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trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 9/1998


aus : Rote Fahne Nr.32/98 6.8.98

Weichen stellen für das Jahr 2000!

Interview mit Stefan Engel, Vorsitzender der MLPD, 4. August 1998

Rote Fahne: Die MLPD hat Anfang August mit ihrem Straßenwahlkampf begonnen. Was ist hier zu erwarten?

Stefan Engel: Die politische Offensive der MLPD in Verbindung mit der Bundestagswahl läuft ja bereits seit mehreren Monaten. Zuerst wurden erfolgreich über 15000 Unterstützungsunterschriften für die Wahlzulassung gesammelt. Alle Kandidaten und Landeslisten der MLPD/Offene Liste sind inzwischen zur Wahl zugelassen. Ein weiterer Schwerpunkt war der Aufbau der Wählerinitiativen. Jetzt beginnen wir mit dem offensiven Straßenwahlkampf, der im Grunde nichts anderes ist als ein massenhafter Kampf um die Denkweise.

Wir demonstrieren, diskutieren, singen, streiten, tanzen, essen, trinken, hängen Plakate auf, gestalten Plakatwände, gehen von Haustür zu Haustür und organisieren dabei immer mehr Menschen für die neue Opposition.

Mit unserem Programm und dem ganzen Stil unseres Wahlkampfs schwimmen wir natürlich von vornherein gegen den ganzen Strom des bürgerlichen Parlamentarismus. Je klarer unsere Konturen, unsere Argumente, unsere Agitation und Propaganda, aber auch unsere Organisationsarbeit ist, desto mehr können wir mit unserem proletarischen Parlamentarismus in diesem Gegenstrom Erfolge erzielen!

Rote Fahne: Proletarischer Parlamentarismus - ein ungewöhnlicher Begriff! Der proletarische Weg geht ja eben nicht übers Parlament.

Stefan Engel: Der proletarische Parlamentarismus stellt in Rechnung, daß die breite Masse der Werktätigen in Wahlen noch immer die wichtigste Möglichkeit politischer Betätigung sieht. Er nutzt die ganze politisierte Stimmung des Wahlkampfs zum Angriff auf die kleinbürgerlich-parlamentarische Denkweise. Die bürgerlichen Parteien wollen, daß die Massen ihre Geschicke irgendwelchen Stellvertretern übertragen. Wir wollen, daß die Massen selbst aktiv werden gegen die Kohl-Regierung, aber auch gegen die untaugliche alte Opposition und den ganzen Stil der korrupten, überheblichen und arbeiterfeindlichen Politik.

Für diesen Weg steht der erfolgreiche Aufbau der Wählerinitiativen als wichtigste eigenständige Aktivität im Zusammenhang mit dem Wahlkampf.

Bis jetzt sind etwa 2000 Menschen in den Wählerinitiativen zur Unterstützung der 41 Direktkandidaten organisiert - Parteilose, Angehörige aus verschiedenen Parteien und Nationalitäten, zwischen 6 und 90 Jahre alt, von der Schauspielerin bis zum Facharbeiter, Menschen, die in der MLPD, in der kämpferischen Gewerkschafts- oder Frauenbewegung arbeiten, MLPD-Mitglieder und viele, die zum allerersten Mal in dieser Weise organisiert tätig sind.

Schon diese Zusammensetzung macht deutlich, welche neue politische Kraft - und welcher fruchtbare Lernprozeß - hier organisiert wird.

Der Parlamentarismus ist von vornherein Terrain der Bourgeoisie

Rote Fahne: Und was erwartest du dir als Ergebnis für die MLPD aus den Bundestagswahlen?

Stefan Engel: Natürlich kämpfen wir um jede Stimme bei den Wahlen. Bei aller begeisternden Initiative bleibt es aber Fakt, daß der Parlamentarismus von vornherein das Terrain der Bourgeoisie ist. Wir sind heute nur höchstens punktuell in der Lage, die relative Isolierung zu durchbrechen, in die man uns durch die systematische Totschweigepolitik der Medien, die antikommunistische Diffamierung oder durch direkte Unterdrückung bringt. Wir sammeln deshalb bei den Wahlen in erster Linie Kräfte, um schrittweise die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten zu verändern.

Zur politischen Offensive im Zusammenhang mit dem Bundestagswahlkampf gibt es dennoch keine Alternative. Wir können schließlich nicht tatenlos zusehen, wie die Monopole in Verbindung mit ihrem Staat und den Bonner Parteien den Bundestagswahlkampf nutzen, um das Klassenbewußtsein zu zersetzen.

