Gibt es eine
speziell marokkanische „Connection“ im
Zusammenhang mit den jüngsten Attentaten in
Spanien/Katalonien; oder aber handelt es sich
dabei eher um eine Konstruktion? Ausgehend von
der Kontroverse über einen französischen
Zeitungsartikel und spanische Reaktionen..
Gibt es ein
besonderes marokkanisches „Modell“ des
Jihadismus, ja eine besondere Affinität zu dieser
bewaffneten Ausprägung des Islamismus? Dies
behauptete jedenfalls jüngst der französische
Soziologe iranischer Herkunft Farhad
Khosrokhavar. In einem Versuch zur
Systematisierung unterschiedlicher
Erscheinungsformen jihadistischer Ideologie und
Praxis ging er - infolge der jüngsten Attentate
in Katalonien - in der Pariser Abendzeitung Le
Monde vom vorigen Donnerstag, den 24. August 17
daran, verschiedene Typen zu bestimmen. Das, was
er dabei im „Flaggschiff“ der französischen
Presse zu von ihm ausgemachten marokkanischen
Besonderheiten schreibt, rief in den Medien
zwischen Tanger und Casablanca wiederum sehr
kritische Reaktionen hervor.
Khosrokhavar arbeitete in den vergangenen zwei
Jahrzehnten intensiv zu jihadistischen Einflüssen
unter bestimmten sozialen Gruppen und
insbesondere Strafgefangenen, sowie zu weiblichen
Aktivistinnen im Umfeld des „Islamischen Staats“
(IS). In seinem neuesten Artikel versucht er
jedoch eine Einordnung unterschiedlicher Zugänge
zum Jihadismus nach Nationalität oder nationaler
Herkunft, die er wiederum auf die letzten
Attentate aus diesem ideologischen Spektrum
anzuwenden versucht. Denn es gebe „in der
europäischen Welt des Jihadismus ... nationale
und regionale Besonderheiten“.
So kommt er zu dem Schluss, die Attentate in
Deutschland – in Ansbach im Juli 16 oder in
Berlin im Dezember 2016 – seien überwiegend von
einzeln handelnden Tätern begangen worden, die
erst seit kurzem in Deutschland gelebt hätten.
Unter ihnen seien Afghanen und Tunesier gewesen.
Diese hätten sich zum IS bekannt, ohne notwendig
in einem organisierten Zusammenhang zu stehen.
Auf die Messerattacke in Hamburg-Barmbek jüngeren
Datums (die ihrerseits damit endete, dass der
Täter durch Menschen deutscher, tunesischer und
afghanischer Herkunft aufgehalten wurde) geht er
allerdings nicht ein. Auch in Großbritannien, wo
Jihadisten überwiegend - so Khosrokhavar -
„pakistanischer Herkunft oder junge Schwarze“
seien, also nicht arabischer Herkunft, sei die
jüngste Attacke in Westminister von einem
Einzeltäter südasiatischer Abstammung begangen
worden.
Hingegen stünden die Attentate von Mitte August
in Barcelona und Cambrils für ein anderes Modell,
das eher dem Strickmuster der Pariser Mordattacke
vom 13. November 2015 ähnele: In beiden Fällen
habe es sich um durchstrukturierte, organisiert
handelnde Kleingruppen von je um die zehn
Mitglieder gehandelt, die wesentlich größeren
Schaden anrichteten als die individuellen
Attentäter. Diese seien wiederum überwiegend von
Marokkanern, respektive Franzosen und Belgiern
marokkanischer Herkunft gebildet worden. Der
Autor stellt daraufhin „mehr oder weniger
orientierungslose, seit kurzem eingereiste“
Individuen im Fall der deutschen Attentate – auf
der einen Seite - den seit längerem in Westeuropa
lebenden oder dort geborenen Jihadisten
andererseits gegenüber. Erstere seien eher
gemischter, letztere jedoch überdurchschnittlich
häufig marokkanischer Herkunft.
