Die
Einführung der Ehe für alle erscheint vielen als
Erfolg der Lesben- und Schwulenbewegung.
Tatsächlich aber steht die »Homo-Ehe« im Gegensatz
zu den hochfahrenden Utopien, die diese Bewegung
seit den 1970er Jahren unterhielt. Zwar verfügte
sie immer auch über einen integrationistischen
Flügel, der sich einfach nur in die bestehenden
Institutionen assimilieren wollte, ohne diese als
solche in Frage zu stellen. Doch als Volker Beck
(Grüne) die Forderung Ende der 80er Jahre im
Dachverband der bundesdeutschen Schwulengruppen zu
popularisieren versuchte, stieß er noch immer auf
dieselbe Zurückweisung der Mehrheit, die sich
stattdessen eine »neue Lebensformenpolitik« auf die
Fahnen geschrieben hatte: Die Ehe sollte
entprivilegiert und Verwandtschaftsrechte von
dieser konservativen »Keimzelle« entkoppelt werden.
Noch stärker war die Ablehnung im Lesbenring, der
in der bürgerlichen Ehe eine patriarchale
Institution erblickte, die bekämpft gehörte.
Wag the Dog
Doch
Volker Beck hatte der Bewegung immerhin das
Bewusstsein voraus, dass es in der Politik nicht
auf das Wünschen und Wollen von Minoritäten,
sondern auf die Mobilisierung gesellschaftlicher
Großmilieus ankommt. Ohnehin hatte es sich bei der
Schwulenbewegung um die bis dato wohl erfolgloseste
politische Veranstaltung aller Zeiten gehandelt:
100 Jahre lang wurde gegen den antihomosexuellen
Strafrechtsparagraphen 175 agitiert. Ohne jedes
Kampfmittel, wie es der Arbeiterbewegung mit ihrer
Möglichkeit zum Streik zur Verfügung stand, ein, so
schien es, beinahe aussichtsloses Unterfangen. Als
in den 1960er Jahren endlich eine Liberalisierung
anstand, profitierten Homosexuelle eher kollateral
von der Umwälzung des gesamten Sexualstrafrechts.
Als schützenswertes Rechtsgut galt in den Novellen
von 1969 und 1973 nicht mehr länger die Bewahrung
einer religiös verbrämten Sittlichkeit, sondern das
Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung. Während die
»Unzucht mit Tieren« gleich komplett freigegeben
wurde, ohne dass sich hinter dieser Forderung
jemals eine soziale Bewegung versammelt hätte,
mussten Schwule weitere 25 Jahre mit einem
diskriminierenden Sondergesetz leben. Nennenswerten
Widerstand brachte die Schwulenbewegung auch
hiergegen nicht auf die Beine.
Und
auf einmal, so hören wir, soll sie so schlagkräftig
gewesen sein, die »Homo-Ehe« auf die öffentliche
Agenda zu setzen und sie zu seinem zentralen
Streitpunkt im politischen Wettbewerb der Parteien
zu machen? Etwa – wie Jens Dobler in dem neuen
Sammelband »Politiken in Bewegungen« (Männerschwarm
Verlag 2017) suggeriert – weil sie sich erfolgreich
professionalisiert und ihren radikalen
Kinderträumen entsagt hatte? Hier wird abermals ein
grundlegender Zusammenhang auf den Kopf gestellt
und so getan, als ob in der Politik »der Schwanz
mit dem Hund wedelt«. Zu fragen wäre vielmehr,
welche Interessen mehrheitsgesellschaftliche
Akteure daran hatten, sich eine
minderheitenpolitische Forderung herauszupicken,
die ja nicht einmal unter Lesben und Schwulen auf
sonderlichen Enthusiasmus stieß. Dazu muss man die
Geschichte nacherzählen, allerdings ausnahmsweise
einmal nicht aus der Froschperspektive der
»Bewegung«, sondern aus der des Staates selbst.
»Progressiver Neoliberalismus«
In
den 1980er Jahren begann unter Reagan und Thatcher,
teils auch unter Kohl, ein massiver Angriff auf die
Gewerkschaften als Institutionen der alten
Arbeiterbewegung, eine Zertrümmerung des
Sozialstaats und eine Umverteilung von unten nach
oben in einem bisher nicht gekannten Ausmaß.