Da wir im nationalen Maßstab heute keinen wirksamen Wahlkampf gewährleisten können, haben wir uns eine strikte Konzentration der Kräfte auferlegt. Nur so können wir eine Überlegenheit der proletarischen Denkweise im Kampf gegen die kleinbürgerliche Denkweise herbeiführen. Der entscheidende Maßstab für den Erfolg unserer Arbeit wird sein, wie die neue Opposition gestärkt mit einer größeren Anziehungskraft und Organisiertheit aus diesem Wahlkampf hervorgeht.

Latente politische Krise weiter vertieft

Rote Fahne: Der Bonner Wahlkampf konnte bisher niemanden überzeugen. 1994 war um diese Zeit des Wahlkampfs schon eine Stabilisierung der bürgerlichen Einflußnahme auf die Massen zu beobachten. Was ist da eigentlich los?

Stefan Engel: Trotz massiven Wahlkampfrummels hat sich die latente politische Krise weiter vertieft:

-Die Querelen zwischen und in den Bonner Koalitionsparteien haben Züge der Panik vor der nahenden Wahlniederlage.

-Der von der CDU-Wahlkampfführung ins Spiel gebrachte aggressive Antikommunismus, z.B. in der »Rote-Hände-Kampagne«, entwickelte sich zum Rohrkrepierer - selbst in der CDU weigerten sich ganze Landes- und Kreisverbände, sie mitzutragen. Der historische Tiefpunkt des Masseneinflusses von CDU und CSU ist erreicht.

-Zugleich nimmt insbesondere unter den Industriearbeitern die Skepsis in die SPD-Alternative Schröder zu.

Schon jetzt zeichnet sich ab, daß alle Konstellationen eines möglichen Wahlausgangs die latente politische Krise nicht lösen werden.

-Einer Fortführung der Kohl-Regierung stünde von vornherein die Ablehnung vor allem der Arbeiterklasse entgegen.

-Eine SPD/Grüne-Regierung oder auch eine große Koalition birgt dagegen für die Monopole die Gefahr der beschleunigten Abnutzung kleinbürgerlich-parlamentarischer und reformistischer Illusionen.

Die Grünen haben eine geradezu begnadete Fähigkeit entwickelt, im Galopp von einem Fettnäpfchen ins andere zu springen. Wenn Joschka Fischer in seinem neuen Buch »Für einen neuen Gesellschaftsvertrag« hauptsächlich eine »Abrechnung mit den Linken« betreibt, so zeigt das den Kurs der Grünen unmißverständlich auf. Damit geraten sie in einen unlösbaren Widerspruch mit ihrer engagierten und kämpferischen Basis, z.B. der Umweltschützer. So ist es kein Wunder, daß inzwischen nicht nur die FDP, sondern auch Bündnis 90/Die Grünen und PDS um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen.

Rote Fahne: Die PDS profiliert sich neuerdings als sozialistische Alternative!

Stefan Engel: Als Sammelbecken der kleinbürgerlichen Linken in der Bundesrepublik ist es objektiv Aufgabe der PDS, vor allem die Werktätigen in den neuen Bundesländern in das System des staatsmonopolistischen Kapitalismus der BRD zu integrieren. Auch der PDS bleibt natürlich nicht verborgen, daß sich die Aufgeschlossenheit der Massen für den Sozialismus verstärkt. So nahm sie flugs auf ihrem Wahlparteitag den Slogan der sozialistischen Perspektive in ihre Programmatik auf. Ihr ganzer Wahlkampf richtet sich in allererster Linie gegen die MLPD und die Entwicklung der neuen Opposition. Schlaglichtartig wurde das deutlich, als sich die PDS-Vertreterin im Bundeswahlausschuß als einzige (!!) bei der Zulassung der MLPD enthielt, während sie der Zulassung der neofaschistischen DVU problemlos zustimmte.

Kapitalistenverbände wechseln Taktik

Rote Fahne: In den letzten Wochen haben sich Kohl und Schröder heftig um die Vaterschaft für einen vermeintlichen Wirtschaftsaufschwung gestritten.

Stefan Engel: Auch 1994 hatte Kohl einen wirtschaftlichen Aufschwung versprochen, und herausgekommen sind seither offiziell 20 Prozent mehr Arbeitslose, ein Rückfall des allgemeinen Lohnniveaus auf 1980 und ein in der Nachkriegsgeschichte nie dagewesener Kahlschlag bei den sozialen Leistungen. Die Leute sind gegenüber solchen Programmen inzwischen mit Recht sehr skeptisch. Die Wähler-Umfragen zeigen entsprechend, daß das Stimmungstief gegenüber der Kohl-Regierung dadurch nicht überwunden werden konnte.

