Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Differenzialistischer Antirassismus

9/2017

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Zu einigen problematischen Positionen der Bewegung Les indigènes de la République und ihrer Galionsfigur Houria Bouteldja – oder: Wie, vom notwendigen Kampf gegen rassistische Diskriminierung der „Postkolonisierten“ ausgehend, auf einigen Feldern auch deutlich reaktionäre Positionen verteidigt werden. Eine politische Kritik ohne Schaum vor dem Mund, und ohne jegliche Konzessionen an die über die Indigènes-Bewegung rasend aufgebrachten Rassisten, wäre nötig

Wie hältst Du es mit den Indigènes de la République („Eingeborenen der Republik“) und ihrer weiblichen Galionsfigur, Houria Bouteldja? Diese Frage spaltet derzeit einmal mehr die französische Linke und die antirassistischen Bewegungen des Landes. Sie führte etwa jüngst zu einem Schlagabtausch in der Literaturbeilage der Pariser Abendzeitung Le Monde, wo Jean Birnbaum am 10. Juni d.J. einen kritischen Beitrag schrieb, bevor zwanzig Intellektuelle neun Tage später mit einem kollektiven Gastbeitrag auf ihn antworteten. Birnbaum hatte von einem „rassistischen Antirassismus“ gesprochen. Zu den Unterzeichnerinnen des Gegenbeitrags zählen die Feministin Christine Delphy, der bekannte linke Verleger Eric Hazan, der Politologe Statis Kouvelakis oder der Co-Vorsitzender der linken „Französischen jüdischen Union für den Frieden“ UJFP, Dominique Natanson. Sie sprechen davon, dem Antirassismus insgesamt solle der Prozess gemacht werden, es gehe um einen Backlash zur Verteidigung weißer Privilegien, und das Denken Bouteldjas sei komplexer als von ihren Kritiker/inne/n dargestellt.(Vgl. zur jüngsten Polemik ferner auch: http://www.liberation.fr/debats/2017/06/21/l-activiste-houria-bouteldja-fait-polemique-a-gauche_1578570 )

Aufgeworfen wird diese Debatte zum wiederholten Male in Bezug auf eine Strömung, die erstmals vor dem 08. Mai 2005 in Erscheinung trat. Dieses Datum markierte den sechzigsten Jahrestags des Kriegsendes in Europa und der Befreiung vom Nationalsozialismus und Faschismus, aber ebenfalls den Jahrestag der Massaker in mehreren Städten Algeriens – Sétif, Kherrata und Guelma -, die auch am 08. Mai 1945 stattfanden und Zehntausenden Menschen das Leben kosteten. Ein Aufruf, der damals durch viele Spektren der antirassistischen, antifaschistischen und antikolonialistischen Linken unterstützt wurde, rief damals diesen Doppelcharakter des Datums in Erinnerung und hielt dem postkolonialen Frankreich den Spiegel vor, indem es den Verrat vorgeblich universeller Werte durch die Realität des französischen Kolonialimperiums – das sich auf sie berief – in Erinnerung. So rekurrierte der Text auf den vietnamesischen Sieg im Indochina-Kolonialkrieg im Mai 1954 und bezeichnete ihn als „Sieg von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, brachte ihn also mit den durch die Französische Republik proklamierten universellen Grundwerten in Verbindung.

Dies galt damals sehr Vielen als heilsame Provokation. Längst ist diese Einigkeit verflogen, und die Bewegung der „Eingeborenen der Republik“, die sich inzwischen selbst als politische Partei bezeichnet – unter dem Name Parti des indigènes de la République – spaltet mehr denn je zuvor. Das Kürzel der Organisation, die als Splitterpartei zu bezeichnen noch eine Dimension zu hoch gegriffen wäre, lautet le PIR und klingt ausgesprochen wie le pire, also „Das Schlimmste“. Es ist nicht die einzige gezielte Provokation der winzigen Organisation, die um PR-Aktionen durch verbale Zuspitzungen nicht verlegen ist weit über ihre tatsächliche Bedeutung hinaus polarisiert wodurch sie sie Aufmerksamkeit erregt.