Flankiert wurde diese neoliberale Offensive auf die
Arbeiterrechte durch sozialpopulistische Kampagnen,
die sich gegen Homosexuelle und Immigrant_Innen
richteten und darauf zielten, den Konservatismus in
der Arbeiterschaft für den Kampf gegen ihre eigenen
Interessen zu mobilisieren. In Großbritannien etwa
wurde 1988 mit der Section 28 (»No promotion of
homosexuality«) ein Verbot erlassen, im Unterricht
akzeptierend über homosexuelle Lebensformen zu
sprechen – nicht unähnlich dem Gesetz gegen
»Homopropaganda« 2013 in Russland. In den USA
umwarb Ronald Reagan die christlichen
Fundamentalisten, die gerade begonnen hatten, sich
auf nationaler Ebene zu organisieren, um als Moral
Majority für ihr Recht auf Diskriminierung von
Schwarzen und Homosexuellen zu kämpfen.
Gleichzeitig signalisierte der Präsident durch
seine völlige Untätigkeit im Angesicht der
Aids-Krise, dass das epidemische Sterben unter
diesen Minderheiten ihn nicht im Mindesten
interessierte. Die kulturelle Offensive der
Konservativen war in den USA so erfolgreich, dass
die moralische Akzeptanz gleichgeschlechtlicher
Beziehungen, entgegen dem allgemeinen Wertewandel
im Zuge der sexuellen Revolution der 1960er Jahre,
in den 1980ern sogar wieder unter das Niveau der
1970er Jahre sank.
In
den 1990er Jahren schafften es die im weitesten
Sinne sozialdemokratischen Parteien, diese
neokonservative Hegemonie zu brechen, indem sie in
die liberalen bürgerlichen Schichten vordrangen.
Das Konzept dafür hieß »New Labour« in
Großbritannien, »New Democrats« in den USA und
»Neue Mitte« in Deutschland. Es bestand darin, den
Thatcherismus beziehungsweise die Reaganomics als
neues Paradigma zu akzeptieren und die in der
Wirtschaftspolitik fehlende Differenz zwischen
links und rechts auf der Ebene der kulturellen
Politik neu zu erzeugen. Während Rot-Grün Hartz IV
einführte und Bill Clinton das Recht auf Bezug von
staatlicher Unterstützung für bedürftige Familien
auf eine lebenslange Obergrenze von fünf Jahren
beschnitt, dienten symbolpolitische Setzungen wie
die Homo-Ehe und die Frauenquote in
Führungspositionen zunehmend als Ausweis, dass man
nach wie vor eine progressive Alternative
darstellte. Linkssein wurde in Begriffen der Werte
des postmateriellen Bürgertums vom Kampf gegen
soziale Ungleichheit in die Anerkennung von
kultureller Differenz redefiniert. Analog vollzog
sich in den Universitäten der als »cultural turn«
bezeichnete sagenhafte Aufschwung der Kultur- und
der beinahe ebenso markante Niedergang der
Sozialwissenschaften.
Diese
Entwicklung verleiht den neuen sozialen Bewegungen
einen merkwürdig affirmativen Touch. Ihre Kritik an
anderen, eher symbolisch verfassten Formen der
Unterdrückung wird enteignet für die Legitimation
der neoliberalen Wende in den Parteien der
ehemaligen Arbeiterbewegung und der jetzt
arrivierten »Neuen Linken«. Vollends komplettiert
wird der »Sieg« der Schwulenbewegung allerdings
erst durch den Erfolg von David Camerons Konzept
der »Red Tories«, das auf den kulturellen
Wertewandel reagiert, indem es seinen Wählern einen
modernisierten, schwulenfreundlichen und
geschlechtergerechten Konservatismus präsentiert.
Während Drogenabhängigen, Alkoholkranken und Dicken
der Entzug von Hilfsleistungen angedroht wird, kann
sich der britische Premier durch die Öffnung der
Ehe gleichwohl als Vertreter einer sozial
inklusiven Politik inszenieren. Allerdings ist die
Rebellion gegen diese Modernisierung des
Konservatismus bereits in vollem Gange, wie man am
rasanten Aufstieg rechtspopulistischer, homophober
und immigrantenfeindlicher Parteien und Bewegungen
erkennen kann – der amerikanischen »tea party«,
UKIP in Großbritannien, der AfD und Pegida in
Deutschland.
