Die marokkanische Komponente?

von Bernard Schmid

9/2017

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Gibt es eine speziell marokkanische „Connection“ im Zusammenhang mit den jüngsten Attentaten in Spanien/Katalonien; oder aber handelt es sich dabei eher um eine Konstruktion? Ausgehend von der Kontroverse über einen französischen Zeitungsartikel und spanische Reaktionen..

Gibt es ein besonderes marokkanisches „Modell“ des Jihadismus, ja eine besondere Affinität zu dieser bewaffneten Ausprägung des Islamismus? Dies behauptete jedenfalls jüngst der französische Soziologe iranischer Herkunft Farhad Khosrokhavar. In einem Versuch zur Systematisierung unterschiedlicher Erscheinungsformen jihadistischer Ideologie und Praxis ging er - infolge der jüngsten Attentate in Katalonien - in der Pariser Abendzeitung Le Monde vom vorigen Donnerstag, den 24. August 17 daran, verschiedene Typen zu bestimmen. Das, was er dabei im „Flaggschiff“ der französischen Presse zu von ihm ausgemachten marokkanischen Besonderheiten schreibt, rief in den Medien zwischen Tanger und Casablanca wiederum sehr kritische Reaktionen hervor.

Khosrokhavar arbeitete in den vergangenen zwei Jahrzehnten intensiv zu jihadistischen Einflüssen unter bestimmten sozialen Gruppen und insbesondere Strafgefangenen, sowie zu weiblichen Aktivistinnen im Umfeld des „Islamischen Staats“ (IS). In seinem neuesten Artikel versucht er jedoch eine Einordnung unterschiedlicher Zugänge zum Jihadismus nach Nationalität oder nationaler Herkunft, die er wiederum auf die letzten Attentate aus diesem ideologischen Spektrum anzuwenden versucht. Denn es gebe „in der europäischen Welt des Jihadismus ... nationale und regionale Besonderheiten“.

So kommt er zu dem Schluss, die Attentate in Deutschland – in Ansbach im Juli 16 oder in Berlin im Dezember 2016 – seien überwiegend von einzeln handelnden Tätern begangen worden, die erst seit kurzem in Deutschland gelebt hätten. Unter ihnen seien Afghanen und Tunesier gewesen. Diese hätten sich zum IS bekannt, ohne notwendig in einem organisierten Zusammenhang zu stehen. Auf die Messerattacke in Hamburg-Barmbek jüngeren Datums (die ihrerseits damit endete, dass der Täter durch Menschen deutscher, tunesischer und afghanischer Herkunft aufgehalten wurde) geht er allerdings nicht ein. Auch in Großbritannien, wo Jihadisten überwiegend - so Khosrokhavar - „pakistanischer Herkunft oder junge Schwarze“ seien, also nicht arabischer Herkunft, sei die jüngste Attacke in Westminister von einem Einzeltäter südasiatischer Abstammung begangen worden.

Hingegen stünden die Attentate von Mitte August in Barcelona und Cambrils für ein anderes Modell, das eher dem Strickmuster der Pariser Mordattacke vom 13. November 2015 ähnele: In beiden Fällen habe es sich um durchstrukturierte, organisiert handelnde Kleingruppen von je um die zehn Mitglieder gehandelt, die wesentlich größeren Schaden anrichteten als die individuellen Attentäter. Diese seien wiederum überwiegend von Marokkanern, respektive Franzosen und Belgiern marokkanischer Herkunft gebildet worden. Der Autor stellt daraufhin „mehr oder weniger orientierungslose, seit kurzem eingereiste“ Individuen im Fall der deutschen Attentate – auf der einen Seite - den seit längerem in Westeuropa lebenden oder dort geborenen Jihadisten andererseits gegenüber. Erstere seien eher gemischter, letztere jedoch überdurchschnittlich häufig marokkanischer Herkunft.

Khosrokhavar führt dies wiederum darauf zurück, dass die marokkanischen Einwanderergruppen in Spanien, Frankreich und Belgien – besonders jene berberischer Sprachzugehörigkeit - durch die Erfahrungen der Unterdrückung durch das marokkanische Regime, aber auch durch die Diskriminierung in Europa geprägt seien. Dies bilde einen furchtbaren Boden für die „Radikalisierung“. Der Verfasser stellt sich jedoch in einem nächsten Schritt die Frage, warum man weniger algerisch- als marokkanischstämmige Jihadisten in den Gruppen antreffe, um die es gehe, während die Erfahrung kolonialer Unterdrückung und Erniedrigung im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg doch noch viel stärker ausgeprägt gewesen sei. Er antwortet darauf, indem er postuliert: „Marokko exportiert seine Jihadisten, während ihre algerischen Gleichgesinnten auf ihrem eigenen Territorium aktiv bleiben, eine Konsequenz aus der langen Bürgerkriegsperiode (...) in den 1990er Jahren.“

Marokkanische Replik


Erwartungsgemäß weckte diese starke Hervorhebung der vermeintlichen „marokkanischen“ Komponente keine Begeisterung in dem Land zwischen Mittelmeer, Atlasgebirge und Atlantik, aus dem die Familien der Attentäter von Barcelona, Cambrils und zuvor Paris in ihrer Mehrzahl stammen. Empört antwortete etwa am Freitag, den 25. August 17 die Internetzeitung Le360ma., die zu den führenden marokkanischen Medien zählt – das 2013 gegründete Webmedium gehört einer privaten GmbH, dient jedoch der regierenden Monarchie oft zur Übermittlung politischer Nachrichten in ihrem Sinne – direkt und explizit den Beitrag von Khosrokhavar in Le Monde.