Unter-Hunde“: eine verbale Stichelei – die die Rassisten zum Ausrasten bringt

Wer jedes verbale Auftrumpfen dabei wortwörtlich nimmt, ist selber schuld und zieht schnell den Kürzeren, da die symbolischen Provokationen mitunter zu Missverständnissen führen, die dann genüsslich widerlegt werden. Bei den Rassisten und allen militant rechten Strömungen in Frankreich etwa ist Houria Bouteldja – die Frau, die 1973 in Algerien geboren wurde, als Kind nach Frankreich kam und deren Vorname wörtlich „Freiheit“ bedeutet – eine der zentralen Hassfiguren. Einen Namen mit schlimmerer Wirkung kann man in diesen Kreisen wohl kaum aussprechen, nur der des Satans kommt noch vor ihm. Dieser tiefsitzende Hass beruht vor allem auf dem Auftritt Bouteldjas in einer Fernsehsendung im Jahr 2007, bei dem die junge Frau einen Neologismus kreierte: Sie sprach von souchiens (grob übersetzt: „Abstämmlinge“, von la souche für „die Wurzel“) als ironische Abwandlung des vor allem bei Nationalisten beliebten Ausdrucks Français de souche, sinngemäß für „Biofranzosen“. Seitdem wird in einem bestimmten Spektrum pausenlos das interessante Missverständnis unterhalten, Bouteldja und andere sprächen von sous-chiens, ungefähr: „Unter den Hunden (chiens) stehend“.

Auch wenn Houria Bouteldja sich einen Spaß daraus machen, diese Provokation an die Adresse der Abstammungs-Fanatiker eifrig zu unterhalten, wurde die Bedeutung des Ausdrucks doch Hunderte von Malen richtiggestellt. In Beleidigungsverfahren, die rechtsextreme Publikationen und Gruppen wie AGRIF („Allgemeine Allianz gegen Rassismus für den Respekt der französischen Identität“) deswegen und wegen „antiweißem Rassismus“ gegen Bouteldja anstrengten, wurde sie 2012 und 2014 freigesprochen. (Und dies zu Recht.)

Dies enthebt die PIR-Strömung nicht der Kritik an ihren eigenen Inhalten, die von linker Seite in zunehmender Schärfe und oft fundiert geübt wird.

Rasse“ (vom US-amerikanischen Begriffsverständnis abgeleitet) als zentrales gesellschaftliches Trennmerkmal

Das Kernmerkmal der PIR-Strömung ist dabei, dass sie „die Rasse“ - nicht als biologische Tatsache, sondern als soziale Konstruktion („ähnlich Geschlecht und Klasse“) gedacht, wie sie immer wieder unermüdlich betont // vgl. http://indigenes-republique.fr/revendiquer-un-monde-decolonial-entretien-avec-houria-bouteldja/ // – als zentralen politischen Widerspruch in Frankreich und in vergleichbaren Gesellschaften betrachtet. Ihre Grundlagen entlieh die Organisation sich vor allem zu Anfang bei der Schwarzenbewegung in den USA in den 1950er und 1960er Jahren. In dieser wurde, bei aller starken politischen Auffächerung und Ausdifferenzierung, stets relativ unbefangen von „Rassen“ und races relationships gesprochen. In Nordamerika bezieht der Begriff sich allerdings in der Regel auf die Hautfarbe und damit ein einfach zu beobachtendes äußerliches Merkmal, das als gegeben vorausgesetzt wird, um dann darauf zu insistieren, es dürften jedoch keine unterschiedlichen Rechte aus ihm abgeleitet werden. Im Anschluss werden dann – was der objektiven Situation in den USA durchaus entspricht -„weiße“ Privilegien kritisiert, vom größeren Risiko, Polizeigewalt zum Opfer zu fallen, bis zu geringeren Jobchancen, jedenfalls von einer gewissen Ebene ab aufwärts.

Die PIR-Strömung positioniert sich nun in Frankreich auf vermeintlich identische Weise. Sie spricht dabei auf höchst unbefangene – oder aus Sicht ihrer Kritiker unvorsichtige bis gefährliche – Weise von der Zugehörigkeit zu „Rassen“, wobei es die benachteiligten und unterdrückten unter ihnen für einen Selbstorganisierungsprozess zu gewinne gelte. Die Parallele zu den Schwarzen in Nordamerika wird dabei oft gezogen. Zu den „Rassen“ der Unterprivilegierten, für die der PIR das Wort zu ergreifen vorgibt, werden Schwarze, Araber respektive „Muslime“, aber auch Asiaten und in jüngerer Zeit verstärkt auch Roma gezählt. Der Bezug auf die Roma bildet dabei eine Ergänzung zur traditionellen Argumentation dieser Strömung, die sich ursprünglich nur auf durch Frankreich oder Europa kolonisierte Bevölkerungen als politisches Subjekt bezog.

