Die Invasion der Türkei in Nordsyrien und ihre islamistischen Helfer
Eine Kurzanalyse der arabischen und turkmenischen Akteure der beiden Konfliktparteien

von Attila Steinberger

09/2016

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Am 24.08.2016 hat die türkische Regierung islamistische Einheiten der syrischen Rebellen zur Einnahme der syrischen Grenzstadt Jarabulus entsandt. Vorwand war die Bekämpfung des „Islamischen Staates“ (kurz IS). Bereits am nächsten Tag kam es zu Kampfhandlungen mit arabischen Einheiten der „syrisch-demokratischen Streitkräfte“ (SDF, F = Forces) nahe der Ortschaft Ayn al Bayda. Die türkische Offensive verfolgt mehrere Ziele:
  • die Bekämpfung der syrisch-demokratischen Streitkräfte
  • die Vernichtung des Selbstverwaltungsstatuts der „Autonomieregion Nordsyrien – Rojava“
  • die Unterdrückung der syrischen Kurden
  • die Unterstützung von Al Qaida-Akteuren im Nordsyrien
  • die Unterstützung islamistischer turkmenischer Rebellen in Nordsyrien
  • die Rettung tausender IS-Kämpfer
  • der Aufbau einer türkischen Einflusszone

Der Fokus der folgenden Analyse liegt dabei auf der arabischen und turkmenischen Seite des Konflikts um die Lücke in der Berichterstattung zu schließen und die verkürzte Darstellung des Konflikts auf Kurden gegen Türken aufzuklären. Natürlich ist der Rassismus gegen Kurden eine der Haupttriebfedern für die türkische Invasion, allerdings setzt die Türkei hierzu Truppen der Freien Syrischen Armee (FSA) und der al Qaida-nahen Milizen Ahrar ash Sham, Harakat Nur ad Din Zengi und Jabhat an Nusrah (jetzt Jabhat Fatah ash Sham) ein. Harakat Nur ad Din Zengi und Jabhat an Nusrah wurden von Jordanien auf die Terrorliste gesetzt, um die Verhandlungspartner bei den Friedensverhandlungen zwischen Regime und Rebellen zu bestimmen, und die vom Waffenstillstand ausgeschlossen sind. Auf Seiten der SDF stehen allerdings auch zahlreiche arabische und turkmenische Milizen: Jaish ath Thuwar, Liwa Thuwar ar Raqqa, Kataib Shams ash Shamal, Liwa al Seljuki (Seljukenarmee), Liwa as Sultan Selim, Liwa Turki al Manbij. Insbesondere die turkmenischen Milizen der SDF lehnen brüsk jede Intervention und jeden kulturellen Hegemonie der Türkei ab. Der ethnische Grund des Konflikts ist also nur teilweise richtig.

Der maßgebliche Unterschied zwischen den beiden Konfliktparteien besteht darin, dass die mit der türkischen Regierung verbündeten Rebellen ausschließlich einer islamistischen und chauvinistischen Ideologie folgen, wobei das eine das andere verstärkt und sich deshalb massiv gegen Minderheiten, Bürgerrechtler und Journalisten richtet. In den von ihnen besetzten Gebieten Syriens verüben sie zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, diskriminieren und vertreiben die religiösen und ethnischen Minderheiten (u.a. Christen, Drusen, Alawiten) und verschleppen Aktivisten (z.B. Razan Zeitoune). Nach der Niederschlagung der Demonstrationen für Demokratie, Bürgerrechte und zur Linderung der wirtschaftlichen Not 2011, haben sich Teile der syrischen Armee zur „Freien Syrischen Armee“ zusammengeschlossen und einige Landesteile von Regimetruppen erobert (u.a. Raqqa, Aleppo). In diesen Gebieten haben sich aber die Salafisten ausgebreitet und ab 2013 die FSA militärisch zurückgedrängt. Zum Vorteil nutzt ihnen, dass Assad mehr als 10.000 salafistische Terroristen aus Gefängnissen entlassen (u.a. Zahran Alloush, Abu Mohammed al Joulani) und sie von den Golfstaaten und der Türkei massiv materiell und personell unterstützt. Zudem haben sie die weit überwiegende Mehrheit ausländischer Kämpfer an sich gebunden (mindestens 40.000). Insbesondere die Nähe zur Türkei ist maßgeblicher Faktor für die Hegemonie islamistischer Gruppen im Norden, wohingegen sie im Süden deutlich schwächer sind. Ungeachtet dessen arbeiteten sie zunächst militärisch mit der FSA zusammen, z.T. gilt das in gewissen Landesteilen bis heute (Südsyrien). Das beschränkt sich aber nur auf den Frontbereich. Hinter der Front setzten sie ihr Gesellschafts- und Politikmodell durch, bauten kriminelle ökonomische Netze auf, verkauften Maschinenparks und Fabrikeinrichtungen in die Türkei, verschleppten und ermordeten Aktivisten. Erst nach einer Weile gingen sie gegen FSA-Einheiten vor, u.a. militärisch gegen Jaish ath Thuwar und die 13. Division. Andere Einheiten wurden bestochen, wie die 3. Division. Militärisch führte diese Taktik zum zwischenzeitlichen Niedergang. Durch die Schwächung der FSA gingen weite Teile Aleppos wieder verloren und die Bezirke im Osten Damaskus wurden eingekesselt und von der Außenwelt abgeschnitten. Erst 2015 gelang den islamistischen Rebellen mit der Eroberung Idlibs und Maarat an Numans ein großer militärischer Erfolg.

