Eine Festung der Engstirnigkeit
Proletarische Kritik bürgerlicher Wissenschaft in postmodern(istisch)en Zeiten

von Richard Albrecht

09/2020

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"Der „alte“ Engels hatte sich noch 1891 nach dem Tod des kränkelnden Genius Karl Marx (1818-1883) ausgiebig und unterm Gesichtspunkt zeitnaher Erstveröffentlichung als (Güte-) Kriterium der Authentizität einer zeitgenössischen Quelle so kundig wie engagiert mit dem „Kathedersozialisten“ und professoralen Marx-Kritiker Lujo Brentano (1844-1931) auseinandergesetzt[1]. Und der nervöse Exil-Politiker Lenin hatte 1916 im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner theoretischen Imperialismus-Kritik[2] vorhandenes Wissen auch deutschbürgerlicher Ökonomieprofessoren kritisch verarbeitet – zugleich aber betont, daß einem bürgerlichen Professor kein Wort geglaubt werden sollte, sobald er sein Fachgebiet verläßt und zu philosophieren anfängt.[3]

Diese Form akribischer Auseinandersetzungen von Engels bis Lenin, so meine die Anschauungsbeispiele verallgemeinernde These, ist inzwischen sachlich-intellektuell so unnötig wie hinfällig: Unter postmodern(istisch)en Vorzeichen ist höchste Vorsicht, auch was wirtschaftliche und/oder zeitgeschichtliche Sachverhalte und was das (angebliche oder wirkliche) Fachwissen dieser Leute betrifft, geboten. Am Beispiel gesprochen: Unabhängig von der Technik des Fälschens („Mit oan Messerl geht´s halt besserl“) muß, wer als Zeitgeschichtler Quellen fälschen will, als unumstößliche Voraussetzung („condition sine qua non“), wissen, was eine Quelle ist. Diese/s war aber bei prominenten deutschen Zeitgeschichtlern und Lehrstuhlprofessoren wie Jäckel, Winkler, Mommsen etc. nicht gegeben. Insofern macht es durchaus Sinn, wenn sie schlimmstenfalls unbequellt bzw. bestenfalls quellenfaul daherkommen. Insofern folge ich Walter E. Richartz (1927-1980) und dessen Satireroman Reiters Westliche Wissenschaft (1980). Dieser schloß an dessen 1969 veröffentlichte, als satirischen Pamphletroman angelegte, mit wissenschaftlichen Literaturnachweisen ergänzte polemische Warnung vor Kontrollmöglichkeiten der Gesamtgesellschaft durch Medizinprofessionelle unter ärztlicher Führung (Tod den Ärtzten[4]) an und einvernahm reale US-amerikanische Forschungserfahrungen des Autors als Naturwissenschaftler.

Hier erscheint der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß nicht mehr als grundsätzlich offenes, dialogisches, antidogmatisches Denken. Sondern als „eine Festung der Engstirnigkeit … Benutzbarkeit wird zum Kriterium … Was nicht ins Bild paßt, wird ausgesperrt. Die großen Vernachlässiger. Die Kurvenanpassung mit Korrekturgliedern. Das Denken mit unverrückbaren Ausgangspunkten, und von da an wird immer ein wenig geschwindelt. Die Naturverwüstung kommt in zweiter Linie, zuerst die Menschenverwüstung, Verkarstung des Bewußtseins. Erfolg als Kriterium für Richtigkeit.“[5]

Anmerkungen

[1] Friedrich Engels, In Sachen Brentano contra Marx wegen angeblicher Zitatsfälschung. Geschichtserzählung und Dokumente [1891]; in: Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1963, Band 22: 93-185; auch online: http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_093.htm

[2] W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß; in: ders., Ausgewählte Werke. Berlin: Dietz, 1983, Band II: 643-770

[3] Jürgen Kusczynski, Dialog mit meinem Urenkel. 19 Briefe und ein Tagebuch. Berlin-Weimar: Aufbau, 1983

[4] Walter E. Richartz, Tod den Ärtzten. Roman. Zürich: Diogenes, 1969; 1980

[5] Walter E. Richartz, Reiters Westliche Wissenschaft. Roman. Zürich: Diogenes, 1980: 212


Editorische Hinweise

Den Beitrag erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

Es handelt sich um den vorletzter Abschnitt der Dokumentarpolemik des Autors aus DIE WAHRHEITSLÜGE. Subjektwissenschaftliche Kritik alter und neuer ganzganzdeutscher Zeitgeschichtsschreibung http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Die_WahrheitsLuege.pdf [2009]; auch https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/gesellschaft/bildung/die-wahrheitsluege-zeitgeschichtsschreibung-2615.html [2020]

Dr. Richard Albrecht (*1945). Freier Sozialwissenschaftsjournalist, Bad Münstereifel.