Die Zugehörigkeit zur muslimischen Religion wird dabei nicht als ausschließliche, doch als eine zentrale Komponente des angestrebten Bündnisses der benachteiligten „Rassen“ betrachtet. Im Unterschied zur Hautfarbe von „Weißen“ und „Schwarzen“ handelt es sich dabei allerdings nicht um ein vermeintlich naturgegebenes – was auch dort bereits problematisch ist – oder jedenfalls angeborenes Merkmal, sondern um eine Geisteshaltung. Um eine Entscheidung für eine religiöse Zugehörigkeit jedenfalls im Erwachsenenleben, aus der verschiedene Personen wiederum zum Teil sehr unterschiedliche gesellschaftliche Schlussfolgerungen ziehen. Letztere reichen von „Glauben als Privatsache“ bis zum Streben nach Theokratie, mit einer gigantischen politischen Palette zwischen solcherlei Extrempositionen.

Die Tatsache der Religionszugehörigkeit – die im Kindesalter tatsächlich oft ererbt ist – wie die Hautfarbe als ein scheinbar naturgegebenes Merkmal zu betrachten und die sehr unterschiedlichen Positionen auszublenden, ist dabei ein Ausgangspunkt für mitunter fatale politische Weichenstellungen. Bei außenpolitischen Erklärungen gemeindete der PIR deswegen oft eine Reihe von Akteuren mit in die große Solidaritätsgemeinde mit ein, die mit Sicherheit nicht zu den progressiven Strömungen zählen, von der palästinensischen Hamas bis hin – in der Vergangenheit – zu Mahmud Ahmedinejdad. Dessen umstrittene „Wiederwahl“ im Juni 2009 wurde jedenfalls in zwei Artikeln auf der PIR-Webseite als Schlag für den arroganten Westen, der dies nicht erwartet hatte, dargestellt und de facto glorifiziert. Bei heftigen politischen Auseinandersetzungen einige Monate später (u.a. auch mit dem Verfasser dieser Zeilen) gab der PIR allerdings an, diese Beiträge stammten von einem externen Autor, von dem man sich getrennt habe.

Erwünschte Blindheit für soziale Klassenpositionen

Der Hauptkritikpunkt am PIR und seinem Umfeld lautet ferner, dass er die Zugehörigkeit zu unterdrückten oder benachteiligten „Rassen“ als politisches Widerspruchsfeld absolut setzt und explizit von der Frage der sozialen Klassenzugehörigkeit zu trennen versucht – während etwa die, auch in Frankreich sehr reale, Diskriminierung im Arbeitsleben just von der Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung abhängt.

Die Führungspersonen des PIR betonen jedoch stets, allein oder vorwiegend die Klassenzugehörigkeit in den Vordergrund zu rücken, bedeute, sich stets der politischen Linken unterzuordnen. Diese sei jedoch „farbenblind“, habe sich in der Vergangenheit nur unzureichend aus dem (Post-)Kolonialismus gelöst, und generell gelte es, sich als selbständige Kraft „autonom zu organisieren“ statt in einem politischen Subordinationsverhältnis zu bleiben. Im Laufe der Jahre hat sich diese Position dahingehend verschärft, dass der Führungskader des PIR vor der Gefahr politischer Subordination (Unterordnung) warnt, sobald jemand die Beziehungen zwischen den Diskriminierten oder postkolonialen Subjekten einerseits und dem Rest der Gesellschaft andererseits als soziale Klassenbeziehungen charakterisiert sehen möchte. Was unter anderem auch folgenden Widerspruch aufweist: Wer im Kern keine Verbündeten in der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft – auf der Basis gemeinsamer Klassenzugehörigkeit – gewinnen möchte, sondern darauf beharrt, die Beziehungen zwischen beiden seien notwendig solche eines Konflikts zwischen unterprivilegierten „Rassen“, verurteilt sich politisch selbst zur Niederlage. Denn jedenfalls so lange es keine extremen demographischen Verschiebungen in der Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung gibt, werden jene, die dabei als Subjekt eines Kampfes angesprochen bleiben, stets in der Minderheit bleiben; und die „Anderen“ immer in der Mehrheit.