Darauf mußten selbst die Kapitalistenverbände BDI und BDA reagieren. Für sie war die CDU/CSU/FDP-Regierung klarer Favorit. Jetzt wechselten die Unternehmerverbände ihre Taktik. In einem Interview mit der »Frankfurter Rundschau« vom 7.7.98 machte BDA-Chef Hundt unter der Überschrift: »Die Wirtschaft kommt mit jeder Regierung aus« klar, daß sie ihr Krisenprogramm auch mit einer SPD-Regierung verwirklicht sehen und durchsetzen werden.

Die Aufschwungspropaganda - ob aus dem Munde von Kohl oder Schröder - ist reine Manipulation.

Wie 1994 werden Pläne zur Arbeitsplatzvernichtung bewußt auf die Zeit nach dem Wahltag verschoben. Die seit Ende 1996 in der Automobilindustrie »neu geschaffenen« 45000 Arbeitsplätze sind zum größten Teil befristet. Kurzfristige Aufstockung der ABM-Maßnahmen und Lohnkostenzuschüsse sollen den Eindruck einer »Trendwende« erwecken.

Weltwirtschaft geht auf verheerende neue Überproduktionskrise zu

Tatsächlich geht die Entwicklung der Weltwirtschaft eindeutig auf eine verheerende neue Überproduktionskrise zu. Vor einem Jahr, am 2. Juli 1997, brach in Thailand die sogenannte »Asienkrise« aus. Die 117 Milliarden Dollar, die der IWF in die Sanierung der sogenannten »Tigerstaaten« pumpte, konnten diese Entwicklung nicht aufhalten, sondern haben sie noch beschleunigt. Südkorea, Indonesien, Thailand und Malaysia stecken in tiefen Überproduktionskrisen.

Im kapitalistischen Vorzeigeland Japan ist vor einigen Monaten eine zyklische Überproduktionskrise ausgebrochen. Sie verbindet sich mit einer schweren Finanz- und Währungskrise. Faule Kredite unterhöhlen den gesamten Bankensektor Japans, der ein Drittel der Bankguthaben der Welt kontrolliert.

Ende 1997 haben die japanischen Monopole ein Krisenprogramm in Höhe von 100 Milliarden DM auf den Weg gebracht. Der damit verbundene massive Kaufkraftentzug wurde zum unmittelbaren Auslöser der Überproduktionskrise. Das ist eine neue Erscheinung in der Aushöhlung des Regulierungsmechanismus des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Seine krisenverzögernde Wirkung verkehrt sich auf der Basis der fortschreitenden Internationalisierung der Produktion ins Gegenteil.

Der IWF hat seine Finanzreserven vollständig aufgebraucht. Für die neuen Kredite an Rußland mußte bereits ein großer Teil des Notfallfonds angezapft werden. Die bürgerlichen Ökonomen sind angesichts dieser Entwicklung völlig ratlos. Das internationale Krisenmanagement ist gescheitert.

Daß inzwischen ein Drittel der kapitalistischen Weltwirtschaft nicht mehr wächst, hat Auswirkungen auf alle kapitalistischen Länder. Die Vernichtungsschlacht der internationalen Monopole nimmt vor diesem Hintergrund neue Dimensionen an. Die Börsenrekorde in den USA und Europa sind als Ergebnis der Kapitalflucht aus Asien lediglich die Kehrseite der Krisenentwicklung dort. Nach dem Auslaufen der Selbstbeschränkungsabkommen im nächsten Jahr werden die japanischen Automobil- und Elektromonopole mit Hilfe ihres radikal abgewerteten Yen die internationalen Märkte überschwemmen.

Gerade die hohe Abhängigkeit der BRD-Wirtschaft vom Export bei gleichzeitig lahmender Binnennachfrage läßt sie äußerst sensibel auf solche Entwicklungen reagieren. Bereits jetzt geht das Exportwachstum merklich zurück. Man muß davon ausgehen, daß die BRD in der nächsten Zeit in einen neuen Krisenstrudel geraten wird.

Diese ganze Entwicklung bedeutet eine beschleunigte Destabilisierung des imperialistischen Weltsystems.

Tiefgehende Infragestellung der Verhältnisse durch die Massen

Rote Fahne: Die Zeichen stehen also nicht gerade auf Krisenbewältigung für das kapitalistische System und die Bonner Regierung?

Stefan Engel: Das Erwachen des Klassenbewußtseins auf breiter Front, das die Entwicklung seit Herbst '96 prägt, konnte bisher von den Monopolen trotz aller Bemühungen nicht zersetzt werden. Emnid stellte fest, daß das Wort »Reform« zum »Unwort« wurde. Nach dem Motto: »Reform ist, wenn wir weniger bekommen und mehr dafür bezahlen sollen.« (Emnid-Analyse 1-2/98) Die »Wirtschaftswoche« 18/98 berichtet, daß nur noch 41 Prozent der Deutschen bereit sind, den Unternehmen Konzessionen für ihre Wettbewerbsfähigkeit zu machen.

