Gesellschaft ohne Opposition?

Buchvorstellung von Richard Albrecht

 

09/2019

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Der Sammelband enthält in acht Abschnitten diverse Texte von 30 Autor(inn)en: Josef Berghold, Christoph Bialluch, Burkhard Bierhoff, Beate Brockmann, Klaus-Jürgen Bruder, Corinna Dengler, Günter Graumann, Christa Händle, Gerhard Hanloser, Jürgen Hardt, Hannes Heer, Irmgard Heise, Mihaela Iclodean, Daniel Jakubowski, Till Manderbach, Bernd Nielsen, Joanna Nogly, Anton Perzy, Julia Plato, Sabine Plonz, Georg Rammer, Karl Heinz Roth, Werner Rügemer, Susanne Schade, Daniel Schnur, Falk Sickmann, Gerald Steinhardt, Elke Steven, Friedrich Vosskühler, Raina Zimmering. Die gemeinsame Klammer ist wie im Titel fragend ausgedrückt und im Buch veranschaulicht die "desaströse Situation der Opposition weltweit". Die es "den politischen Eliten" erlaube, den Neoliberalismus in Form einer Strukturverkehrung als Garant von Demokratie und Freiheit zu präsentieren. So daß es so scheint, als hätte die Diagnose von weiland Herbert Marcuse - Gesellschaft ohne Opposition - ihre Gültigkeit (so der der Klappentext). Wobei es hier weniger um Marcuses Kritik am Sowjetmarxismus (1958) ging. Sondern um dessen Kritik der Eindimensionalität des Spätkapitalismus im Westen (Untertitel: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, dt. 1967). Und um Marcuses Rolle als Stichwortgeber der sogenannten 68er-Protestbewegung in der Alt-BRD und Westberlin: Repressive Toleranz (1966).

Das Buch präsentiert mit einer Ausnahme die Beiträge eines Kongresses, der fünfzig Jahre nach ´68 im März 2018 in Berlin stattfand, vor allem von Autor(inn)en der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) bestückt war und thematische Konflikt- und Handlungsfelder aus linker sozialkritischer Sicht anspricht: etwa einleitend in machtkritischen Hinweisen des NGfP-Vorsitzenden K.-J. Bruder, der von einer bis heute wirksamen "konterrevolutionären Antwort auf den kulturellen Bruch von ´68´" spricht und eine "Diskurs-Polizei" im "linken Milieu" kritisiert (15-22). Oder im munteren Einleitungsvortrag des 2. NGfP-Vorsitzenden C. Bialluch (23-36), der sich als Anfang der 1970er Jahre "Nachgeborener" (Bertolt Brecht) mit der Ambivalenz der 68er Wirksamkeit auseinandersetzt: zunächst ihres nicht nur kulturell-feuilletonistischen, sondern auch in manchen gesellschaftlichen Bereichen der Alt-BRD z.B. Psychiatrie spürbaren institutionellen Erfolgs. Und ihres zunehmend seit den Nullerjahren bestimmten Mißerfolgs im neoliberal dominierten Ganzdeutschland – grad so als müßten sich politische Linke marxistischer Prägung hier und heute dafür öffentlich rechtfertigen, daß und wenn sie ähnlich wie in den 1970er Jahren argumentieren und vor einem, nun noch stärker finanzkapitalisch orientierten, totalitären Monopolkapitalismus (Franz L. Neumann) warnen.