Ihre Kritiker/innen monieren überdies, ihre eigenen sozialen Bedingungen als relativ privilegierte Personen – Houria Bouteldja arbeitet etwa als Psychologin für die Stadt Paris, andere Mitglieder des PIR-Führungspersonals sind fast alle Akademiker – sorge für ihr Desinteresse am sozialen Kampf. Beide Positionen finden innerhalb der Linken Widerhall. Außerhalb der Linken dagegen wird Houria Bouteldja und ihrem Umfeld mitunter „Rassismus“ respektive „umgekehrter Rassismus“ - so die ursprünglich linksnationalistische, heute eher politisch verwirrte Zeitschrift Marianne // vgl. https://www.marianne.net/debattons/editos/touche-pas-ma-raciste-ces-intellectuels-qui-soutiennent-houria-bouteldja // – oder „antifranzösischer Rassismus“, so die rechtsextreme Gruppe AGRIF unter dem früheren Front National-Politiker Bernard Antony, vorgeworfen. Als Anhaltspunkt dafür wird genommen, dass der PIR von „Rassen“ spricht; allerdings gibt die Organisation vor, dieses Unterscheidungsmerkmal nur bis zur Aufhebung bestehender Privilegien benutzen zu wollen.

Die einseitige Betonung der „Rassen“zugehörigkeit als Merkmal der Unterprivilegierten – in einer Gesellschaft, in welcher tatsächlich eine Segmentierung nach vorgeblich „ethnischen“ Merkmalen stattfindet – verleitet den PIR wiederum dazu, anderen Zugehörigkeiten als Grundlagen für einen politischen Kampf ihre Legitimität abzusprechen. Dies gilt für geschlechtliche Identitäten in jeglicher Hinsicht, sei es die Zugehörigkeit zu sexuellen Minderheiten oder auch die Unterdrückung der Frauen betreffend.

Abschottung gegenüber homosexuellem Emanzipationsstreben... und dem von Frauen

Anlässlich der Debatten um die „Ehe für alle“, die 2013 eingeführte wurde - also die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – argumentierte Houria Bouteldja, diese Frage stelle sich für die Bewohner in Les quartiers, also in den sozial benachteiligten Wohngegenden mit hohem Migrationsanteil, gar nicht. Denn dort gebe es keine „homosexuelle Identität“. Daraufhin wurde ihr von mehreren Seiten der Vorwurf gemacht, sie rede wie der damalige Präsident Ahmedinejdad, der behauptet hatte: „Im Iran gibt es keine Homosexuellen“ - während Menschen dieser sexuellen Orientierung im Iran von Hinrichtung bedroht sind. (Eine Parallele, welche Houria Bouteldja bei einer ihrer verbalen Provokationen auch einmal selbst zog...)

Bouteldja leugnet allerdings nicht, dass es homosexuelle Menschen auch in den fraglichen Wohnvierteln gebe; sie will auch nicht Homosexuelle hinrichten, wie es im Iran tatsächliche Praxis ist. Sie spricht diesen Menschen durchaus nicht ihre Existenzberechtigung ab - bestreitet allerdings vehement, dass diese Zugehörigkeit im sozialen oder politischen Sinne identitätsbildend oder identitätsstiftend wirke: „Die < Ehe für Alle > betrifft nur die weißen Homosexuellen. Wenn man arm ist, prekär arbeitet und unter Diskriminierung leidet, dann ist es die Solidarität der Gemeinschaft, die zählt. Das Individuum macht seine Kompromisse, weil es andere Themen Vorrang haben.“ Auf diesem Wege schloss sie keine sexuellen Praktiken aus – zu denen sie sich nicht äußert, wohl aber, dass gesellschaftliche Forderungen aus der Stellung als Homosexueller abgeleitet würden. Bezogen auf ihre vermeintliche soziale Klientel, äußerte sie: „Das ist, als würde man von einem Armen verlangen, Kaviar zu essen.“ Die Hilfsorganisation Le Refuge, die junge Homosexuelle unterstützt, erwiderte darauf, junge Homosexuelle in den betreffenden Vierteln würde es dadurch zusätzlich erschwert, sich zu outen, falls dieser Diskurs Anklang finde. Fünfzig Prozent der jungen Homosexuellen, die in Heimen der Organisation Zuflucht vor Stigmatisierung im familiären und sozialen Umfeld fänden, kämen aus diesen Wohngegenden.