Der Autor ’Aziz Bada weist unter den mit Namen versehenen Portraitfotos von neun der Attentäter aus Katalonien die Idee zurück, diese hätten ihre ideologische Prägung in Marokko erhalten: Die Mehrzahl von ihnen sei im Alter zwischen drei und elf Jahren nach Spanien gekommen. Lediglich Mohammad Aalla habe Marokko erst im Alter von 16 verlassen, doch als einziger der am Leben befindlichen vier Terrorverdächtigen – acht weitere wurden Ende vorvergangener Woche getötet – sei er durch die Behörden auf freien Fuß gesetzt worden.

Bada stellt die These auf, es sei die erzwungene kulturelle Inzucht „in Wohnvierteln und Schulen, die durch die meisten Herkunfts-Spanier gemieden werden“, die „eng gezogene Identitäten begünstigt“, zugleich „Frustrationen züchtet“ und deswegen günstige Voraussetzungen für die jihadistische Propaganda schaffe. Dieser Nährboden finde sich jedoch in Spanien, nicht in Marokko.

Polizeikooperation, gegen Jihadismus..
und zu anderen Zwecken!


Neben diesen sicherlich richtigen Fest- oder Fragestellungen wird die Berichterstattung in Marokko auch durch staatspolitische Interessen motiviert. Die regierende Monarchie versucht sich den europäischen Mächten traditionell als Partner für geopolitische „Stabilität“ – was aus ihrer Sicht die Akzeptanz der seit 1975 währenden Besetzung der Westsahara einschließt – und wirtschaftliche Zusammenarbeit anzudienen. In jüngerer Zeit bringt sie dabei auch ihre Kooperationsbereitschaft im Kampf gegen jihadistische Aktivitäten ins Spiel. Solche Umtriebe bekämpft sie tatsächlich, weil die Monarchie die salafistischen und jihadistischen Aktivitäten als Gefährdung ihrer innenpolitischen Stabilität einstuft. Da der marokkanische König laut offizieller Staatsdoktrin direkt vom Propheten abstammt und zugleich Amir al-mouminin – religiöser „Anführer der Gläubigen“ – ist, setzt sie ihnen einen von oben kontrollierten Staatsislam entgegen.

Zwei Tage vor der Kontroverse mit Khosrokhavar berichtete die in Tours ansässige französische Tageszeitung La Nouvelle République unter Berufung auf den Strategieexperten Emmanuel Dupuy, die marokkanischen Behörden hätten ihre spanische Amtskollegen vor den Attentaten in Katalonien „vor (spanisch-marokkanischen) Doppelstaatsbürgern gewarnt“. Dabei hätten sie auch auf Ripoll hingewiesen, die Stadt in der Nähe der Pyrenäenkette, in welcher die meisten der Attentäter aufwuchsen oder wohnten, und diese als „spanische Entsprechung zu Molenbeek“ – der belgischen Stadt mit hohem Islamisten-Anteil – bezeichnet. Die Rivalität zwischen spanischen zentralstaatlichen und katalanischen regionalen Behörden, im Vorfeld des herannahenden Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien im Oktober 17, habe jedoch eine Verarbeitung vieler Informationen behindert. (Marokkanische Medien behaupten, katalanische Stellen hätten sich aus dem Informationsverbund herausgezogen; die katalanische oder katalanisch-nationalistische Version lautet, spanische Zentralbehörden hätten – aufgrund der Autonomie- oder Unabhängigkeitsbestrebungen - ihrerseits Informationen bewusst nicht an Stellen in der Region weitergeben.)

Marokko, Portugal, der spanische Zentralstaat sowie Frankreich arbeiten seit Jahren in einem als „G4“ bezeichneten Rahmen bei Polizei und Justiz zusammen. Neben der Bekämpfung von Jihadismus geht es der marokkanischen Seite dabei allerdings auch um nackte Repression anderer, missliebiger Formen politischer „Dissidenz“. Am 23. August d.J. überstellten die spanischen den marokkanischen Behörden etwa den Journalisten Najim Belgharbi. Er hatte zuvor einen Antrag auf politisches Asyl gestellt und angegeben, vor einer Verhaftungswelle infolge der seit zehn Monaten andauernden Protestbewegung in der Berberregion im Rif-Gebirge zu fliehen.

Marokkanischer versus algerische Jihadismus?