Khosrokhavar führt dies wiederum darauf zurück,
dass die marokkanischen Einwanderergruppen in
Spanien, Frankreich und Belgien – besonders jene
berberischer Sprachzugehörigkeit - durch die
Erfahrungen der Unterdrückung durch das
marokkanische Regime, aber auch durch die
Diskriminierung in Europa geprägt seien. Dies
bilde einen furchtbaren Boden für die
„Radikalisierung“. Der Verfasser stellt sich
jedoch in einem nächsten Schritt die Frage, warum
man weniger algerisch- als marokkanischstämmige
Jihadisten in den Gruppen antreffe, um die es
gehe, während die Erfahrung kolonialer
Unterdrückung und Erniedrigung im Zusammenhang
mit dem Algerienkrieg doch noch viel stärker
ausgeprägt gewesen sei. Er antwortet darauf,
indem er postuliert: „Marokko exportiert seine
Jihadisten, während ihre algerischen
Gleichgesinnten auf ihrem eigenen Territorium
aktiv bleiben, eine Konsequenz aus der langen
Bürgerkriegsperiode (...) in den 1990er Jahren.“
Marokkanische Replik
Erwartungsgemäß weckte diese starke Hervorhebung
der vermeintlichen „marokkanischen“ Komponente
keine Begeisterung in dem Land zwischen
Mittelmeer, Atlasgebirge und Atlantik, aus dem
die Familien der Attentäter von Barcelona,
Cambrils und zuvor Paris in ihrer Mehrzahl
stammen. Empört antwortete etwa am Freitag, den
25. August 17 die Internetzeitung Le360ma., die
zu den führenden marokkanischen Medien zählt –
das 2013 gegründete Webmedium gehört einer
privaten GmbH, dient jedoch der regierenden
Monarchie oft zur Übermittlung politischer
Nachrichten in ihrem Sinne – direkt und explizit
den Beitrag von Khosrokhavar in Le Monde.
Der Autor ’Aziz Bada weist unter den mit Namen
versehenen Portraitfotos von neun der Attentäter
aus Katalonien die Idee zurück, diese hätten ihre
ideologische Prägung in Marokko erhalten: Die
Mehrzahl von ihnen sei im Alter zwischen drei und
elf Jahren nach Spanien gekommen. Lediglich
Mohammad Aalla habe Marokko erst im Alter von 16
verlassen, doch als einziger der am Leben
befindlichen vier Terrorverdächtigen – acht
weitere wurden Ende vorvergangener Woche getötet
– sei er durch die Behörden auf freien Fuß
gesetzt worden.
Bada stellt die These auf, es sei die erzwungene
kulturelle Inzucht „in Wohnvierteln und Schulen,
die durch die meisten Herkunfts-Spanier gemieden
werden“, die „eng gezogene Identitäten
begünstigt“, zugleich „Frustrationen züchtet“ und
deswegen günstige Voraussetzungen für die
jihadistische Propaganda schaffe. Dieser
Nährboden finde sich jedoch in Spanien, nicht in
Marokko.
Polizeikooperation, gegen Jihadismus..
und zu anderen Zwecken!
Neben diesen sicherlich richtigen Fest- oder
Fragestellungen wird die Berichterstattung in
Marokko auch durch staatspolitische Interessen
motiviert. Die regierende Monarchie versucht sich
den europäischen Mächten traditionell als Partner
für geopolitische „Stabilität“ – was aus ihrer
Sicht die Akzeptanz der seit 1975 währenden
Besetzung der Westsahara einschließt – und
wirtschaftliche Zusammenarbeit anzudienen. In
jüngerer Zeit bringt sie dabei auch ihre
Kooperationsbereitschaft im Kampf gegen
jihadistische Aktivitäten ins Spiel. Solche
Umtriebe bekämpft sie tatsächlich, weil die
Monarchie die salafistischen und jihadistischen
Aktivitäten als Gefährdung ihrer innenpolitischen
Stabilität einstuft. Da der marokkanische König
laut offizieller Staatsdoktrin direkt vom
Propheten abstammt und zugleich Amir al-mouminin
– religiöser „Anführer der Gläubigen“ – ist,
setzt sie ihnen einen von oben kontrollierten
Staatsislam entgegen.