Alles in allem ähnelt Bouteldjas Position entfernt jener, die die damals noch vom Stalinismus geprägte französische KP noch in den 1970er Jahren bezog, als Teile von ihr auf die nach 1968 entstehende Homosexuellen-Emanzipationsbewegung antworteten, es handele sich um ein kleinbürgerliches Luxusthema.

Auf vergleichbare Weise äußert Bouteldja sich zur Unterdrückung der Frau. Diese leugnet sie als Tatsache keineswegs, und spricht sich auch für ihre Überwindung aus. Allerdings behauptet sie zugleich, das Macho-Tum oder die sexualisierte Gewalt von in ihrer Diktion „eingeborenen“ Männern – also Angehörigen unterprivilegierter und qua Abstammung diskriminierter Minderheiten – leite sich direkt aus ihrer eigenen Unterdrückung ab und bilde quasi (nur) eine Reaktion darauf: „Man muss hinter der testosteron-geladenen Männlichkeit des eingeborenen Männchens den Anteil, der gegen die weiße Dominanz widersteht, erahnen.“ // Vgl. https://blogs.mediapart.fr/melusine-2/blog/200616/bouteldja-ses-soeurs-et-nous // Die betroffenen Individuen versuchten, ihr durch Diskriminierungsgefühl gebrochenes Selbstwertgefühl durch betontes Männlichkeitsgehabe wieder herzustellen. Dieses Konzeption wurde im Juni 2016 auf einem Blog der linken Internetzeitung Mediapart durch die anonyme Autorin Mélusine 2 der bislang ausführlichsten und differenziertesten Kritik unterzogen. Ihrer Verfasserin zufolge leugnet Bouteldja, die viel von autonomen Selbstorganisierungsprozessen der racisés („zur Rasse gemachten“) spricht, ihrerseits die Legitimität autonomer Emanzipationsprozesse der Frauen. Allerdings sei die Situation der Frauen in rassistisch diskriminierten Gruppen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft eine andere als die weißer Frauen; es gelte, sowohl der Selbstunterordnung gegenüber einer konstruierten ethnischen Gruppe als auch einem vereinnahmenden weißen Schein-Universalismus zu widerstehen.

Auf ähnliche Weise wie die Emanzipationsbestrebungen von so genannten sexuellen Minderheiten sowie der weiblichen Bevölkerung, ordnet Bouteldja auch die Frage so genannter „Mischehen“ (mariages mixtes) dem von ihr definierten „strategischen Interesse der Eingeborenen“ – also der als postkoloniale Subjekte Wahrgenommenen und Diskriminierten – faktisch unter. So ist sie der Auffassung, von der Herkunft her „gemischte“ Eheschlüsse seien (sofern es um respektive muslimische und nichtmuslimische Partner/innen) dann akzeptabel, wenn der nichtmuslimische Part dabei zur muslimischen Religion konvertiere. (Vgl. http://indigenes-republique.fr/le-metis-et-le-pouvoir-blanc/ ) Wobei dabei nicht Religiosität aus ihr spricht, sondern vielmehr der Wunsch, diese konfessionelle Zugehörigkeit solcherart als „Identitätsmarkierer“ zu benutzen. Areligiosität der betroffenen Personen oder persönliche, individuelle Entscheidungen fallen dabei jedoch notwendig unter den Tisch.

Denunziation von Antisemitismus: ja, jedoch..

Es bleibt eine Frage zu klären, nämlich die nach dem Verhältnis der Indigènes zu den offen reaktionären, antisemitischen Kräften, die sich ebenfalls darum bemühen, Anklang bei den Bevölkerungsgruppen mit Migrations- und/oder kolonialem Hintergrund zu finden.