Anregende fachbezogen-psychologische Texte gibt es aus den Themenfeldern zum Menschenbild linksgesellschaftlicher Kritik und der Organisation von Opposition (Anton Perzy 161-171), zur Erinnerung an wirtschaftliche Grundverhältnisse, Klassenanalyse, Klassenkampf und Kritik "scheinbar menschenfreundlicher Konzepte linksliberaler Apologeten, die nur das Ausbeutungsverhältnis mittels einer Ideologie kaschieren", um "den Status Quo zu stabilisieren" (J. Plato & F. Sickmann 269-276) und zur aktiven Rolle von Wissenschaft zur Herausbildung von Alternativen gegen das spätkapitalistische Wachstumsdogma (C. Dengler & J. Nogly 277-288). Zu manchen Beiträgen freilich fehlt mir, auch wenn ich 1971 von Martin Irle im Hauptfach Sozialpsychologie beim sozialwissenschaftlichen Diplomexamen an der Uni Mannheim geprüft wurde, das Fachwissen, um sie im einzelnen vorstellen zu können: so bei Beiträgen in den letzten drei Abschnitten (Virtuelle, Digitale, Mediale; Psychoanalyse im Widerstreit; Care-Diskurs). Und weil mir zwei Beiträge zu 68 von 68ern – die erneute Deutung der "Studentenbewegung" als "Aufstand gegen die Nazi-Generation" von H. Heer (SDS, Jg. 1941; 51-75) und die Auswertung des Deutschlandbuchs (Verschwörung in Deutschland, dt. 1949) von US-Geheimdienstchef A.W. Dulles von W. Rügemer (SDS, Jg. 1941) als Beleg dafür, wie "US-Geheimdienste die antifaschistische Opposition in Europa des Zweiten Weltkriegs und danach infilterten, schwächten oder zerstörten" (87-111) – so dogmatisch wie tautologisch vorkamen und weder mit meiner sozioregionalen Herkunft aus dem altarbeiterlichen Harburg an der Süderelbe wie später mit meinen Aktivitäten und Erfahrungen als SDS-Mitglied und, damals 22jährig, politischer Referent des AStA 1968 an der Mannheimer Provinzuni am Rhein compatibel waren, nenne ich abschließend noch zwei wichtige Sammelband-Texte: B. Brockmanns engagiert-enragierte Erinnerung an den 1967 erschienenen und nach 50 Jahren wieder aktuellen Buchbestseller zur Unfähigkeit zu trauern von A. & M. Mitscherlich (367-378) als "rebellische, antifaschistische Geisteshaltung in Westdeutschland". Und die postmarcusesche politische Lageskizze von K.-H. Roth (SDS, Jg. 1942), einem seit seinem Buch zur ´anderen´ Arbeiterbewegung 1974 relevanten linken Theoretiker.

Unterm Titel Die Große Verweigerung 1968 – und heute? (101-111) geht Roth von 1968 als Chiffre für ein "historisches Wahrheitsereignis" mit "sozialrevolutionären Zügen" und vom Anspruch her allgemeinen Emanziptionsbestrebungen aus. Seit Ende der 1970er Jahre aber sei der weltweite Trend gegenläufig und von einer "sozialen, ökonomischen, politischen und mentalen Konterrevolution" geprägt bis hin zur aktuellen "Restauration von Klassengesellschaften, wie sie sich selbst hartgesottene Marxisten vor einigen Jahrzehnten nicht vorzustellen vermochten". Weltweit würden Gesellschaften durch "regressive und archaisch fixierte Sozialbewegungen" zerrüttet, "egalitären und transnational orientierten Sozialbewegungen der Rang abgelaufen" und autoritäre Herrschaftsformen politisch gefestigt. Das inzwischen durch destruktiven Plattformimperialismus geprägte Weltsystem bewege sich auf eine "diesmal vielleicht finale" Krise mit "globaler Barbarisierung" zu.

Gegen diese gelte es 1. einen "Weg in Richtung eines neuen historischen Wahrheitsereignisses zu öffnen" und Partikulares ("Selfie-Trips") zu überwinden durch allgemeinere Interessen als "soziale Individualität"; 2. möge die "Rest-Linke" zu den "enteigneten, arbeitenden und unterdrückten Klassen in ihrer Gesamtheit" zurückkehren; 3. geht es um "die Herstellung einer neuen Beziehung zwischen den arbeitenden Klassen und der linken Intelligenz auf gleicher Augenhöhe und unter gegenseitigem Austausch der Lernprozesse", die 4. "von Anfang an global vernetzt" und 5. von den "jeweils vorhandenen lokalen oder regionalen Besonderheiten" ausgehen sollten – wobei als eine dieser ein künftig zu erkämpfendes basisdemokratisch-föderativ erneuertes Europa "von unten" Vermächtnis und Ausdruck des Widerstands gegen weltweite Zerstörungsprozesse sein könnte.
 

Paralyse der Kritik
Gesellschaft ohne Opposition?

Hg. Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Bernd Leuterer, Jürgen Günther.

Gießen: Psychosozial-Verlag, 2019, 392 p.; Reihe Forschung, ISBN 978-3-8379-2878-5, 29.90 €.

Editorische Hinweise: Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.