Relativ geschickt haben die »blairistisch«
orientierten Sozialdemokraten Anfang der 2000er
Jahre für gleichgeschlechtliche Paare lediglich ein
Institut minderen Rechts, die eingetragene
Lebenspartnerschaft, geschaffen. »Die Homo-Ehe ist
erst der Anfang«, prognostizierte damals die
Queer-Theoretikerin Sabine Hark. Allerdings
handelte es sich eher um einen Anfang ohne Ende.
Durch die Minderberechtigung der
Lebenspartnerschaft geriet die Debatte um
Gleichstellung mit der Ehe zu einem
jahrzehntelangen Tauziehen, an dem sich eine
kulturelle Differenz, ein Kampf um »Werte«,
inszenieren ließ, in dessen Schatten sich der
scheinbar alternativlose neoliberale Umbau der
Gesellschaft vollzog. Da wiederkehrende Umfragen
jedoch belegten, dass die Konservativen den von
ihnen in den 1980er Jahren eröffneten Wertekonflikt
auf lange Frist verlieren würden, wagten die Red
Tories knapp zehn Jahre nach der Einführung der
»civil partnership« den Befreiungsschlag und
räumten das leidige Thema durch die Öffnung der Ehe
endlich vom Tisch.
Blue vs. Red Labour
Die
Verknüpfung der lesbisch-schwulen Erfolgsgeschichte
mit dem Siegeszug des Neoliberalismus gibt
allerdings auch einem neuen linkskonservativen
Populismus Auftrieb, der auf den Diebstahl seines
politischen Markenkerns mit einer
ressentimentgeladenen Politik reagiert, die darauf
zielt, die vergrätzten Teile der Arbeiterklasse mit
denselben ideologischen Mitteln an sich zu binden,
derer sich auch die Rechte bedient. Hierfür steht
in Britannien das Label »Blue Labour«, das sich
nach der Wahl Ed Milibands in den Parteivorsitz
zeitweise anschickte, zum ideologischen Ersatz für
Blairs abgewirtschaftete »New Labour«-Strategie zu
werden. So macht Ian Geary als einer der Vordenker
und Protagonisten von Blue Labour die Beschäftigung
mit Themen wie Immigration und »Schwulenehe« für
die Entfernung der Labour Party von den
»konservativeren Instinkten des britischen Volks«
und somit indirekt für den Verlust von ca. 4,5
Millionen Stimmen aus der Arbeiterschicht seit dem
Wahlsieg Blairs im Jahre 1997 verantwortlich.
Tatsächlich kann diese Beschuldigung vor allem als
Kaschierung der eigenen Rolle im neoliberalen
Projekt gelesen werden, für dessen Übernahme die
Labour Party seit Jahren von ihrer ehemaligen
Stammwählerschaft abgestraft wird. Blue Labour
antwortet darauf mit einer melancholischen
Bezugnahme auf die Arbeiterbewegung vor 1945, die
ihr aber zugleich als Mittel dient, die
Sozialstaatskritik von New Labour nur unter anderem
ideologischen Vorzeichen zu reproduzieren. Die
neoliberale Zerstörung des von Premier Attlee nach
dem Krieg geschaffenen Wohlfahrtssystems wird dabei
keineswegs in Frage gestellt, sondern von Blue
Labour geradezu als Möglichkeit gefeiert, sich auf
die alten Werte der Arbeiterbewegung wie
Solidarität und wechselseitige Kooperation
zurückzubesinnen und sie aus der bürokratischen
Klammer des »Big State« zu befreien. Ähnlich wie
Cameron in seinem Konzept der »Big Society« setzen
auch die Blue-Labour-Strategen nicht mehr allein
auf den Markt und das »eigenverantwortliche
Individuum«, sondern auf Prinzipien kommunitärer
Selbstaktivierung und zivilgesellschaftlichen
Engagements. Je mehr aber der ideologische Appell
an »Familie, Glaube und Flagge« als Ausweg aus dem
Dilemma wachsender sozialer Unsicherheit erscheint,
desto kritischer wird der angemaßte Ausbruch von
Schwulen und Feministinnen daraus betrachtet.
Die
Rechnung von Blue Labour, die Krise des
Neoliberalismus mit einer neuen, konservativen
Wertedebatte zu kitten, ist nicht aufgegangen.
