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Rassismus und Psychologie
Die Vernetzungen subjektwissenschaftlichen Denkens mit dem rassistischen Diskurs

von Klaus Weber

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1. Ins Dickicht der Reichen...

Christian Geißler, ein fast 70jähriger Schriftsteller, der nach seinem Theologiestudium als Landwirt, Hotelportier und Dokumentarfilmer arbeitete, schreibt in seinem letzten Buch über die Schwierigkeiten, in unmenschlichen Zeiten menschlich zu bleiben: sich gegen Rassismus, Menschenverachtung, Neofaschismus zu stellen und dabei nicht selbst das unmenschliche Gesicht der anderen anzunehmen. Eine klare Beschreibung der rassistisch strukturierten gegenwärtigen Verhältnisse in der BRD fand ich in seinem Prosastück mit dem verwirrenden, aber deutlich auf die deutsche Unrechtsgeschichte hinweisenden Titel „Wildwechsel mit Gleisanschluß". Pessimistisch weist er auf die unerträglichen Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschland hin, wenn er schreibt: „Keiner der armen Wandernden, die sich uns anvertraut haben werden, wird das Glück überleben, Frauen, Männer, Kinder ohne Eltern, russische Kinder ohne Eltern, schon ihre Großeltern eingekreist deutsch sind verhungert und erfroren, zerbombt worden und verbrannt, kurdische Großfamilien, Jugendbanden aus Bangladesch ..., aus vielen Monaten Jagd und Gejagtwerden Jakuten, Jemeniten, Molukken, hautkrank vom Müll, unfruchtbar aus den Experimenten, widerstandslos aus der Chemie, zerfressen verstrahlt, aus Kriegen blöde, kommen sie auf uns zu, und ledern wirr, mitten unter ihnen, der rote Stern, das gelbe Haar, krank krumm und alt oder haßerfüllt jung die Verworfenen aus dem Dickicht der Reichen hier nah, geschwächt von Hunger und Fremde..." (Geißler, 1996, S. 27). Am Ende des Absatzes, der auch bei mehrmaligem Lesen keine Hoffnung aufkommen läßt, kontert der Autor die in solcher Aussichtslosigkeit scheinbar logische Frage „Was haben wir aber?" mit der Antwort: „Wir arbeiten in einem Netz an einem Netz ohne Netz" (ebd., S. 28). Beruhigend und gegen die schweren Zeiten hoffend - sowohl subjektiv wie gesellschaftlich -, verweist uns Geißlers Antwort auf die Widersprüche alltäglichen Lebens, die uns nicht selten ohnmächtig und hoffnungslos werden lassen. Was haben wir aber? Mit dem „Wir" ist nicht das „Volk" der Deutschen gemeint und auch sonst keine Gemeinschaft, die sich über höhere Werte definiert und konstituiert; das „Wir" bezieht sich auf die wenigen, die sich innerhalb der rassistischen Gesellschaft miteinander gegen sie stellen. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob Psychologie als Wissenschaft das widerständige Potential gegen eine rassistische Gesellschaft und gegen die Verstrickungen der Subjekte darin stärken kann, oder ob sie - als Herrschaftswissen - nicht vielmehr rassistische Strukturen verfestigt.

2. Rassenkonstruktion und Psychologie

Nach Jäger & Jäger (1992) bezeichnet Rassismus eine Haltung, die Angehörige einer Gruppe von Menschen "1. als genetisch oder kulturell bedingt anders zur Kenntnis nimmt, 2. diese Andersartigkeit negativ (oder positiv) bewertet und dies 3. aus der Position der Macht heraus tut..." (ebd., S.685). Auf die Anschläge gegen Migranten oder deren diskursive Abwertung und Ausgrenzung übertragen bedeutet das, daß eine Gruppe von Menschen aufgrund gewisser körperlicher Merkmale in der Wahrnehmung ausgegliedert wird, wobei diese Merkmale oft negativ bewertet sind. Die machtvolle Position, aus der heraus das geschieht, ist die des eingeborenen Deutschen, der über die anderen befinden will. Worin die Andersartigkeit z.B. von Einwanderern genau besteht, spielt dabei keine Rolle und wechselt je nach Argumentationslinie in der rassistischen Haltung. Dies entspricht dem Sachverhalt, daß Rassen soziale Konstrukte sind, "sozial imaginierte, keine biologischen Realitäten" (Miles, 1989, S.355). An diesem Punkt wäre es möglich, die Psychologie als Subjektwissenschaft ins Spiel zu bringen: Wenn Menschen sowohl ihre Beziehungen zueinander als auch die institutionellen und gesellschaftlichen Verhältnisse in sozial imaginierten Wirklichkeiten ausdrücken, kann Psychologie die Frage nach der Funktion der jeweiligen Imagination und dem Gehalt derselben stellen. Als „reflexive Sozialpsychologie (vgl. Keupp, 1994) wäre sie so ein Baustein für ein kritisches Hinterfragen subjektiver Haltungen: Um diesen Platz einnehmen zu können, muß jedoch zuerst der spezifisch-historisch gewordene Ort bestimmt werden, den Psychologie als Wissenschaft und diskursive Macht in der arbeitsteiligen Gesellschaft allgemein einnimmt.