In jeder Diskussion merken wir, wie tiefgehende Gedanken sich die Massen über die Zukunft machen. Diese Überlegungen laufen auf eine tiefgehende Infragestellung der Verhältnisse hinaus, ohne daß den Massen bisher noch eine klare Alternative ersichtlich wäre. Die bürgerliche Meinungsforscherpäpstin Elisabeth Noelle-Neumann orakelt bereits: »Unsere Gesellschaft steht dicht vor einer Rückkehr zum sozialistischen Verständnis von Freiheit« (»Stern«, 30.7.98). Unsere Betriebsgenossen berichten zum Teil von intensiven Diskussionen über den Sozialismus und die MLPD in den Abteilungen, in denen sie eine systematische Kleinarbeit gemacht haben. Dort war es auch möglich, ganze Gruppen von Kollegen für die aktive Mitarbeit in den Wählerinitiativen zu gewinnen.

Zweifellos befinden wir uns immer noch in der ersten Etappe des Klassenkampfs, der Etappe ohne revolutionäre Situation. Gleichzeitig treffen wesentliche Merkmale, die diese Etappe über Jahrzehnte kennzeichneten, nicht mehr ohne weiteres zu.

»Eine relative Erstarkung der Bourgeoisie« ist z.B. ebensowenig festzustellen wie »fehlende Bereitschaft der Arbeiter zum Kampf«. Das erweitert unsere taktischen Möglichkeiten, die wir offensiv nutzen müssen.

Mindestens 14 selbständige Streiks und Kampfaktionen seit Februar

Rote Fahne: In der bürgerlichen Presse ist aber derzeit nicht viel von Arbeiterkämpfen zu lesen.

Stefan Engel: Der Reifeprozeß zur Arbeiteroffensive hat sich fortgesetzt, wenn auch gedämpft und nicht in so breitem Umfang wie 1997.

Seit Februar diesen Jahres gab es mindestens 14 selbständige Streiks und Kampfaktionen.

Ihre wichtigsten Merkmale waren:

-konkrete betriebliche Kampfaktionen gegen die Ausbeutungsoffensive, insbesondere die Flexibilisierung, Lohnraub und Massenentlassungen.

-Die Streiks verteilen sich über das ganze Bundesgebiet, umfassen aber bisher in der Regel nur einzelne Betriebsteile oder Abteilungen.

lSie stehen in Verbindung mit der bundesweiten Bewegung der »Rotthauser Erklärung« und mit der Kritikbewegung in den Gewerkschaften gegen die reformistische Klassenzusammenarbeitspolitik der rechten Gewerkschaftsführer.

-Durch Einschüchterungsmaßnahmen der Geschäftsleitung hat die Mehrzahl der Streiks mehr oder weniger deutliche politische Züge, die Verbindung von wirtschaftlichen und politischen Forderungen ist vor allem seit März enger geworden.

-Die Übernahme der Verantwortung für die Zukunft der Jugend spielt eine größere Rolle.

-Der Wunsch nach überbetrieblichen Plattformen und Zusammenschlüssen wächst.

-Die »Rote Fahne« wird zum Erfahrungsaustausch genutzt und dient als Anleitung zur Organisierung der Kämpfe.

-Alle Streiks wurden gegen den scharfen Widerstand der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie organisiert und entstanden im engen Meinungsaustausch mit marxistisch-leninistischen Kräften.

-Trotz massiver Hetze gegen die MLPD wächst der Wunsch von Kollegen nach engerer Zusammenarbeit mit der Partei.

Gleichzeitig erreichen wir heute erst einen Bruchteil des Industrieproletariats. Das ist zu einem hauptsächlichen Hindernis für den Fortgang der Arbeiteroffensive geworden.

Ein bedeutender Kristallisationspunkt im Klärungsprozeß zur Arbeiteroffensive könnte die Initiative für einen Automobilarbeiterratschlag mit internationaler Beteiligung am 3./4. Oktober 1998 werden. Sie hat sich die Aufgabe gestellt, eine kämpferische Plattform und dauerhafte Strukturen zur Arbeiteroffensive in Theorie und Praxis zu entwickeln. Das wird von der MLPD unterstützt.

Die MLPD muß darüber hinaus ihre marxistisch-leninistische Basis in den Automobilbetrieben stärken. Man darf sich von der gegenwärtigen relativen Ruhe in den meisten Industriebetrieben nicht täuschen lassen. Solange der bürgerliche Wahlkampf läuft, werden die heftigen Widersprüche in den Industriebetrieben und in den Gewerkschaften noch unter der Decke bleiben.