Zwei Tage vor der Kontroverse mit Khosrokhavar
berichtete die in Tours ansässige französische
Tageszeitung La Nouvelle République unter
Berufung auf den Strategieexperten Emmanuel
Dupuy, die marokkanischen Behörden hätten ihre
spanische Amtskollegen vor den Attentaten in
Katalonien „vor (spanisch-marokkanischen)
Doppelstaatsbürgern gewarnt“. Dabei hätten sie
auch auf Ripoll hingewiesen, die Stadt in der
Nähe der Pyrenäenkette, in welcher die meisten
der Attentäter aufwuchsen oder wohnten, und diese
als „spanische Entsprechung zu Molenbeek“ – der
belgischen Stadt mit hohem Islamisten-Anteil –
bezeichnet. Die Rivalität zwischen spanischen
zentralstaatlichen und katalanischen regionalen
Behörden, im Vorfeld des herannahenden
Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien im
Oktober 17, habe jedoch eine Verarbeitung vieler
Informationen behindert. (Marokkanische Medien
behaupten, katalanische Stellen hätten sich aus
dem Informationsverbund herausgezogen; die
katalanische oder katalanisch-nationalistische
Version lautet, spanische Zentralbehörden hätten
– aufgrund der Autonomie- oder
Unabhängigkeitsbestrebungen - ihrerseits
Informationen bewusst nicht an Stellen in der
Region weitergeben.)
Marokko, Portugal, der spanische Zentralstaat
sowie Frankreich arbeiten seit Jahren in einem
als „G4“ bezeichneten Rahmen bei Polizei und
Justiz zusammen. Neben der Bekämpfung von
Jihadismus geht es der marokkanischen Seite dabei
allerdings auch um nackte Repression anderer,
missliebiger Formen politischer „Dissidenz“. Am
23. August d.J. überstellten die spanischen den
marokkanischen Behörden etwa den Journalisten
Najim Belgharbi. Er hatte zuvor einen Antrag auf
politisches Asyl gestellt und angegeben, vor
einer Verhaftungswelle infolge der seit zehn
Monaten andauernden Protestbewegung in der
Berberregion im Rif-Gebirge zu fliehen.
Marokkanischer versus algerische Jihadismus?
Unabhängig von Motivationen bei marokkanischen,
gegenüber dem dortigen Regime vielleicht nicht
gar so unabhängigen Medien müssen die jüngsten
Einordnungsversuche von Khosrokhavar tatsächlich
als holzschnittartig und dadurch fehlerhaft
erscheinen. So spricht er davon, der algerische
islamistische Terrorismus sei überwiegend nach
innen gekehrt gewesen und unterscheide sich
dadurch vom marokkanischen. Dabei vergisst er
jedoch, jenseits der jüngsten Attentate auch die
erste große jihadistische Anschlagswelle – die
Serie von Bombenattacken in französischen
Verkehrsmitteln zwischen Juli 1995 und Dezember
1996 –zu erwähnen. Diese waren das Werk sehr
durchorganisierter algerischer Islamistengruppen,
aller Wahrscheinlichkeit nach der GIA (Groupes
islamiques armés).
Auch der erste bedeutende jihadistische Anschlag
auf marokkanischem Boden – der blutige Anschlag
auf das Hotel Atlas-Asni in Marrakesch im August
1994 – war das Werk algerischer und französischer
Jihadisten, die dafür nach Marokko eindrangen.
Die nächsten größeren Attentate, die fünf
Anschläge von Casablanca im Mai 2003, gingen
dagegen auf das Konto französisch-marokkanischer
Jihadisten.