Das Fach Psychologie gibt sich an den Universitäten und Forschungsinstituten oft als "Grundlagenwissenschaft mit beschränkter Haftung für den Gegenstand aus" (Sonntag, 1993, S.14), während die PraktikerInnen der Disziplin vor lauter Verantwortungsübernahme für die Wichtigkeit ihres Berufs oft die Grundlegung ihrer Wissenschaft vergessen. Tatsache ist: Den praktischen Vertreterinnen und Vertretern von Psychologie werden von Seiten der Gesellschaft Kompetenzen und Orte eingeräumt (wie Betriebe, Kliniken, Beratungsstellen, Schulen, Gefängnisse und therapeutische Praxen), an denen diese Wissenschaft angewandt werden soll. Psychologie als diskursiver Ort wird von den KonsumentInnen in steigendem Maße deswegen aufgesucht, weil sie scheinbar Zugänge und Erklärungsweisen für historische, soziale und ökonomische (auch ökologische) Sachverhalte anbietet - ohne sich jemals dadurch ausgewiesen zu haben, daß sie in Theorie oder Praxis auch nur ansatzweise Möglichkeiten der Veränderungen in den oben genannten Bereichen anbieten konnte. Insofern ist die gesellschaftlich zunehmende Nachfrage nach Psychologie als Erklärungsinstanz ein Indiz für die Verwahrlosung dieser Gesellschaft in intellektueller, bildungspolitischer und kultureller Hinsicht: Psychologie als Diskursstätte der Selbst-Thematisierung soll die Welt erklären können, obwohl sie erklärt, dafür im Grunde nicht zuständig zu sein. Die Verwendung des psychologischen Paradigmas zur Deutung sozialer Phänomene setzt zwei Annahmen voraus, die kritisch zu hinterfragen sind.

Erstens: Psychologische Erklärung "ordnet Handlungen und Situationen so an, daß sie sich von innen nach außen erklären" (Haug, 1987, S.100). Damit werden Verantwortung und Schuld für gesellschaftliche Verhältnisse als individuell zu erlebendes »Schicksal« ins Subjekt verlagert, es wird genötigt, die Verhältnisse auf der Folie individueller und zwischenmenschlicher Beziehungen zu leben und zu verantworten und wird damit restlos überfordert. Zweitens: Wenn PsychologInnen an Subjekten erklären, wie, warum und wann diese z.B. rassistisch sind, nehmen sie eine Position ein, die sie selbst und ihre Wissenschaft außerhalb eines gedachten Rassismus' stellt. Diese Position impliziert, daß man/frau selbst eine richtige Theorie sowie ein richtiges Bewußtsein hat und die anderen, die »Rassisten«, ein falsches. Stuart Hall kritisiert diesen Standpunkt zu Recht als Mißachtung subjektiver Lebensäußerungen: „Ich lehne die Theorie des falschen Bewußtseins insgesamt ab, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: ... Das ist keine Form, den Rassismus als Phänomen ernst zu nehmen. Statt dessen müssen wir lernen zu begreifen, inwiefern Rassismus eine authentische Form sein kann, in der untergeordnete soziale Gruppen ihre Unterordnung leben und erfahren. Wir müssen begreifen, wie Gruppen, die von den Reichtümern unserer Wohlstandsgesellschaft ausgeschlossen sind, die aber gleichwohl zur Nation gehören, sich mit ihr identifizieren wollen, im Rassismus eine authentische Form der Identitätsgewinnung und des Selbstbewußtseins finden können" (Hall, 1989, S.916).