Nach den Wahlen, egal wie sie ausgehen, werden sie aber früher oder später zum Ausbruch kommen. Die Partei muß sich darauf systematisch vorbereiten.

Bürgerlicher Wahlkampf ohne großen Erfolg bei der Jugend

Rote Fahne: Offenbar hat der Wahlkampf viele bürgerlichen Politiker bewegt, sich für die Jugend stark zu machen.

Stefan Engel: Ich glaube nicht, daß das viel Erfolg bei Jugendlichen haben wird. Mit dem Versuch, ihren neuesten Kinder- und Jugendbericht unter Verschluß zu halten, ist die Bundesregierung bereits auf dem Bauch gelandet. Dieser Bericht dokumentiert die drastische Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen der Masse der Jugend im Verlauf der 90er Jahre. Demnach leben im Westen 11,8 Prozent und im Osten 21,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Armut.

Der DGB rechnet damit, daß 1998 jeder vierte Bewerber für eine Lehrstelle leer ausgeht, das sind 200000 Jugendliche. Meldeten sich 1991 noch 13 Prozent nach der Lehre arbeitslos, sind es heute mehr als ein Viertel aller Auslerner. Die von der reformistischen Gewerkschaftsführung unterstützte befristete Übernahme ist ein einziger Betrug, weil sie das Problem der Arbeitsplatzvernichtung lediglich um einige Monate vertagt.

Auch politisch konzentrieren sich wichtige Angriffe auf die Jugend. Unter dem Vorwand der Bekämpfung neofaschistischer Hooligans wurden während der Fußballweltmeisterschaft länderübergreifende Notstandsübungen durchgeführt. Dagegen wird wirklichen Faschisten jeder erdenkliche Spielraum eingeräumt.

An der wachsenden Unzufriedenheit der Jugend mit der Kohl-Regierung und ihrer Suche nach einer gesellschaftlichen Perspektive setzt auch das »Jugendbündnis für eine zukunftsfähige Politik« an. Dabei handelt es sich um eine Aktion der alten Opposition im Verein mit der rechten Gewerkschaftsbürokratie, die sich direkt gegen die Rebellion der Jugend und die neue Opposition richtet. Der Höhepunkt soll ein zentraler Aktionstag am 19. September in Frankfurt sein. Dort werden MLPD und REBELL wohl auftreten, nicht aber dorthin mobilisieren! Unsere Kleinarbeit hat andere Schwerpunkte.

REBELL und ROTFÜCHSE - Trümpfe der MLPD in der politischen Offensive

Rote Fahne: Wie beurteilst du die Entwicklung von REBELL und ROTFÜCHSE?

Stefan Engel: Der Jugendverband REBELL und die Kinderorganisation ROTFÜCHSE sind ein regelrechter Trumpf der MLPD in der politischen Offensive. Vorausgesetzt natürlich, daß er richtig ausgespielt wird. Auf dem dritten Verbandsdelegiertentag des REBELL 1996 hatte die MLPD dem REBELL hauptsächlich drei Aufgaben für die Kleinarbeit gestellt: sich auf die Masse der Jugend zu orientieren, die Rotfuchsarbeit als eine der wichtigsten eigenständigen Aufgaben des REBELL wahrzunehmen und ein demokratisches Organisationsleben im REBELL zu verwirklichen.

Auch wenn der REBELL bisher diese Aufgabenstellung noch nicht vollständig verwirklicht hat, zeigen gerade die Kinder feste an Pfingsten, die derzeit laufenden Kinder- und Jugendcamps in Alt Schwerin
und nicht zuletzt der Kampf um die Initia tive des REBELL in der politischen Offensive in Verbindung mit dem Bundestagswahlkampf den lebhaften Kampf um die Selbstveränderung im REBELL.

Jetzt muß die Vorbereitung des 4. Verbandsdelegiertentags (VDT) des REBELL mit dem praktischen Feld der politischen Offensive in Zusammenhang mit dem Bundestagswahlkampf zu einem Höhepunkt in der Selbstveränderung des REBELL werden. Die Verbandsleitung des REBELL hat ihren Rechenschaftsbericht rechtzeitig an die Mitglieder des REBELL herausgegeben. Inzwischen sind wesentliche Voraussetzungen für einen qualitativen Sprung zum Jugendmassenverband als Schule der proletarischen Denkweise herangereift.

Die MLPD muß dem REBELL in der VDT-Vorbereitung helfen, tatsächlich einen qualitativen Sprung in der Arbeit auf der Grundlage der proletarischen Denkweise zu vollziehen. Das kann nicht allein oder hauptsächlich in einem »Diskussionsprozeß« erreicht werden, sondern setzt die bewußte Herstellung der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis in der VDT-Vorbereitung voraus.

