I. Vorbemerkung
Die folgende
Darstellung ist eine Auswahl. Es wird bewußt
darauf verzichtet, die Vielzahl aller
vertretenen spekulativen Meinungen in ihrer
historischen Reihenfolge wiederzugeben. Der
oberste Gesichtspunkt ist der einer Rückschau
vom modernen Standpunkt auf jene
naturphilosophischen Anschauungen der
Griechen, die 1. Keime oder Ansätze echten
wissenschaftlichen Denkens enthalten, und die
2. den logisch-historischen Zusammenhang der
Naturerkenntnis zeigen. Dabei werden wir uns
bemühen, den antiken Denkern vorbehaltlos
historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen
und epochebedingte Irrtümer, die sich bei
näherer Untersuchung als notwendige
Durchgangsetappen erweisen und die oft relative
Wahrheiten enthalten, nicht einfach als falsch
und überholt abzuwerten. Besonders jüngere
Naturwissenschaftler äußern häufig die
Meinung, die naturphilosophischen Anschauungen
der Griechen seien nur unter dem Aspekt einer
Geschichte von Irrtümern zu betrachten; für die
Entstehung der exakten Naturwissenschaften
seien sie so gut wie belanglos. Wir wollen auf
diese Ansicht kurz eingehen.
Das Problem der
Irrtümer in der griechischen Naturphilosophie
erfordert von vornherein eine Differenzierung.
Eine erste, wesentliche Einteilung führt zu
folgendem Ergebnis: Es zeigt sich, daß die
sogenannten „Irrtümer" der griechischen
Naturphilosophie - und dies gilt prinzipiell
für alle ihre Bereiche - in zwei große Klassen
zerfallen: a) in die Klasse der Anschauungen -
ohne Rücksicht auf deren konkrete und oft
komplizierte Entstehungsursachen -, die nichts
zum wissenschaftlichen Fortschritt beigetragen
haben, im günstigsten Falle bloße
Denkmöglichkeiten waren, oft als „Meinung" eine
Zeitlang neben der richtigen Erkenntnis eine
gleichberechtigte Existenz hatten und die im
ungünstigsten Falle ein Hemmnis für die
Entwicklung der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis waren; b) in die Klasse der
Anschauungen, die entsprechend dem jeweiligen
Entwicklungsstand der Beobachtung und des
theoretischen Denkens notwendige
Durchgangsetappen der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis waren. Letztere enthielten oft
Elemente, die der dialektischen Negation fähig
waren und in der Folgezeit zu relativen
Wahrheiten höherer Ordnung weiterentwickelt
werden konnten.
Unter Punkt a)
fallen viele naturphilosophische Spekulationen;
vor allem gilt dies für einen großen Teil der
kosmologischen Meinungen, die deshalb hier
beiseite gelassen werden. Es muß jedoch betont
werden, daß auch diese ganze Gruppe von
Vermutungen, Meinungen usw., obgleich sie - vom
Standpunkt der fortgeschrittenen
Naturwissenschaft aus gesehen - Irrwege
darstellten, die historisch notwendige
Begleiterscheinungen des erwachenden
wissenschaftlichen Denkens waren. Daß solche
Irrwege nicht nur im wissenschaftlichen Denken
der Antike beschritten wurden, dafür ließen
sich auch Beispiele aus der neueren
Wissenschaftsentwicklung anführen, in der so
mancher oft mühsam verfolgte Weg auf Grund
neuer Einsichten schließlich wieder verlassen
werden mußte. Für die Einschätzung dieser
Gruppe von naturphilosophischen Anschauungen
der Antike ist jedoch ein anderes wesentliches
Moment maßgebend: und zwar der Umstand, daß in
der Frühzeit des wissenschaftlichen Denkens der
Übergang vom mythologischen zum rationalen
Weltbild vollzogen werden mußte, daß dieser
Übergang aber zunächst nicht anders erfolgen
konnte, als daß die mythologischen Phantasien
durch rationale Spekulationen ersetzt wurden.