Will also Psychologie als Subjektwissenschaft etwas zur Klärung des Phänomens Rassismus beitragen, so hätte sie zuerst über ihre Funktion (und Funktionalisierung) in einem kapitalistischen Staat nachzudenken, gleichzeitig die eigene Verwobenheit in eine rassistische gesellschaftliche Struktur wissenschaftstheoretisch zu klären und zudem die Beschränktheit ihrer Methoden und Denkweisen aufzuzeigen. Diesen interdisziplinär zu klärenden Fragen gesellen sich Fragen zu, die mit der Heterogenität des Fachs an sich zu tun haben.

3. Subjekt

Geht die traditionelle und akademische Psychologie immer noch davon aus, daß das Subjekt einen bewußt handelnden, ganzen und einheitlichen Menschen meint, so gibt es im weiten Feld von Philosophie und Psychologie keine Übereinstimmung darüber, was Subjekt bezeichnet. Selbst die am grundlegendsten ausgearbeitete psychologische Subjekttheorie von Klaus Holzkamp ist vor allem auf die Vernunft des Individuums fokusssiert. Sie unterstellt die „Einheit des sich zur Welt und zu sich selbst verhaltenden Subjekts" (Holzkamp, 1983, S. 332). Diese Sicht auf das Individuum als Einheit wird von Frigga Haug zurecht als inadäquat kritisiert: "In seinen unvernünftigen Seiten handelt es noch als Kopf, nicht als Bauch. Es lebt keinen Widerspruch, der nicht im Denken lösbar wäre; es ist selbst nicht widersprüchlich" (Haug, 1995, S.864). Am weitestgehenden und fruchtbarsten im Zusammenhang mit der Frage nach der Konstitution eines »rassistischen Subjekts« scheint mir der Ansatz eines nichtsubstantiell gedachten Subjekts (Foucault, 1985, S.18). Diese Konzeption spricht von einem Subjekt, das durch seine "Selbsttätigkeit und plurale institutionelle Konstituiertheit" (Haug 1987, S.94) in die gesellschaftliche Ordnung eingelassen ist. Es ist also nicht konstituiert durch sein Wesen, seine Persönlichkeit, seinen Charakter oder ähnliche Konstrukte, die eine Substanz innerhalb der Person behaupten. Vielmehr ist das Subjekt tätige Schnittstelle in einem vielfach determinierten gesellschaftlichen Raum: „Ebenso Produkt dieses Raumes wie Produzent seiner selbst darin" (Weber, 1996, S. 16). Mit dieser Setzung des Subjektbegriffs ist es möglich, Rassismus als eine Form zu verstehen, mit der sich die fragmentierten, mit sich zerfallenen Individuen eine Identität erarbeiten. Eine Identität, mit der sie sich als "einheitlich repräsentiert" (Hall, 1994, S.207), als ganze Personen, als Subjekt erleben.

4. Psychologische Erklärungsansätze

Aus der Flut von Erklärungsansätzen zum Rassismus und zur sogenannten Ausländerfeindlichkeit seien beispielhaft einige Ansätze herausgegriffen, die sich selbst als in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen denkend verstehen. Julian S. Bielicki (1993) versucht eine "Psycho-Analyse" des rassistischen Gewalttäters, Hiltrud Matthes (1996) will Rassismus bei Jugendlichen mit Konzepten von Spaltung und Projektion erklären. Bielickis Vorannahme bei der Analyse heißt: „Der erste und wesentliche Schritt ist meines Erachtens die Einsicht, daß wir es beim rechtsextremen Gewalttäter mit einem Menschen zu tun haben, der mörderische Haßgefühle hegt, die er selbst nicht kontrollieren kann und die er gegen andere Menschen, die ihm 'nicht passen', ohne jegliches Mitleid, ohne geringste Schuld- oder Schamgefühle, wenden wird" (Bielicki, 1993, S.187).

