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trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 9/1998


Stimmen zu den Bundestagswahlen aus dem links&radikalen Spektrum

Aus der Diskussion in der Newsgruppe /CL/GRUPPEN/KRISIS von H.WEINHAUSEN@LINK-K.de

Als Beitrag zum Wahlkampf habe ich einen schon aelteren Artikel ausgewaehlt, den ich auch heute nur geaendert um einige Nuancen so vertrete. Was Geldersatz-Tauschringe Qualitativ Neues bringen, weiss ich zum Beispiel nicht mehr sicher zu sagen.
Natuerlich gilt der Bezug auf die GRUENEN auch fuer die PDS, DKP, MLPD
(SPD sowieso) 

Heinz

Koelner Volksblatt 10/96

Heinz Weinhausen

Reichen die GRUENEN Antworten?

Nein, die GRUENEN stehen hinsichtlich der strukturellen Krise der Arbeitsgesellschaft ohne Konzept da. Deswegen muessen Sie sich nicht graemen, denn niemand hat bisher eine ueberzeugende Antwort entwickelt. Bisher ist nur eine neue Denkrichtung im Entstehen, nach der die Krisis konstruktiv gewendet werden kann, statt in dumpfer Verrohung von Gesellschaft zu enden.

Die Vorschlaege der GRUENEN implizieren, dass eine Reform von Marktwirtschaft moeglich waere, wo weniger gearbeitet, mehr modernisiert - insbesondere als oekologischer Umbau, Gewinne mehr abgeschoepft, besser von oben nach unten umverteilt wuerde und die Staatsfinanzen konsolidiert werden koennten durch "alternatives" Sparen und gerechtere Besteuerung.

Diese Vorstellungen muessen sich allerdings an einer Analyse des jetzigen Kapitalismus brechen. Diese lautet salopp formuliert wiefolgt: Die reale Quelle von Wert und Geld ist die abstrakte Vernutzung von (Lohn)-Arbeit, in erster Linie in der Industrie. Arbeitszeit muss sich stets in Geld umwandeln. Mit der Fliessbandtechnologie des Fordismus konnte eine Arbeitsgesellschaft noch recht reibungslos funktionieren. Bei vielen Arbeitsplaetzen wuchs die Kaufkraft und wachsende Maerkte liessen neue Fabriken mit vielen neuen Arbeitsplaetzen entstehen. Dies schuf guenstige Bedingungen fuer den Ausbau des Sozialstaates. Mit der Computertechnologie kam der Umschwung. Der Bedarf an Arbeitskraft nimmt heute drastisch ab. Das Schrumpfen von Arbeitsvolumen kann nicht mehr durch Marktzuwachs kompensiert werden. 1995 stiegen die Arbeitslosenzahlen erstmals trotz Aufschwung. Die Stagnation von Einkommen verschaerft die Lage, es kommt zum internationalen Verdraengungswettbewerb, welcher den Rationalisierungsdruck noch verschaerft.

Dies fuehrt in die sich permant verschaerfende Krise der Staatsfinanzen und zwangslaeufig in die Krise des Sozialstaates. Der Spielraum von Politik verengt sich enorm, zumal die Karte eines Ausweichens in die Staatsverschuldung ausgereizt zu sein scheint. Nicht von ungefaehr ist das Wort von der "Ohnmacht der Politik" gepraegt worden.

Zum zweiten gibt es eine nur scheinbare Quelle der Vermehrung von Geld, naemlich durch die Spekulation mit Aktien, Immobilien etc. und durch Zinseintreibung nach Kreditvergabe. Dies ist gewissermassen virtuelles Geld, das nur scheinbar vorhanden und nicht oder nur durch zukuenftige reale Vernutzung von Arbeit gedeckt ist. Wenn das Arbeitsvolumen nun aber unaufhaltsam schrumpft, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann die schoene Kredit- und Spekulationsblase sich in Luft aufzuloesen beginnt. Dezember 1994 war dies in Mexiko der Fall. Die Staatspleite konnte nur durch eine Finanzspritze der Metropolen von sage und schreibe 40 Milliarden Dollar verhindert werden. Dies geschah denn auch nicht aus Mitleid, sondern um zu verhindern, dass der gesamte Finanzueberbau mit in den Strudel gerissen wuerde. Andererseits kann eine solche Kompensation nicht staendig durchgehalten werden.

