegen alle Religion überhaupt;
er hetzt seine Zukunftsgendarmen auf die Religion und
verhilft ihr damit zum Märtyrertum und zu einer
verlängerten Lebensfrist.«
Obwohl Marx und
Engels nicht gerade Sympathien für die Religion
nachgesagt werden können, war für sie die Vorstellung
von Aufklärung als obrigkeitsstaatlicher Erziehung
vermeintlich unmündiger Massen etwas, das sich mit
ihrer Vorstellung von der Emanzipation der Arbeiter
als ihrer eigenen Tat schwerlich vereinbaren ließ.
Religion galt ihnen als Ideologie, aber sie war darin
»Widerspiegelung« realer Widersprüche. So wie sich
die Produktionsmittel als Produkte ihrer eigenen Hand
zu einer ihnen gegenübertretenden »fremden Macht«
verselbständigt hatten, so geschah es ihnen auch mit
den Göttern als Geschöpfen ihres eigenen Verstandes.
In ihrer Verzweiflung mochten sie glauben, durch
Gebete und das Anzünden von Kerzen auf die Schläge
des ihnen zugeteilten Schicksals wieder praktischen
Einfluss zu erlangen. Wenn der Glaube, in den Worten
Heinrich Heines, aber ein »Opium«, d.h. ein Trost
spendendes Schmerzmittel war, dann bestand die Lösung
nicht in der Wegnahme des Medikaments, sondern in der
Beseitigung seines klassengesellschaftlichen Grundes:
den sich in religiösen Praktiken ausdrückenden
gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrungen. Darum hatten
sie 1848 mit dem Linkshegelianismus und seiner
lärmenden atheistischen Propaganda gebrochen. Die
Arbeiterklasse an konfessionellen und religiösen
Linien zu spalten, erschien ihnen als die Dummheit
linker Kleinbürger.
Die Liberalen
dagegen rechtfertigten mit Verweis auf die geistige
Unselbständigkeit religiöser Bevölkerungskreise ihre
Parteinahme für das Zensuswahlrecht, das über den
Maßstab des Besitzes den ungebildeten »Pöbel« bis auf
weiteres vom politischen Prozess ausschloss.
Insbesondere der katholische Süden wurde dabei als
»innerer Orient« imaginiert, auf den sich jene
bürgerliche Zivilisierungsmission richtete, die im
Äußeren noch nicht ausgelebt werden konnte. Liberale
verstanden sich als »Kulturbringer«, die dem als
geschichtslos aufgefassten Anderen zu jenem
Fortschritt verhalfen, zu dem er von sich aus nicht
in der Lage schien. Die antiklerikale Propaganda war
so auch eine indirekte Legitimation ihres eigenen
Klassenprivilegs.
Stigmatisierung des Katholizismus
Die
Essenzialisierung des Katholizismus zum
geschichtsunfähigen Anderen des liberalen Europas war
dabei selber im höchsten Grade illusionär. Der
antiliberale Furor von Papst Pius IX. verdankte sich
nicht einer inneren Resistenz des Katholizismus gegen
die Moderne, sondern der territorialen Bedrohung des
Kirchenstaats durch das Risorgimento, der liberalen
und nationalen Bewegung Italiens und Piemonts. Pius
reagierte auf diese Entwicklungen 1864 mit dem
»Syllabus errorum«, der die Kirche anhand einer Liste
der 80 »wichtigsten Irrtümer unserer Zeit« in eine
radikale Frontstellung »mit dem Fortschritt, dem
Liberalismus und der modernen Kultur« brachte. Auf
Kritik aus den eigenen Reihen antwortete Pius mit dem
Dogma seiner eigenen Unfehlbarkeit, was zur
Abspaltung liberaler Altkatholiken von der aus ihrer
Sicht »neuen« römisch-katholischen Kirche führte.
Statt die Ergüsse
des Pontifex auf seine reale Machtlosigkeit
zurückzuführen und sie daher einfach zu ignorieren,
ergingen sich liberale Medien nach der Verkündung des
Syllabus in einer zunehmend rabiaten Polemik gegen
den katholischen Klerus. Journalistische
Schauergeschichten, in denen Nonnen und Mönche
abwechselnd als sexualfeindliche Asketen, die junge
Frauen wegen Unzucht lebendig einmauerten, und als
orgiastische Triebtäter und Vergewaltiger vorstellt
wurden, lösten 1869 den »Moabiter Klostersturm« durch
ca. 3.000 Berliner_innen aus. Katholische Abgeordnete
reagierten auf die zunehmende Stigmatisierung ihres
Glaubens sowie die beginnenden Vorstöße preußischer
Liberaler zur Zwangsauflösung der Klöster mit der
Gründung der Zentrumspartei, die nach der Wahl zum
ersten deutschen Reichstag auf Anhieb die
zweitstärkste Fraktion bildete.