Damals sprengten sich zwölf Suizidbomber an
verschiedenen Stellen in der Stadt in die Luft
und töteten dadurch 33 Menschen. Die Antwort der
marokkanischen Behörden war eine
Repressionsoffensive; es gelang ihnen zugleich,
die meisten al-Qaida-nahen Zellen zu
zerschlmagen. Zwischen 2011 und 2013 verfolgten
die marokkanischen Behörden dann jedoch eine Art
Jihad-Export. Laut ihren Angaben scheinen rund
16.00 Marokkaner sich nach Syrien begeben zu
haben; der International Crisis Group zufolge
verließen wiederum schätzungsweise 2.000
Marokkaner mit doppelter Staatsbürgerschaft die
Immigranten-Communitys in Europa. Seit 2014, und
vor allem seit dem Aufstieg des IS, befürchteten
die marokkanischen Behörden Rückkehrer aus dem
syrischen und iraqischen Kriegsgebiet und
verschärften die Grenzkontrollen sowie die
Antiterrorgesetzgebung - mit harten Strafen gegen
jeden, der versucht, in die mittelöstlichen
Kriegsgebiete im Iraq und in Syrien zu reisen und
sich dort jihadistischen Gruppen anzuschließen.
Es dürfte keine marokkanische Besonderheit geben,
wenn nicht die, dass jedenfalls unter den
Regentschaft des alten, despotisch regierenden
Königs Hassan II. (1961 bis 1999) die im Ausland
lebenden Marokkaner durch die Staatsmacht
hauptsächlich als „kulturelle“ Bedrohung
betrachtet und absolut marginalisiert wurden.
Dadurch wurden sie in ihren Aufnahmeländern,
neben dort herrschenden Diskriminierungen als
erschwerendem Faktor, in eine soziale
Randständigkeit und kulturelle Inzucht
abgedrängt. Hassan II war stets gegen das Leben
in der Emigration eingestellt, das kulturelle
Identitäten und Loyalitäten aufweiche; erst sein
Sohn und Nachfolger Mohammed VI (seit 1999)
bindet auch die Auslandsmarokkaner/innen oder MRE
– Marocains résidant à l’étranger – verstärkt mit
ein. Diese Randständigkeit war bei algerischen
oder tunesischen Staatsangehörigen gegenüber
ihren Herkunftsländern, einschließlich
offizieller Stellen, so nie gegeben.
Inzucht versus „Identität“ aufknacken
Hoffnung auf das Aufbrechen reaktionärer
„Identitäten“ kommt unterdessen von innen.
Infolge eines spektakulären Falls sexueller
Belästigung in einem Bus in Casablanca – dessen
Opfer war eine geistig leicht behinderte
24jährige – mobilisiert sich seit anderthalb
Wochen ein wachsender Teil der marokkanischen
Zivilgesellschaft für den Respekt von
Frauenrechten. In Tanger, Rabat, Marrakesch und
Agadir fanden Sit-ins überwiegend von Frauen
statt, an denen einige Hundert Aktivistinnen
teilnahmen. Die Empörung reicht jedoch inzwischen
weit über feministische und
menschenrechtsengagierte Kreise hinaus, und die
Stadtverwaltung reagierte, indem sie der
betroffenen Buslinie die Lizenz entziehen will.
Auch Marokko will mehrheitlich keinen Zoo für
reaktionärer Identitätsvorstellungen abgeben.
Verstärkt zu werden drohen Abschottungstendenzen
jedoch zugleich durch die Welle von gegen
tatsächliche und vermeintliche Marokkaner
und/oder Muslime gerichteten Gewalttaten, die
seit Tagen Katalonien und Spanien durchziehen.
Bei vermeintlichen Racheakten infolge der
Attentate wurden etwa drei Jugendlich in Fitero
südlich von Navarro verletzt. In Puerto de
Sagunto wurde ein 14jähriger durch einen
Autofahrer als „Drecksaraber“ beschimpft und
getreten, in Madrid eine 38jährige am Ausgang der
U-Bahn angegriffen.
Editorische
Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese
Ausgabe. Es handelt sich dabei um eine
Langfassung eines Artikels, welcher gekürzt am
Donnerstag, den 31. August 17 in der
Wochenzeitung ‚Jungle World’ publiziert wurde.
|