Der idealtypisch konstruierte "rechtsextreme Täter" wird durchgängig eingeordnet, festgezurrt, kategorisiert und abgestempelt mit allen psycho- und psychopathologischen Etiketten, die mindestens eine Langzeittherapie erfordern, aber ebenso eine Einweisung in die psychiatrische Anstalt rechtfertigen würden. Es bestätigt sich scheinbar die These Foucaults zur Psychologie als Normierungs- und Disziplinarmacht. Dazu ein weiteres Beispiel aus der Feder des Psychologen: „Die Vernunft aber gebietet, daß wir gegenüber den Rechtsextremen aggressiv werden müssen, wenn wir von ihnen nicht ermordet werden wollen. Der Rechtsradikale versteht nur konkrete Handlungen; Appelle und verbale Proteste helfen nichts. Der demokratische Staat muß konkret und nicht nur deklamatorisch tätig werden und eine konsequente standhafte Haltung bewahren. Er muß dem rechtsradikalen Gewalttäter fortwährend durch Härte klarmachen, welche Grenzen er nicht überschreiten darf. Ist der rechtsradikale Gewalttäter nicht fähig, diese Grenzen selbst zu erkennen, dann muß ihm zu dieser Erkenntnis verholfen werden, das fehlende innere Leitsystem muß durch ein äußeres ersetzt werden" (ebd., S.188).

Zudem erfahren wir außer über die biografischen Grundlagen "rechtsextremer Gewalttäter" (keine funktionsfähige Familie, eine unempathische Mutter, zu wenig dominante Väter) und ihre "psychische Störung" (Borderline-Persönlichkeit und Über-Ich-Pathologie) kaum etwas über den Weg, auf dem sie zu Rassisten wurden. Die Identifikation des Psy-Agenten (1) mit dem vergemeinschaftendem Staat wird ebenso deutlich wie die Dysfunktionalität des Rassisten für dieses System, dessen Grenzen er nicht anerkennt. Hiltrud Matthes identifiziert sich keineswegs mit dem Staat, übt vielmehr Kritik an den "ökonomischen und gesellschaftlichen Verunsicherungen" (Matthes, 1996, S.82), die in der Bevölkerung tiefgreifende Ängste verursachen würden. Verunsicherung und Angst führen nun dazu, daß sich "frühinfantile Lösungsmuster wie Spaltungs- und Projektionsneigungen reaktivieren und sich in gewalttätigen Reaktionsformen entladen" (ebd., S.83) Gespalten wird in Gute und Böse, mit den Guten das eigene labilisierte Selbst aufgewertet und auf die Bösen der eigene nicht zugängliche negative Anteil projiziert. Im Rückgriff auf Kernbergs Borderlinetheorie wird behauptet, Rassisten hätten schwache Ich-Grenzen, die sie leicht zu Projektion und Aggression greifen ließe. Die Lösung des Problems wird psycho-logisch ebenfalls auf der Ebene des Subjekts verortet: „Aus psychologischer Sicht ist es wichtig, die Jugendlichen darin zu unterstützen, die frühinfantilen Spaltungs- und Projektionsneigungen zugunsten realistischer Wahrnehmungsmöglichkeiten aufzugeben. ... Hier ist interdisziplinäre Jugendarbeit nötig, bei der u.a. LehrerInnen, SozialpädagogInnen und PsychologInnen in gemeinsamer Arbeit mit den Jugendlichen den Fremdenhaß und die Fremdenfeindlichkeit abzubauen suchen" (ebd., S.87).

Die Vorschläge bleiben widersprüchlich: Der jugendliche Rassist soll unterstützt werden, seine vielleicht gerade gefundene Identität in der Gemeinschaft der Guten wieder zu verlassen. Er erscheint in der Darstellung von Matthes als zurückgeblieben und seinen regressiven Mechanismen verhaftet . Matthes betont ausdrücklich, daß sie die jugendlichen Rassisten nicht pathologisieren wolle, sondern deren Mechanismen als notwendige Inhalte auf dem Wege zum Erwachsenwerden sehe. Aber was ist dann mit den erwachsenen Rassisten? Die Veränderung wird von innen nach außen gedacht, so, als müßte statt eines Zahnes das kindliche Psychoinstrumentarium aus dem Körper des Jugendlichen gezogen werden. Zudem wird das psychoanalytische Setting, in dem Kernberg seine Thesen entwickelte, umstandslos auf ein soziales, gesellschaftliches Phänomen angewendet. Dieses »Überstülpen« setzt die von Stuart Hall kritisierte scheinbare vernünftige Distanz zum Subjekt voraus, das selbst unvernünftig ist und ein falsches Bewußtsein, eine falsch organisierte Psyche hat. So erscheint der Jugendliche als passives Objekt seiner regressiven Wünsche und Mechanismen. Das psychoanalytische Setting zu übertragen bedeutet, "daß die Psychoanalyse die 'Seiten' der Subjektivität, die das Individuum zum Akteur seiner eigenen Lebensführung machen, seine Möglichkeit, aufgrund der 'Eigenlogik' der Lebensführung auf die Umweltbedingungen in relativer Autonomie aktiv zu antworten und diese ggf. zu beeinflussen, systematisch wegleugnen muß" (Holzkamp, 1995, S.830). Obwohl beide AutorInnen einen politisch-psychologischen Beitrag zur Klärung (und Überwindung) des Rassismus (2) leisten wollen, scheitern sie.