Der Blick fällt dabei in erster Linie auf den Filmemacher und Kabarretisten Dieudonné M'bala M'bala, einen Franzosen mit kamerunischem Vater, sowie den seit 2004 mit ihm verbündeten französischen Schriftsteller und Berufsantisemiten Alain Soral. Beide fanden vor allem in den Jahren zwischen 2009 und 2014 einen gewissen Widerhall, vor allem an den so genannten Rändern der Gesellschaft und in sozial mehr oder weniger marginalisierten Bevölkerungsgruppen vor allem in den banlieues. Ihr Stern ist allerdings in den letzten drei Jahren erheblich am Sinken, was mit dem Aufkommen von Skandalen zusammenhängt – Soral wird unter anderem sexuelle Belästigung in mehreren Fällen vorgeworfen, und Dieudonné wird zur Last gelegt, er habe Menschen ohne Arbeitsvertrag und letztendlich auch ganz ohne Bezahlung für sich arbeiten lassen. Eine mittlerweile recht lange Serie von strafrechtlichen Verurteilungen, wegen Propaganda- und Verhetzungsdelikten, aber auch wegen Steuerhinterziehung kommt hinzu.

Alain Soral hat jüngst angekündigt, er werde um politisches Asyl in Nordkorea ersuchen, wohin er jüngst eine Reihe durchführte. Dieudonné seinerseits will, wie er ankündigte, sein Kabarett ebenfalls in der stalinistischen Erbmonarchie in Ostasien aufführen. Das ist zwar einerseits konsequent, haben beide Kumpane doch in den letzten Jahren ausnahmslos alle tatsächlichen oder vermeintlichen Feinde ihres Hauptfeinds USA/Israel bedenkenlos unterstützt – von Mahmud Ahmedinejdad über Muammar al-Gaddafi bis zu Baschar al-Assad, Hugo Chavez immer mitgerechnet. Andererseits ist diese letzte Kapriole bei ihrem Publikum in Frankreich, dessen Interesse für Nordkorea eher begrenzt ausfallen dürfte, wohl kaum noch zu vermitteln sein.

Houria Bouteldja und die Indigènes wurde wiederholt unterstellt, sie zögen am selben Strang wie Dieudonné und Soral, da beide reaktionäre Tendenzen verträten und in denselben Bevölkerungsgruppen nach Einfluss suchten. Das ist jedoch mindestens vergröbernd und tendenziell unrichtig. Alain Soral bedrohte übrigens während des Gazakriegs im Sommer 2014, der zu Demonstrationen in Frankreich Anlass gab, Youssef Boussoumah – Bouteldjas langjährigen Lebensgefährten – in einem Text vom 1. August 2014 unter dem Titel Mesonge et manipulation („Lüge und Manipulation“; vgl.: https://www.egaliteetreconciliation.fr ). Boussoumah hatte zuvor Versuche einer von Soral beeinflussten Schlägertruppe namens Gaza Firm, die am Rande Demonstrationen zu Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen oder Menschen aufstachelte, denunziert und offen als „Faschisten“ bezeichnet.

Die tatsächliche Position Houria Bouteldjas und des PIR ist dezidiert nicht die einer Unterstützung für Dieudonné oder Soral und ihren Antisemitismus. Dennoch zogen die PIR-Vertreter/innen Kritik auf sich, weil sie ihre Abgrenzung von Dieudonné, Soral und ihren zum Teil aus der Migrationsbevölkerung kommenden Anhängern mit einer Betonung der Äquidistanz zwischen ihren unterschiedlichen politischen Gegnern verknüpften.

Zwar heißt es in einer Stellungnahme des PIR von 2014 deutlich, Alain Soral versuche Franzosen migrantischer Herkunft „an schlimmste, an nationalistisch-imperialistische Positionen“ heranzuführen – tatsächlich bietet Soral ihnen eine von ihm so bezeichnete „nationale Aussöhnung“ im Rahmen der französischen Nation an, in seinen Augen ermöglicht durch eine gemeinsame Gegnerschaft zum Judentum und dem „amerikanischen Imperium“ -, und: „Eine Entscheidung zwischen Faurisson und Fanon ist notwendig.“ Robert Faurisson ist ein pensionierter Literaturprofessor, der zeit seines Lebens rechtslastig war und seit 1980 als zentrale Figur der französischen Holocaustleugner in Erscheinung trat. Der karibikfranzösische Arzt Frantz Fanon engagierte sich im algerischen Befreiungskrieg gegen Frankreichs Kolonialismus; und war ein klarer Gegner von Antisemitismus.