Neues Nolte-Outfit ändert reaktionäre Frauenpolitik nicht

Rote Fahne: Kürzlich war Frauenministerin Nolte statt mit Rüschenbluse und Faltenrock in Jeansjacke und T-Shirt bei Harald Schmidt zu Besuch. Hat sich die Frauenpolitik der Kohl-Regierung gemausert?

Stefan Engel: Das modernisierte Nolte-Outfit kann über den reaktionären Charakter ihrer Frauenpolitik nicht hinwegtäuschen.

Das Bonner Krisenprogramm bedeutet einen tiefgehenden Einschnitt in das Alltagsleben. Die sozialen Errungenschaften werden zerschlagen und die Probleme auf den einzelnen, auf die Familien - und damit vorrangig die Frauen - abgewälzt. Das betrifft in allererster Linie die Folgen der Massenarbeitslosigkeit. Wer fängt das denn auf, wenn die Jugendlichen direkt von der Schule weg arbeitslos werden? Wer springt ein, wenn Pflegeheime unerschwinglich oder menschenunwürdig sind? Und wer badet es aus, wenn die Möglichkeiten der Kinderbetreuung oder Freizeiteinrichtungen für Jugendliche rigoros gestrichen werden?!

Den Feministinnen fällt in dieser Situation nichts Besseres ein, als wieder mal den Mann als Gegner auszumachen und spalterisch auf den Verteilungskampf zwischen Männern und Frauen um die zu wenigen Arbeitsplätze oder Geldmittel auszurichten. Es ist kein Zufall, daß der Ausgangspunkt einer neuen Formierung der kämpferischen Frauenbewegung am 8. März 1998 der Angriff auf die reaktionäre Politik der Bonner Regierung in ihrer ganzen Bandbreite und den kleinbürgerlichen Feminismus innerhalb der Frauenbewegung war.

Die MLPD unterstützt aktiv den Gedanken des zweiten frauenpolitischen Ratschlags am 21./22. November. Die MLPD selbst wird dort die Grundfragen der doppelten Ausbeutung und Unterdrückung der Masse der Frauen im staatsmonopolistischen Kapitalismus und die Perspektive der Befreiung der Frau im Sozialismus vertreten und zugleich mithelfen, das Treffen zu einer Plattform des gesamten Spektrums der kämpferischen Frauenbewegung zu machen.

Theoretische Versäumnisse der alten kommunistischen Bewegung in der Frauenfrage

Rote Fahne: Die nächste Ausgabe des theoretischen Organs der MLPD, REVOLUTIONÄRER WEG, soll dem Thema »Der Klassenkampf und die Aufgaben und Ziele der Befreiung der Frau« gewidmet sein. Kannst du als Leiter des Redaktionskollektivs sagen, wie die Arbeit vorangeht?

Stefan Engel: Die Lehre von der Denkweise hat uns auf die enorme Bedeutung der Lebensweise als Quelle des Kampfs zwischen kleinbürgerlicher und proletarischer Denkweise hingewiesen. Ohne rechtzeitige Weiterentwicklung der ideologisch-politischen Linie der MLPD kann es nicht gelingen, Partei der Massen zu werden.

Der bürgerliche Staat hält den Grundwiderspruch der Gesellschaft in Spannung zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten, kapitalistischen Aneignung. Die bürgerliche Familienordnung hält den Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion der Lebensmittel und der privaten Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens in Spannung. Wir erleben heute eine regelrechte Krise der bürgerlichen Familienordnung, was das Leben der Massen noch stärker beeinträchtigt. Wir müssen die gesellschaftlichen Wurzeln dafür aufdecken, wenn wir um die Befreiung der Frau kämpfen wollen.

Zu Beginn unserer Arbeit sind wir auf eine Reihe theoretischer Versäumnisse und nicht ausgetragener Diskussionen in der alten kommunistischen Bewegung über diese Fragen gestoßen, die wir dringend klären müssen. Die Schrift von Friedrich Engels »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« war von den Revisionisten Bernstein und Kautsky angegriffen worden, aber auch in der kommunistischen Bewegung umstritten. Weltanschaulich vertraten die Kritiker einen ökonomischen Materialismus, der bereits von Marx, Engels und Lenin kritisiert wurde. Der ökonomische Materialismus geht von einer einseitigen Prägung des Überbaus durch die Basis aus und schließt die Rückwirkung des Überbaus faktisch aus. Der ökonomische Materialismus ist eine weltanschauliche Grundlage des Revisionismus. In der Frauenbewegung führte er dazu, sich auf die Forderung nach Gleichberechtigung zu beschränken. Auf diese Weise ist die Ideologie der bürgerlichen Familienordnung mehr oder weniger tief in die kommunistische und Arbeiterbewegung eingedrungen.