Nicht anders verhält es sich mit dem Versuch akademischer Psychologie, zum Phänomen Rassismus etwas beizutragen. Schneewind (1987) bearbeitet in seinem Beitrag zum Rassismus im Rundfunk dessen Entstehungsweise. Er behauptet, ein "alternatives theoretisches Konzept" (ebd., S.184) dazu entwickelt zu haben: Personen würden im Laufe ihrer Geschichte bestimmte Erwartungshaltungen entwickeln, , die in Kompetenzerwartungen (welche Kompetenzen habe ich, die zu einem Ziel führen) und Instrumentalitätserwartungen (welche Handlungen führen zum Ziel oder auch nicht) zu unterteilen seien. „Die verschiedenen Erwartungshaltungen werden im Laufe des Lebensgangs einer Person in unterschiedlichen Kontexten und unter unterschiedlichen sozialen Bedingungen gelernt und bestimmen somit das Verhalten, das eine Person in gewissen Situationen äußert. Wenn beispielsweise eine Person die Erfahrung gemacht hat, daß in zwischenmenschlichen Konflikten aggressives Verhalten zu dem Ergebnis führt, daß die andere Person sich zurückzieht und dieses obendrein noch positive Folgen hat..., dann wird diese Person vermutlich auch in Zukunft soziale Konflikte durch aggressives Verhalten zu lösen versuchen" (ebd., S.185). Eine ungenügende Kompetenzerwartung (Schneewind verweist auf ein niedriges Ausbildungsniveau), verbunden mit einer Ichbedrohung (z.B. Verlust des Arbeitsplatzes) würde nun zu "einer emotionalen Erregung und einem daraus resultierenden Handlungsdruck" (ebd.) führen. Bei einer externen Ursachenzuschreibung würde sich nun unter Umständen "Ärger oder Haß gegenüber einer als 'Sündenbock' fungierenden Bevölkerungsgruppe" (ebd., S.186) ergeben. Mittel der Wahl für eine "Taktik beim Umgang" (ebd., S.188) mit einem Rassisten sind demnach, diesem seine Inkompetenz deutlich vor Augen zu führen, die starken Affekte zum Abklingen zu bringen, damit es zu einer "differenzierteren und einsichtigeren Argumentationsweise" (ebd., S.189) komme und ihn als Individuum von seiner eventuell vorhandenen Gruppe zu separieren.

An diesem der sozial-kognitiven Lerntheorie entlehnten Erklärungsversuch ist ebenfalls eine -eher meachanistische- Beschreibung des subjektiven Innenlebens abzulesen, das in "gewissen Situationen" die Person dazu bringen kann, rassistisch zu werden. Die Außenwelt wird hierbei nicht einmal mehr als gesellschaftliche wahrgenommen, nur einige wenige Einzelfaktoren (wie z.B. ein Arbeitsplatzverlust) wirken punktuell auf psychische Mechanismen. Zugleich wird so getan, als wäre das Problem das Rassismus mit der ökonomischen Stellung des Subjekts und seiner Bildung gekoppelt, als gäbe es nicht auch einen wissenschaftlichen Rassismus oder einen "Rassismus der Eliten" (van Dijk 1991). Es entsteht der Eindruck, vernünftige, affektkontrollierte Menschen mit höherer Bildung müßten bei der Entstehung von Rassismus nicht mitgedacht werden.