Die Einheiten hingegen, die sich mit der linken kurdischen YPG (Yekitine Parastina Gel = Volksverteidigungseinheiten) zur SDF zusammengeschlossen haben, sind weitgehend Anti-Assad und Anti-islamistisch. Die Truppen verstehen sich auch nicht als politische Organisation, sondern als Truppen der Nordsyrischen Autonomie, die gemeinsam im März 2016 ausgerufen wurde und derzeit eine Verfassung erarbeitet. Die ersten Entwürfe sehen ein säkulares, gleichberechtigtes und pluralistisches Gesellschafts- und Politikmodell vor. Insbesondere soll ein föderales System aufgebaut werden.

Wie oben beschrieben kamen deshalb die FSA-Rebellen mit den Islamisten in Konflikt. Die FSA-Rebellen verstanden sich nicht als politische Organisation und haben deshalb auch nicht am politischen Leben teilgenommen oder Strukturen aufgebaut. Dies haben sie den Aktivisten überlassen, die nach und nach eingeschüchtert, verschleppt oder ermordet wurden. Viel zu spät reagierten sie gegen ISIS/Jabhat an Nusrah und bekämpften sie. Dabei liefen einige Truppenteile zu ISIS über, islamistische Milizen wie Harakat Nur ad Din Zengi und Ahrar ash Sham verhielten sich neutral, weshalb das Rebellengebiet zwischen FSA-Land und ISIS-Land getrennt wurde. Einige Monate später haben sich innerhalb ISIS die Gruppen überworfen. Jabhat an Nusrah wurde aus dem ISIS-Land vertrieben. Dennoch bekämpft Jabhat an Nusrah seit 2014 ISIS nicht mehr. Stattdessen wendeten sie sich mit anderen islamistischen Milizen (u.a. Turkmenen Brigade, Harakat Nur ad Din Zengi) gegen die FSA, besonders entlang der Front mit ISIS, z.B. in Tel Rifaat und der Menagh Luftwaffenbasis.

Auch zwischen der YPG und den Islamisten gibt es seit 2012 zahlreiche Konflikte, wobei die Schlachten mit dem IS wie die Schlacht um Kobane/Ayn al Arab am bekanntesten ist. Allerdings gibt es auch im Norden der Stadt Aleppo mit Sheikh Maqsud ein Kurden- und Christenviertel, das seit 2013 von islamistischen Gruppen belagert wird. Gelegentliche Versuche der Islamisten in das Viertel vorzudringen wurden zurückgeschlagen, wie auch Ausbruchsversuche der YPG abgewehrt wurden. 2015 intensivierten sich die Kämpfe zwischen den Gruppen. Während die Situation in Aleppo unverändert blieb, eroberten im Februar 2016 die FSA-Einheiten der SDF die Orte Tel Rifaat und Menagh zurück und drangen auf Azaz vor. Nur dem Beschuss der türkischen Armee können die Islamisten im Norden eine komplette Niederlage verdanken. Eine leichte Entspannung hätte im Mai 2016 zu einer dauerhaften Befriedung der Situation führen können. Die Islamisten versuchten nahe Azaz den IS zurückzudrängen, ihr Vorstoß wurde aber abgeschnitten und eingekesselt und nach und nach vernichtet. Der Gegenangriff des IS hätte fast Azaz erobert. In dieser prekären Situation, griff die SDF ein. Vom Tishrin-Damm, der über den Euphrat führt, fielen sie dem IS in den Rücken und belagerten die Stadt Manbij. Der IS musste seinen Angriff abbrechen und Azaz war gerettet. Anstatt nun die ausgestreckte Hand der SDF zu ergreifen, spuckten die Islamisten lieber hinein. So wurde Sheikh Maqsud tagelang bombardiert, u.a. mit Chlorgas. Die Situation eskaliert weiter mit dem Abzug des IS und der Eroberung Jarabulus durch das türkische Militär und die Islamisten. Die Jarabulus wurde kampflos erobert, die Stadt selbst war nahezu menschenleer. Der IS hatte seine Angehörigen und Parteigänger evakuiert und die restlichen Zivilisten deportiert. Kurz zuvor war eine Autokolonne aus Manbij eingetroffen,  bestehend aus den restlichen IS-Kämpfern, die dabei tausende Zivilisten als menschliche Schutzschilde genommen hatten. Weder die IS-Kämpfer, noch die Geiseln sind auffindbar und wurden vermutlich in die Türkei verbracht. Kurz nach der Niederlage des IS hat die SDF zwei Militärstäbe eingerichtet, um die Städte Jarabulus und al Bab zu befreien. Der Befehlshaber für die Jarabulusoffensive Abdel Sattar al Jadir wurde aber einige Tage später von Mitarbeitern des türkischen Geheimdiensts MiT ermordet. Kurz darauf haben türkische Truppen und Islamisten der oben genannten Gruppen die Grenze überschritten und den Kampf gegen die SDF begonnen und haben so den IS vor einer vernichtenden Niederlage in Nordsyrien bewahrt.

Lesehinweis: Turkmenen im irakischen und syrischen Bürgerkrieg

Editorischer Hinweis
Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.