Wir haben festgestellt, daß ein dialektischer Zusammenhang zwischen der krisenhaften Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und der latenten Krise der bürgerlichen Familienordnung existiert. Darin besteht ein wesentliches Merkmal der 5. Phase der Allgemeinen Krise, der Destabilisierung des kapitalistischen Systems.

Rote Fahne: Wie vereinbart sich denn diese weitreichende theoretische Arbeit mit dem ganzen Trubel des Alltagsgeschehens im Wahlkampf - gerät das nicht in Widerspruch?

Der nächste Parteitag wird vorbereitet

Stefan Engel: Reibungslos klappt das nicht, zumal ständig die Gefahr besteht, von den konkreten Tagesaufgaben aufgefressen zu werden. Wir müssen deshalb die Perspektive des Parteiaufbaus allseitig begreifen. Der perspektivische Blick entscheidet letztlich darüber, ob wir auch taktisch die Situation im Parteiaufbau und Klassenkampf richtig bewältigen. Unter diesem Gesichtspunkt rückt vor allem die Vorbereitung des VI. Parteitags der MLPD im Jahr 1999 ins Blickfeld. Seine Hauptaufgabe ist, Parteiaufbau und Klassenkampf im Übergang zum neuen Jahrtausend auszurichten.

Das wird Ergebnis einer gründlichen Verarbeitung aller Erfahrungen seit dem Solinger Parteitag sein, was die ganze Fülle der theoretischen und praktischen Erkenntnisse aus der Arbeit auf der Grundlage der proletarischen Denkweise berührt. Das ZK hat auf seinem letzten Plenum bereits die Rechenschaftsberichtskommission und andere wichtige Kommissionen zur Vorbereitung des Parteitags eingesetzt. Ganz wesentlich ist dabei auch eine Kommission zur Überarbeitung des Parteiprogramms, die z.B. die Entwicklung seit der Wiedervereinigung und der Erarbeitung der Lehre von der Denkweise verarbeitet.

Nach dem Abschluß der politischen Offensive in Verbindung mit den Bundestagswahlen mit einer gründlichen Auswertungsphase werden wir noch dieses Jahr mit dem Aufbau der Vorbereitungsgruppen für das 9. Internationale Pfingstjugendtreffen beginnen.

MLPD steht mitten im tiefgehendsten Selbstveränderungsprozeß

Rote Fahne: Da hat sich die MLPD ja Großes vorgenommen. Gibt es nicht auch Probleme, das alles zu bewältigen?

Stefan Engel: Insgesamt haben wir eine hervorragende Entwicklung in der Tätigkeit von Partei und REBELL. Wir stecken mitten in dem tiefgehendsten Selbstveränderungsprozeß seit der Parteigründung. Noch nie hat sich in unserem Parteiaufbau so viel geändert wie in den letzten beiden Jahren. Die Richtung, die der Parteiaufbau und der Klassenkampf nehmen müssen, wird immer klarer. Aber in dem Maße, wie sich diese Klarheit schärft, werden auch die Widersprüche, die Hindernisse und Widerstände deutlich, die man dabei überwinden muß. Das fordert den Kampf zwischen proletarischer und kleinbürgerlicher Denkweise enorm heraus, denn am größten sind bekanntlich diejenigen Hindernisse, die mit der eigenen Selbstveränderung verbunden sind.

Der Mutige sieht in der Selbstveränderung das Leben. Der Ängstliche gerät in Panik und Verzweiflung, weil er die Selbstveränderung fürchtet.

Die kleinbürgerliche Denkweise kann nur auf offensive Art und Weise überwunden werden, weil sie sich spontan aus dem gesellschaftlichen System der kleinbürgerlichen Denkweise reproduziert. Die Probleme, die in der Parteiarbeit auftauchen, haben heute ihre Wurzel in dem Ausmaß der nötigen Selbstveränderung, der Dimension der perspektivischen Entwicklung. In der heutigen Situation der umfassenden Selbstveränderung der Parteitätigkeit bekommt jeder Widerspruch, der nicht geklärt wird, schnell die Tendenz zur Systematisierung zu einer kleinbürgerlichen Richtung.

Problematisch werden die Fehler vor allem dann, wenn prinzipielle Kritik und Selbstkritik unterlaufen werden und so der kleinbürgerliche Ehrgeiz zur Triebkraft wird. Die entscheidende Frage des Ehrgeizes ist heute die persönliche Stellung zur Selbstveränderung.