Unabhängig von Motivationen bei marokkanischen, gegenüber dem dortigen Regime vielleicht nicht gar so unabhängigen Medien müssen die jüngsten Einordnungsversuche von Khosrokhavar tatsächlich als holzschnittartig und dadurch fehlerhaft erscheinen. So spricht er davon, der algerische islamistische Terrorismus sei überwiegend nach innen gekehrt gewesen und unterscheide sich dadurch vom marokkanischen. Dabei vergisst er jedoch, jenseits der jüngsten Attentate auch die erste große jihadistische Anschlagswelle – die Serie von Bombenattacken in französischen Verkehrsmitteln zwischen Juli 1995 und Dezember 1996 –zu erwähnen. Diese waren das Werk sehr durchorganisierter algerischer Islamistengruppen, aller Wahrscheinlichkeit nach der GIA (Groupes islamiques armés).

Auch der erste bedeutende jihadistische Anschlag auf marokkanischem Boden – der blutige Anschlag auf das Hotel Atlas-Asni in Marrakesch im August 1994 – war das Werk algerischer und französischer Jihadisten, die dafür nach Marokko eindrangen. Die nächsten größeren Attentate, die fünf Anschläge von Casablanca im Mai 2003, gingen dagegen auf das Konto französisch-marokkanischer Jihadisten.

Damals sprengten sich zwölf Suizidbomber an verschiedenen Stellen in der Stadt in die Luft und töteten dadurch 33 Menschen. Die Antwort der marokkanischen Behörden war eine Repressionsoffensive; es gelang ihnen zugleich, die meisten al-Qaida-nahen Zellen zu zerschlmagen. Zwischen 2011 und 2013 verfolgten die marokkanischen Behörden dann jedoch eine Art Jihad-Export. Laut ihren Angaben scheinen rund 16.00 Marokkaner sich nach Syrien begeben zu haben; der International Crisis Group zufolge verließen wiederum schätzungsweise 2.000 Marokkaner mit doppelter Staatsbürgerschaft die Immigranten-Communitys in Europa. Seit 2014, und vor allem seit dem Aufstieg des IS, befürchteten die marokkanischen Behörden Rückkehrer aus dem syrischen und iraqischen Kriegsgebiet und verschärften die Grenzkontrollen sowie die Antiterrorgesetzgebung - mit harten Strafen gegen jeden, der versucht, in die mittelöstlichen Kriegsgebiete im Iraq und in Syrien zu reisen und sich dort jihadistischen Gruppen anzuschließen.

Es dürfte keine marokkanische Besonderheit geben, wenn nicht die, dass jedenfalls unter den Regentschaft des alten, despotisch regierenden Königs Hassan II. (1961 bis 1999) die im Ausland lebenden Marokkaner durch die Staatsmacht hauptsächlich als „kulturelle“ Bedrohung betrachtet und absolut marginalisiert wurden. Dadurch wurden sie in ihren Aufnahmeländern, neben dort herrschenden Diskriminierungen als erschwerendem Faktor, in eine soziale Randständigkeit und kulturelle Inzucht abgedrängt. Hassan II war stets gegen das Leben in der Emigration eingestellt, das kulturelle Identitäten und Loyalitäten aufweiche; erst sein Sohn und Nachfolger Mohammed VI (seit 1999) bindet auch die Auslandsmarokkaner/innen oder MRE – Marocains résidant à l’étranger – verstärkt mit ein. Diese Randständigkeit war bei algerischen oder tunesischen Staatsangehörigen gegenüber ihren Herkunftsländern, einschließlich offizieller Stellen, so nie gegeben.

Inzucht versus „Identität“ aufknacken


Hoffnung auf das Aufbrechen reaktionärer „Identitäten“ kommt unterdessen von innen. Infolge eines spektakulären Falls sexueller Belästigung in einem Bus in Casablanca – dessen Opfer war eine geistig leicht behinderte 24jährige – mobilisiert sich seit anderthalb Wochen ein wachsender Teil der marokkanischen Zivilgesellschaft für den Respekt von Frauenrechten. In Tanger, Rabat, Marrakesch und Agadir fanden Sit-ins überwiegend von Frauen statt, an denen einige Hundert Aktivistinnen teilnahmen. Die Empörung reicht jedoch inzwischen weit über feministische und menschenrechtsengagierte Kreise hinaus, und die Stadtverwaltung reagierte, indem sie der betroffenen Buslinie die Lizenz entziehen will.

Auch Marokko will mehrheitlich keinen Zoo für reaktionärer Identitätsvorstellungen abgeben. Verstärkt zu werden drohen Abschottungstendenzen jedoch zugleich durch die Welle von gegen tatsächliche und vermeintliche Marokkaner und/oder Muslime gerichteten Gewalttaten, die seit Tagen Katalonien und Spanien durchziehen. Bei vermeintlichen Racheakten infolge der Attentate wurden etwa drei Jugendlich in Fitero südlich von Navarro verletzt. In Puerto de Sagunto wurde ein 14jähriger durch einen Autofahrer als „Drecksaraber“ beschimpft und getreten, in Madrid eine 38jährige am Ausgang der U-Bahn angegriffen.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich dabei um eine Langfassung eines Artikels, welcher gekürzt am Donnerstag, den 31. August 17 in der Wochenzeitung ‚Jungle World’ publiziert wurde.