Süllwold (1994) geht es in seiner quantitativ ausgerichteten Forschung darum herauszufinden, wie Probanden »Völker« beurteilen und inwieweit diese Versuchspersonen Beurteilungen aufgrund vorgegebener Merkmale »Völker« als ähnlich, näher oder weiter auseinanderliegend betrachtet werden. Der Autor behauptet, "daß sich der von uns beschrittene methodische Weg von den traditionellen Verfahren zur Ermittlung von Vorstellungen über vorherrschende 'Eigenschaften' einzelner Völker fundamental unterscheidet" (ebd., S.48). Ergebnisse sind: Die Polen sind in der Vorstellung der Versuchspersonen die Dreckigen, Unehrlichen und Faulen, die Deutschen sind die Besten in fast jeder Sparte (Fleiß, Höflichkeit, Toleranz, Intelligenz, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Tapferkeit usw.) und je nach Alter sind die Engländer beliebter oder unbeliebter. Die dargestellte Untersuchung kann nur als blinde Reproduktion vorherrschender Stereotypien bezeichnet werden, die bereits in die Fragestellungen eingehen: Wie kann man ein »Volk« beurteilen bzw. sinnhaft eine Frage stellen wie diese: "Welches der beiden Völker zeichnet sich ... durch mehr Sauberkeit aus?" (ebd., S.38). Der Autor versucht anfangs, den Gegenstand seiner Untersuchung, das "Volk", zu definieren: "Unter den individuellen Bezugsgruppen kommt dem Volk als Sprach-, Kultur- und Abstammungsgemeinschaft eine besondere Bedeutung zu. Psychologisch sind mit der individuellen Volkszugehörigkeit oft Einstellungen im Sinne von gefühlsbestimmten Grundhaltungen verbunden" (S.35). Davon abgesehen, daß Süllwold sich damit außerhalb des Rahmens des Grundgesetzes bewegt, weil dort als "formales Kennzeichen der Zugehörigkeit zum Staatsvolk .. das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit oder ein vergleichbarer Status" (Franz, 1992, S.237) angegeben ist, stellen sich durch seine Definition Fragen, die er methodisch erst klären müßte: Ab wann wird wer blutsmäßig (und was ist Abstammung anderes?) als Deutscher bezeichnet? Ist ein ungarischer Großvater Anlaß dafür, einen deutschen Staatsangehörigen aus dem Staatsvolk auszugliedern? Wie wird die Grenze zwischen bspw. Südostoberbayern und Tirol oder dem Salzburger Land gezogen, wo doch dort Sprache, Kultur und »Abstammung« kaum auseinanderzuhalten sind? Ist den Versuchspersonen die Unterscheidung zwischen Staatsvolk und dem abstammungs- und kulturbedingten Volksbegriff erläutert worden? Ist bei Engländern Großbritannien als Staat gemeint gewesen und sind damit walisische und schottische Großgruppen ausgeschlossen worden? Ist der Unterschied zwischen Nation und Volk erläutert worden? Die Fragen zeigen, daß Süllwold mit seiner Definition nichts anderes gelungen ist, als einen Begriff von Volk fortzuschreiben, der Grundlage für Ein- und Ausschließungsprozesse ist, unter denen Menschen seit der Bildung von Nationen leiden. Mehr noch: er re-etabliert einen Volksbegriff, der aktuell im völkisch-nationalen Lager zu finden ist. Am Schluß der Darstellung wird von Süllwold spekuliert und politisch Standpunkt bezogen: "Im Vergleich zu anderen Völkern sind die Deutschen mit ungewöhnlicher Häufigkeit ...Gegenstand kollektiver Beschuldigungen..." (S.49). Was dem Psychologen als ungewöhnliche Häufigkeit erscheint, wäre mit der Tatsache der von deutschen Staaten vom Zaun gebrochenen zwei Weltkriege zu erklären. "Erwägenswert ist die Hypothese, daß sehr ethnohostile Personen der Herrschaft des von ihnen wenig geschätzten Volkes eher ablehnend gegenüberstehen« (ebd.) ist eine der wenigen Hypothesen des Autors, die erforscht und erhärtet wurden. Anders ausgedrückt: Wenn ich die Polen schmutzig, faul und unintelligent etc. finde, will ich nicht, daß sie die Macht über mich haben. Daß es psychologischer Forschung solcher Art nicht bedarf, erklärt sich von selbst. Holzkamp (1994) kritisiert die verschiedenen hier gezeigten Ansätze im Sinne des schon erwähnten Stuart Halls, wenn er schreibt: „Im gegenwärtigen Diskussionskontext wird deutlich, daß die mit dem Einstellungs-Konzept einhergehende "Individualisierung, "Subjektivierung" des Rassismus-Problems keineswegs bedeutet, daß der Subjektstandpunkt der Betroffenen berücksichtigt wird. (...) Niemand redet von sich selbst als "Rassisten", sondern es werden dabei immer bestimmte "andere" konstruiert, denen rassistische Vorurteilshaftigkeit zugeschrieben wird, die aber selbst als Subjekte im wissenschaftlichen Diskurs nicht vorkommen" (ebd., S.42)