Das menschliche
Bewußtsein hatte, sobald es über den
naiv-realistischen, also völlig unreflektierten
Anfangszustand der Umwelterfassung hinaus war,
sogleich viele der großen weltanschaulichen
Fragen aufgeworfen, die uns auch heute noch
bewegen. Zu diesen Fragen gehören z. B. die
nach Ursprung und Beschaffenheit der Erde und
des Weltalls, Entstehung der Lebewesen, des
Bewußtseins usw. Hätte sich das
wissenschaftliche Denken in positivisti-scher
oder auch nur relativistischer oder
skeptizistischer Beschränkung auf die jeweils
als empirisch gesichert angesehenen
Erkenntnisse entwickelt, so hätten alle diese
Fragen als unbeantwortbar abgewiesen werden
müssen. Dieser Standpunkt wird auch heute noch
von manchen positivistisch beeinflußten und
mit historischer Denkweise unzureichend
vertrauten Naturwissenschaftlern vertreten.
Hätte sich die
wissenschaftliche Erkenntnis diesem Standpunkt
gemäß entwickelt, so wäre es wohl kaum zu
jenen Ansätzen einer theoretischen Erfassung
der Welt gekommen, wie sie uns die Antike
bietet, und die Wissenschaft hätte sich auf den
Bahnen eines platten Empirismus fortbewegen
müssen. Nachdem diese großen weltanschaulichen
Fragen aber einmal gestellt waren, was für sich
genommen schon eine wesentliche Leistung
menschlichen Denkens war, suchte man nach
jeder Art von sinnvoll oder auch nur zweckmäßig
erscheinenden Antworten. Diese wurden gegeben
vom spekulativen Denken der Naturphilosophie.
Das ist im Grunde genommen nichts anderes als
das Durchlaufen des dialektischen Weges von
Möglichkeit und Wirklichkeit im
Erkenntnisprozeß.
Ein
Musterbeispiel für die unter b) genannten
Irrtümer ist die aristotelische Erklärung der
Bewegung. Hält man sich vor Augen, wie
unermeßlich schwierig es war, die Eigenschaft
der trägen Masse, deren Erkenntnis eine
notwendige Bedingung für die richtige
Auffassung von der Bewegung ist, zu
entdecken,(1) so muß man den Erklärungsversuch
der Bewegung, den Aristoteles unternahm und der
erst durch seine viel später aus
religiös-weltanschaulichen Gründen erfolgte
Dogmatisierung zu einem Hemmnis des
naturwissenschaftlichen Fortschritts wurde, als
einen notwendigen Schritt anerkennen und darf
ihn keineswegs vom Standpunkt der heutigen
systematischen Darstellung der Mechanik aus als
völlig falsch und nutzlos abtun.
Unsere
Darstellung will einmal den entwicklungsmäßigen
Zusammenhang der griechischen Naturphilosophie
im Umriß geben, zum anderen werden : die
Knotenpunkte der Beziehung zwischen Philosophie
und Naturwissenschaften, genauer der
physikalischen Wissenschaften, durch
ausführlichere Behandlung hervorgehoben. Es
sind dies vor allem die Lehren der
Pytha-goreer, der Schule Demokrits und des
Aristoteles. Der Piatonismus gehört -was die
Erklärung der physikalischen Erscheinungen
angeht - nicht zu ihnen. Seine Bedeutung für
die Entwicklung der Naturwissenschaft liegt
ausschließlich im Bereich der Mathematik.
Neben diesen drei Schwerpunkten geben wir noch
- und das soll den wesentlichen Etappen des
entwicklungsmäßigen Zusammenhangs der
naturphilosophischen Ideen der Griechen
Rechnung tragen - einen zusammenfassenden
Überblick über die erste Etappe des
griechischen philosophischen Denkens, die
ionische Naturphilosophie, sowie über die
naturphilosophischen Anschauungen der
eleatischen Schule, deren Behandlung der
Bewegung wichtig ist. Wie bereits angedeutet,
wird es uns dabei in erster Linie darauf
ankommen, jene Ansichten, Spekulationen usw.
der antiken Naturphilosophie zu würdigen, die -
vor allem im Hinblick auf Theorienbildung
relevante - Ansätze zu echtem
wissenschaftlichen Denken darstellen.