Doch dieser Prozeß der Selbstveränderung ist inzwischen unaufhaltsam, und die Partei hat sich zu einem tatsächlichen Aufbruch ins nächste Jahrtausend gefestigt! Das schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, daß in der letzten Zeit einige wichtige Kräfte aus den Zentren des Übergangs zur Arbeiteroffensive, aus der kämpferischen Frauenbewegung und aus der Jugendbewegung Mitglied in der MLPD geworden sind.

Rote Fahne: Offensichtlich kommt der MLPD eine neue Bedeutung unter den Massen zu, der sie sich selbst erst noch so richtig bewußt werden muß.

Stefan Engel: Die Vorwärtsentwicklung gerät in krassen Widerspruch zu einer geradezu verinnerlichten Gewöhnung an langsame Veränderungen und die relative Isolierung der MLPD.

Heute erleben wir, daß es möglich ist, aufgrund unserer Agitation und Propaganda in einem bestimmten Umfang direkt Kämpfe auszulösen und Kampfaktionen zu bestimmen; die MLPD ist sehr wohl in der Lage, im bestimmten Umfang gesellschaftliche Bedeutung zu erlangen, und ist organisatorisch eine der wirkungsvollsten Kräfte der Linken geworden.

Regelrechte Bewegung zur Beherrschung der dialektischen Methode

Rote Fahne: Die Erwartungen der Massen an die MLPD stellen hohe Anforderungen an jedes einzelne Mitglied, seine Sicherheit und Selbständigkeit in der Orientierung. Wie ist das überhaupt zu leisten?

Stefan Engel: Die dialektisch-materialistische Methode ist das entscheidende Kettenglied, um in einer Zeit schneller Veränderungen und neuer Aufgaben selbständig Kurs halten und tatsächlichen Masseneinfluß gewinnen zu können. Heute geht es um die Beherrschung der dialektischen Methode auf dem Niveau der Lehre von der Denkweise. Das heißt, jede Frage muß nicht nur theoretisch vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus aus, sondern auch von seiner wissenschaftlichen Methode her beantwortet werden. Im letzten Jahr ist in der MLPD eine regelrechte Bewegung zur Beherrschung der dialektischen Methode gewachsen, die zu einem Hauptmerkmal und Garanten der erfolgreichen Selbstveränderung der Partei wurde. Das Hauptproblem ist ein metaphysisches Verständnis von der Dialektik. Das drückt sich so aus, daß man viel über die dialektische Methode redet, aber wenig versteht, sie wirklich in der Praxis und Theorie anzuwenden. Die dialektische Methode muß sich auf das Auffinden der dialektischen Gesetzmäßigkeiten in der Praxis, in der realen Wirklichkeit der Parteitätigkeit und des Klassenkampfes beziehen.

Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß es keine sprunghafte Entwicklung der proletarischen Denkweise gibt. Das bedeutet, daß die Beherrschung der dialektischen Methode ein zeit- und kräfteaufwendiger Prozeß ist, den man auch nicht beliebig beschleunigen kann. Allerdings erfordert er eine eiserne Disziplin und einen eisernen Willen zur tatsächlichen Selbstveränderung, weil er die gewohnheitsmäßige Denkweise des gesunden Menschenverstands in Frage stellt. Im Grunde genommen kann es sich kein Mitglied und kein Leitungsmitglied der Partei erlauben, sich von dieser Bewegung fern zu halten.

MLPD muß gestärkt werden

Rote Fahne: Wird es die MLPD schaffen, die Kräfte für ihre künftigen Aufgaben zu gewinnen?

Stefan Engel: Die Stärkung der MLPD ist zum Kettenglied für die weitere Entwicklung des Klassenkampfs, des Übergangs zur Arbeiteroffensive und der Entwicklung der neuen Opposition geworden. Ohne erhebliche Steigerung der Mitgliederzahlen für die MLPD - ich denke an eine Vervielfachung - ist nicht an einen Masseneinfluß auf nationaler Ebene zu denken. Zudem brauchen unsere Mitglieder eine allseitige Ausbildung, Befähigung, Begleitung, Schulung und Bildung. Kurzum eine Kaderarbeit, die die Genossen für ihre komplizierten Aufgaben befähigt, die sie in der kapitalistischen Gesellschaft nicht gelernt haben. Die Lösung der Kaderfrage entscheidet, ob die historische Chance der bevorstehenden Ausreifung einer historischen Umbruchphase für einen Aufschwung des Kampfs für den echten Sozialismus genutzt werden kann.

Nur der perspektivische Blick läßt uns überhaupt das Wesen unserer ganzen Tagespolitik begreifen. Von ihm geprägt muß die politische Offensive in Zusammenhang mit den Bundestagswahlen 1998 weiter entfaltet werden und zu einer deutlichen Stärkung der MLPD führen. Damit stellen wir die wichtigsten Weichen für das Jahr 2000.

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