Der politische
Katholizismus war somit ein im Kulturkampf von den
Liberalen selbst geschaffener Gegner, während der
Papst in Rom mit seinen antimodernistischen
Enzykliken ein reiner Papiertiger blieb. Umso stärker
blühten in der antiklerikalen Presse die
Verschwörungstheorien, welche den traditionell
papsttreuen Orden der Jesuiten zum staatsgefährdenden
»inneren Reichsfeind« (Bismarck) stilisierten. 1870
versprach das Satiremagazin Kladderadatsch eine
Belohnung von 20 Dukaten für ein »probates Mittel
gegen die Jesuiten-Schädlinge«. Kanzelparagraph und
Ordensverbot galten dabei noch keineswegs als
hinreichende Maßnahmen, mit diesem
»Reichs-Ungeziefer« fertig zu werden. Ganz offen
wurde auch dessen physische Vernichtung
herbeigesehnt: »Die Trichinen im Milliardenschwein, /
Die Phylloxera in unserem Wein / Und der schwarze
Wurm im Reichsäpflein, / Mögen dem +++ empfohlen
sein!«
Zum Abflauen des
Kulturkampfs, der bis 1878 bereits zur Inhaftierung
von 1.800 Geistlichen und, auf der Gegenseite, zu
einem Attentat auf Bismarck durch den katholische
Handwerker Eduard Kullmann geführt hatte, kam es
erst, als mit der Gründung der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Nationalliberalen und ultramontanen
Katholiken ein gemeinsamer politischer Gegner
erwachsen war. Die Topoi des Kulturkampfs - der
Vorwurf gespaltener Loyalität, der transnationalen
Verschwörung und der inneren Zersetzung des Reichs -
verschwanden dabei nicht einfach, sondern wurden auf
Jüd_innen und Sozialist_innen übertragen, während die
zuvor auf katholische Gebiete gerichtete liberale
Zivilisierungsmission ihr Objekt jetzt in den
afrikanischen Kolonien fand.
Zivilisierungsmission des Bürgertums
Das Erstarken eines
liberalen Antisemitismus verwundert umso mehr, als
dieser bis dahin als Zeichen der besonderen geistigen
Rückständigkeit der katholischen Bevölkerung gegolten
hatte. Noch im Vorfeld des Moabiter Klostersturms
veröffentlichte die Satirezeitung Die Berliner Wespen
die Karikatur eines Mönchs, der mit Dolch und Fackel
eine Judengasse stürmt. Über den Antijudaismus sollte
der Katholizismus mit mittelalterlichen Vorurteilen
und Pogromen in Verbindung gebracht werden. Und
tatsächlich versuchten Zentrumspolitiker die Position
jüdischer Liberaler immer wieder mit Verweis auf ihre
Konfession zu diskreditieren. Doch am Ende war es der
nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke,
der 1879 mit dem Satz »Die Juden sind unser Unglück«
dem Antisemitismus zu einem neuen, modernen Ansehen
verhalf. Als rückständig, assimilationsunwillig und
trotzig einer fremden Denkungsart verhaftet galten
nun auf einmal nicht mehr die romtreuen Katholiken,
sondern die Juden.
Religionskritik war
im Kirchenkampf ein Deckmantel für die Generierung
nationaler Aggressionen, die sich schon wenig später
gegen ganz andere Objekte richteten. Die
Selbstbeschreibung als aufgeklärt und fortschrittlich
stattete das Bürgertum dabei mit einer
Zivilisierungsmission aus, die es nicht nur erlaubte,
Menschen als unmündig zu markieren und sie zu
Objekten einer repressiven »Erziehungsgewalt« zu
machen. Sie diente vor allem auch dazu, die
Subalternen von politischen Prozessen fernzuhalten
und so die eigenen Privilegien zu schützen. Nietzsche
als der »Philosoph des Zweiten Reichs« (Altman)
brachte den ideologischen Übergang vom Kirchenkampf
zu den Sozialistengesetzen kongenial zum Ausdruck,
indem er das Christentum eines »Sklavenaufstands in
der Moral« zieh. Wie der Sozialismus verdanke es sich
einem Ressentiment der Schwachen und Minderwertigen,
die Ausbeutung, Herrschaft und Gewalt als etwas
Schlechtes darzustellen versuchten, wo es doch die
Grundfunktion alles Lebendigen sei. In den 1890er
Jahren ersetzte der Sozialdarwinismus den
Protestantismus endgültig als die wichtigste
Legitimationsideologie bürgerlicher Eliten.
Wenn die maßlose
Hetze gegen Muslime heute mit Religionskritik
gerechtfertigt wird, dann ruft das keine
marxistischen Traditionen wach, sondern die
schlimmsten Exzesse des deutschen Liberalismus im
Umgang mit seinen selbstgeschaffenen »Anderen«. Es
ist genau jene Linke, die die Klassenfrage
preisgegeben hat, welche sich jetzt ohne Umschweife
daran beteiligt, die Folgen sozialer Desintegration
durch Hartz IV in einen Ausdruck
zivilisierungsbedürftiger Fremdheit, Rückständigkeit
und mangelnder Anpassungsbereitschaft umzudeuten.
Dafür steht ihr Projekt der »Islamkritik«, das mit
dem Bedürfnis nach Kriegslegitimation begann und in
einem disziplinären Projekt für die Unterschichten
endet. Es ist, mit einem Wort, der alte liberale Wein
in neuen Schläuchen.
Editorische Hinweise
Erstveröffentlicht wurde der Artikel in "ak" Nr.
603. Der Autor empfahl uns die
Zweitveröffentlichung.
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