Stattdessen wurde die Labour Party von
Aktivist_innen einer »neuen neuen Linken«
überrannt, die mit ihrem Kandidaten Jeremy Corbyn
das Thema soziale Ungleichheit nach 35 Jahren
wieder zurück ins politische Zentrum hievte. Der
US-Politologe Peter Beinart diskutiert diese
Entwicklung mit Blick auf ähnlich überraschende
Erfolge, welche sozialistische Kandidaten wie Bill
de Blasio und Bernie Sanders bei den Vorwahlen der
Demokratischen Partei in den USA erzielten. Den
wesentlichen Grund dafür sieht er im Linksrutsch
der zwischen 1980 und 2000 geborenen
»Millenniums-Generation«, welche die Hauptlast der
Einsparungen in der Bildungspolitik, der
zunehmenden Prekarisierung von
Beschäftigungsverhältnissen und schließlich der
Finanzkrise zu schultern habe. Zwar führe soziale
Depravierung nicht automatisch zu einer
Orientierung nach links, sondern könne die
Betroffenen auch anfällig für den Appell an
nationale, rassistische und heteronormative
Privilegien machen. Allerdings reagiere diese
Generation, so Beinart, »auf fast jede Streitfrage
im Culture War drastisch liberaler als Senioren und
erheblich liberaler als die Generation der
Reagan-Clinton-Ära«. Dies liege nicht zuletzt
daran, dass diese Alterskohorte auch in sich selbst
viel diverser sei und zu 40 Prozent einer
ethnischen oder hautfarbenbezogenen Minorität
angehöre. Erst durch die Kombination dieser
Faktoren werde das Verhalten der »Millennials«
verständlich: »Ihre wirtschaftliche Notlage in
einem Zeitalter limitierten Schutzes durch die
Regierung und ihre Resistenz gegen rechten
kulturellen Populismus sind es, die am besten
erklären, warum die Angehörigen der
Millenniums-Generation in Bezug auf ökonomische
Fragen so weit nach links tendieren.«
Die
Funktionalität des Culture War für die Ära
neoliberaler Umverteilungspolitik hat sich in
Britannien und den USA nach 35 Jahren offenkundig
erschöpft. Allerdings sollte man nicht übersehen,
dass eine Reihe von Lesben und Schwulen längst auch
ein persönliches Interesse an der Fortschreibung
ihrer zuletzt immer profitableren Rolle im
neoliberalen Kulturkrieg entwickelt haben und
bereit sind, sich an der Formulierung »neuer
hautfarbenbezogener, ethnischer und sexueller
Spaltungslinien« (Beinart) zu beteiligen. Die in
der Lesben- und Schwulenbewegung seit Mitte der
1990er Jahre andauernde Debatte um die angeblich
besondere Homophobie bestimmter Bevölkerungsgruppen
bietet hierfür eine Steilvorlage. 2006 bewies der
LSVD Berlin-Brandenburg mit seiner Forderung, den
sogenannten Muslimtest aus Baden-Württemberg zu
importieren, dass er bereit war, in der
Einwanderungsdebatte die Seiten zu wechseln und
selbst zum Element einer gegen die Bürgerrechte
gerichteten Politik zu werden. Vor diesem
Hintergrund zeigt sich die Dringlichkeit,
lesbisch-schwule Organisationen nicht nur mit einer
intersektionalen Analyse zu konfrontieren, sondern
auch den beschränkten Charakter einer Emanzipation
herauszuarbeiten, die kaum mehr als der »Trostpreis
für Progressive« in einer Zeit war, die sich
ansonsten vor allem durch die Erosion
sozialdemokratischer Parteien, den Krieg gegen die
Armen und die wachsende Eskalation des sozialen
Unterschiedes zwischen oben und unten auszeichnete.
Editorische
Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom Autor
für diese Ausgabe. Er ist ein
bearbeiteter und neu eingeleiteter Ausschnitt aus
dem Beitrag von Georg Klauda in: Politiken in
Bewegung: Die Emanzipation Homosexueller im 20.
Jahrhundert, herausgegeben von Andreas
Pretzel und Volker Weiß. Hamburg: Männerschwarm
Verlag, 2017. In gekürzter Form erschien er im ak
629 vom 15.08.2017. |