Aus dieser Sicht der Dinge zeigt sich eine schwer verdauliche Konsequenz: Ob die Gruenen 20 Prozent oder 60 Prozent der Stimmen haben werden, die Arbeitslosigkeit wird zunehmen. Gleichzeitig verschaerfen sich die staatlichen Finanzprobleme. Wer die Situation nun retten will, indem sie oder er auf das abzuschoepfende Geld der Reichen verweist, von dem doch genug da waere, sieht Geld, das vertrackte gesellschaftliche Ding naiverweise wie die Kartoffeln im Keller. Was nicht bedeutet, dass hier und heute ueberhaupt kein Spielraum von Umverteilung vorhanden waere. Aber selbst wenn wir den Zauberstab haetten, den sich Chirac nach einem Ausspruch so sehr wuenscht, um die Konjunktur wieder anspringen zu lassen, selbst wenn wir uns die gigantische Summe von 2 Billionen DM, der Summe der gesamten Staatsverschuldung in Deutschland herbeizaubern koennten, waere die Problematik nicht bewaeltigt. Wenn wir diese Finanzspritze nun nicht als Strohfeuer verkonsumieren wollten, waeren wir gezwungen, weltmarktfaehige Arbeitsplaetze zu schaffen. Wacker Chemie in Koeln hat uns die Tage ein Beispiel gegeben. Bei der neuen Investition von 45 Millionen DM werden gerade 24 Arbeitsplaetze geschaffen. Macht 2 Millionen DM pro Arbeitsplatz. Bei 2 Billionen macht dies denn eine Million Arbeitsplaetze. Auch wenn es andere Branchen gibt, wo es weniger Kapitaleinsatz braucht, scheint mir selbst dann eine Vollbeschaeftigung nicht erreichbar. Weiter stellt sich die unangenehme Konsequenz ein, dass wir in anderen Laendern die Arbeitslosigkeit nur steigen lassen wuerden.

Nicht zu reden von der oekologischen Dimension. Sicherlich haetten wir dann schon weit vor dem Jahre 2077, wie vor kurzem errechnet wurde, die saemtliche Flaeche der Bundesrepublik versiegelt und braeuchten eine zweite Etage.

Es gilt zu erkennen, dass die Krise des Arbeitssystems in alten Denkmustern nicht zu bewaeltigen ist. Der Spielraum an sozialer Gestaltung von Marktwirtschaft tendiert gegen Null. Angesagt ist auf diesem Boden vielmehr eine Realpolitik von Notstandsverwaltung - eine duestere Perspektive.

Um wieder in die Offensive zu kommen, bedarf es einer Doppelstrategie. Einerseits - soweit moeglich - den Sozialstaat zu verteidigen, zum anderen aber ein zweites Standbein jenseits der Marktwirtschaft aufzubauen, das nach einer ganz anderen Logik von Gesellschaftlichkeit funktioniert. Stichpunkte sind hier vernetzte Selbstversorgung, Nachbarschaftshilfe, der sogenannte Dritte Sektor von gemeinuetzigen Organisationen.

So hat die Landlosenbewegung in Brasilien es aufgegeben, "Sozialhilfe" zu fordern. Was sie aber will, ist Land fuer kollektive Selbstversorgung. Nicht selten sieht sie sich sogar genoetigt, Boden durch lebensgefaehrliche Landbesetzungen zu erobern.

In Deutschland spriessen Tausch- und Unterstuetzungsringe aus dem Boden, wo ein anderes "Wirtschaften" versucht wird. Hier gibt es entweder eine lokale "Waehrung", oder es wird Zeit verrechnet. Oder es wird sogar wie in Wuppertal ein Unterstuetzungsring ohne Verrechnung organisiert. In Liverpool, wo sich seit Jahren eine Verelendung breit macht, beginnt die Stadt, diese durch OEffentlichkeitsarbeit und Geld fuer Infrastruktur zu unterstuetzen. Und in Bielefeld haben sich Obdachlose mit kommunaler Hilfe selbst Haeuser gebaut.

In Koeln-Muelheim wurde kuerzlich das New Work-Konzept von Fritjof Bergmann und daraus erwachsene Projekte vorgestellt. Die "Neue Arbeit" steht fuer radikale Arbeitszeitverkuerzung, fuer Senkung der Lebenshaltungskosten durch effektive, kooperative Selbstversorgung mittels spezieller Technologie und fuer Rahmenbedingungen, endlich auch das tun zu koennen, was die oder der Einzelne wirklich, wirklich will.

Eine Opposition in den Parlamenten wuerde nach dieser Option einen neuen Schwerpunkt bekommen: das Einfordern von Ressourcen und finanziellen Starthilfen, damit solche neue Formen von kooperativer Selbsthilfe auf den Weg kommen koennen. Der geplante "Strategiekongress der GRUENEN" haette mit einer beginnenden Debatte ueber neue Formen von Vergesellschaftung und deren Realisierung erst wirklich seinen Namen verdient.

Eine Perspektive jenseits von Lohnarbeit und Geldsystem hat heute noch einen Stand von ersten unfertigen Skizzen, dennoch ist ein Weiterarbeiten daran um einiges realitaetstuechtiger als weiter am Trugbild einer funktionierenden Arbeits- und Geldgesellschaft festzuhalten.

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Nr.9/1998