Will man das
Wesentliche der naturphilosophischen Periode
der griechischen Philosophie kurz
zusammenfassen, so erhält man folgendes Bild:
Die griechische Naturphilosophie ist trotz
ihres spekulativen Charakters und der sich
daraus ergebenden Irrtümer eine notwendige und
bedeutsame Etappe der menschlichen
Naturerkenntnis. Ihre bleibende Bedeutung
besteht vor allem darin, daß sie sich von der
mythologischen Naturerklärung abwandte und daß
sie der Beginn der rationalen Deutung der Welt
ist. Damit sind einige erkenntnistheoretische
Grundsätze verbunden: a) Die Welt existiert
unabhängig und außerhalb des menschlichen
Bewußtseins und ist dem Menschen als Objekt
gegeben (Objektivierung, Materialismus); b) Die
Welt ist erkennbar mit den Mitteln der
menschlichen Wahrnehmung und des menschlichen
Verstandes; die Erkenntnis bedarf keiner
Offenbarung. Dies ist der allgemeine Aspekt der
weltanschaulichen Fundierung der
Wissenschaften.
Im einzelnen
(wobei zu beachten ist, daß auch diese Details
allgemeiner Natur sind) sind besonders zwei
Leistungen der griechischen Naturphilosophie
hervorzuheben: a) die Atomistik als eine
relative Wahrheit von bleibendem Wert, die
der bedeutendste und leistungsfähigste
heuristische unc| methodologische Leitfaden der
gesamten Naturerklärung in der Epoche der
sogenannten klassischen Naturwissenschaft war,
und b) der Gedanke von der
Mathematisierbarkeit der Naturerkenntnis, der
durchaus nicht - wie wir heute vielfach meinen
- selbstverständlich war und der eine der wicht
tigsten methodologischen Voraussetzungen der
exakten Naturerkenntnis ist.
Für Vertreter des
dialektischen Materialismus unter den
Naturwissenschaftlern ist die historische
Würdigung der antiken Naturphilosophie
angesichts der Thesen der materialistischen
Philosophie über den historischer Charakter der
menschlichen Erkenntnis eine
Selbstverständlichkeit. Auel nichtmarxistische
Naturwissenschaftler von Rang - so zum Beispiel
Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger - haben
mit Nachdruck auf ihre fundamentale Bedeutung
hingewiesen. Sie waren sich aber auch des
Mangels bewußt, daß heute, im Zeitalter der
zunehmenden wissenschaftlichen Spezialisierung
und der gegenüber der historischen Darstellung
der Entwicklung der Naturwissenschaft bei
weitem dominierenden Darlegung der
Naturwissenschatten vom rein systematischen
Standpunkt aus viele, besonders Jüngern
Wissenschaftler (vor allem wegen des ständig
rapide anwachsenden Fundus der
einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse der
Gegenwart) noch keine Zeil und Gelegenheit
gefunden haben, sich ein Bild von der Bedeutung
der antiken Naturphilosophie zu machen. In
manchen Fällen führte dieses Nicht wissen und
die damit verbundene Verständnislosigkeit zu
einer grundfalschen, unhistorischen
Unterschätzung der gewaltigen
Erkenntnisschwierigkeiten jener Anfangsperiode
und der zu ihrer Überwindung unternommenes
ersten Versuche. Die vorliegende Arbeit soll
dazu beitragen, dieses unangemessene Urteil zu
korrigieren.
Anmerkungen
1)
Siehe dazu die wertvollen Arbeiten von
Anneliese Maier, Die Impetustheorie der
Scholastik, Wien 1940, und An der Grenze von
Scholastik und Naturwissenschaft, Essen 1943.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber
(HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der
Antike, Berlin 1966, S. 121-124 |