Zugleich aber erklärte Bouteldja beim linken Event Congrès Emancipation in Nanterre (2014), wo sie als eine von drei Rednerinnen der Abschlussveranstaltung eingeladen war // vgl. http://www.regards.fr/IMG/pdf/ple-programme2.pdf //, man lehne Sorals und Dieudonnés Positionen ab, weil diese die „Eingeborenen“ der politischen Strömung der nationalistischen Rechten unterzuordnen versuchte. Dies lehne man genauso und aus verwandten Gründen ab, wie man die traditionellen Versuche der Unterordnung unter die „weiße, universalistisch argumentierende Linke“ zurückweise.

Was den Antisemitismus selbst betrifft, so lehnte Bouteldja ihn ab, reduziert ihn jedoch faktisch auf eine historische Komponente unter mehreren. In der geschichtlichen Entwicklung des Antisemitismus kamen verschiedene Hassideologien zusammen, von denen einige eine ursprünglich konfessionnelle Wurzel haben, andere eher sonstigen Rassismusformen ähneln – osteuropäische Juden wurden im Frankreich der 1920er Jahre als vorgebliche arme, sprachunkundige, „schwer zu integrierende“ und schmutzige Einwanderer verachtet – und wieder andere Juden eher zu „Über-“ als zu „Untermenschen“ erklären. Der letzte Strang der Hassideologien, die sich gegen Juden entwickelten, brachte sie mit dem Geld, der Intelligenz und einem vermeintlichen Streben nach Weltherrschaft sowie Verschwörungsplänen in Verbindung. Dass diese unterschiedlichen Stränge zusammenflossen und sich miteinander verquickten, erlaubte die besondere Aggressivität des Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit. In der heutigen Wahrnehmung wird jedoch oft eine dieser Komponenten isoliert, was historisch falsch ist.

So auch bei Houria Bouteldja, die den historischen Judenhass in Frankreich vor allem als einen Rassismus aufgrund der orientalischen Herkunft des Judentums auffasst und ihn folgerichtig vor allem als einen Rassismus gegen Arme betrachtet – was auf die Komponente der Ablehnung osteuropäischer jüdischer Zuwanderer in Frankreich (auch unter dem Vichy-Regime) zutrifft, aber den Antisemitismus nicht in seiner ganzen Dynamik erfasst.

Daraus leitet sie in ihrem Buch Les blancs, les juifs et nous (2016) die Konsequenz ab – hier leicht holzschnittartig dargestellt -, die jüdische Bevölkerung stehe potenziell zwischen den „Weißen“ und den qua Abstammung Unterprivilegierten. Derzeit habe sich ihre Mehrheit, ihr organisierter und sichtbarer Teil jedoch für das Bündnis mit den „Weißen“ entschieden (und stehe deswegen auf der anderen Seite), was sich auch in ihrer Orientierung an Israel manifestiere. Um Allianzen zu ermöglichen, müssten sie sich von dieser Ausrichtung wegorientieren und darauf rückbesinnen, dass auch sie als orientalische Ankömmlinge in Frankreich diskriminiert worden seien. Sonst könnten sie keine Bündnispartner sein.

Ein vorläufiges Fazit

Alles in allem lässt sich feststellen, dass die Strömung rund um den PIR ursprünglich aus der Linken kommt (und partiell auch noch Bündnisse mit ihr eingeht), im Namen der „Autonomie“ und der Ablehnung politischer Subordination jedoch an vielen Stellen universelle Positionen – etwa im Kampf um die Unterdrückung von Frauen und sexueller Minderheiten – strategisch aufgegeben hat. Nicht aus eigenen reaktionären Positionen heraus, Houria Bouteldja etwa führt durchaus keinen Lebensstil, den Islamisten als ihren Vorstellungen gemäß betrachten würden. Wohl aber aus einer Vorstellung von „Prioritäten“ oder, wie Marxist/inn/en sagen würden: „Hauptwidersprüchen“ heraus, der von universalistischen Emazipationsbestrebungen weg- und nicht nur zu einer Akzeptanz, sondern zu einer Festschreibung vermeintlicher kultureller Partikularitäten hinführt.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.