Davon ausgehend, daß Rassismus eine Struktur ist, die neben anderen gesellschaftlichen Aus- und Einschließungsstrukturen (Klassenfrage, Geschlechterverhältnis etc.) wirkt, zeigt Holzkamp, daß SchülerInnen nicht nur Subjekte (also TäterInnen) von rassistischen Ausgrenzungs- und Diffamierungsbewegungen gegenüber ethnischen Minderheiten sind, "sondern als Jugendliche, Mädchen, Behinderte etc. selbst auch potentielle Opfer der Ausgrenzung und Diffamierung durch andere" (ebd., S.54/55) sein können. Für die antirassistische Arbeit mit Jugendlichen ergibt sich daraus, daß es nicht darum geht, die je anderen besser zu verstehen, ihre Kultur kennzulernen usw., sondern die je eigenen Bedürfnisse artikulieren, fordern und durchsetzen zu können und um sich selbst nicht zu schaden, nicht daran mitzuwirken oder zuzulassen, "daß irgendwelche Menschen, also auch 'Ausländer' oder 'Schwarze' im herrschenden Diskurs als Menschen minderen Wertes und Rechtes ausgegrenzt werden" (ebd., S.57).

5. Erinnerte Ohnmacht - vergessene Macht

Im folgenden möchte ich eine selbstreflexive Methode im Rahmen psychosozialer Praxis vorstellen, die hilfreich ist, die je eigenen Haltungen besser formulieren zu können und einen Ausweg aus Ohnmachtssituationen und selbstfesselnden Praxen im Umgang mit Rassismus/Rechtsextremismus bieten kann. Ich werde einen zu einer konkreten Praxissituation geschriebenen Text eines Jugendgerichtshelfers vorstellen, der in einem Seminar über „rechtsextreme Jugendliche" zum Ausgangspunkt einer kritischen Überprüfung der subjektiven Konstruktion und Sichtweisen gemacht wurde: der Sichtweise auf die eigene Person als praktisch Tätige, der Sichtweise auf die Klientel (hier: sogenannte rechte, gewaltbereite Jugendliche) und der Sichtweise auf die der Praxissituation zugrundeliegenden gesellschaftspolitischen Konstellationen. Erinnerungsgeschichten haben wir deswegen geschrieben, weil eine Geschichte „die Summe gesellschaftlicher Urteile und Vorurteile, halbwissenschaftlicher Theorien, Alltagsmeinungen usw., die wir als Deutungsmuster heute in unseren Köpfen - unausgesprochen zumeist - herumtragen" (Haug, 1990, S.61), ist. Geschichten, die wir davon erzählen, was uns früher gelungen oder mißlungen ist, was wir erlebt oder erlitten haben, worüber wir stolz und glücklich oder traurig und verzweifelt sind: diese Geschichten sind meist nicht in sich konsistent oder kohärent. Die Kohärenz, also den inneren Zusammenhang, stellen wir erst nachträglich her, weil wir gelernt haben und es in unserer Gesellschaft eine Notwendigkeit zu sein scheint, sich als Person eindeutig und kohärent zu entwerfen, zu konstruieren. Unsere Geschichten leben von Bildern, die wir aus anderen Zusammenhängen ausleihen; sie leben von Stoffen, die wir zu einem großen überschaubaren und anschaulichen Bild vernähen. Die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten finden in diesen Bildern selten Platz. Deswegen befragen wir die geschriebenen Geschichten danach, an welchen Stellen wir Verknüpfungen unterlassen haben, andere hergestellt haben. „Da wir es gewohnt sind, unser Gleichgewicht durch schnellstmögliche Verdrängung, durch Überspielen und Vergessen aufrechtzuerhalten, ist dieser Versuch des Rückschreitens, des Bewußtmachens einer, der die üblichen Verarbeitungsweisen in Frage stellt und damit die Stabilität der Personen gefährdet" (ebd., S. 62). Die Gefährdung besteht darin, die in erinnerten Geschichten und Erzählungen angebotene Widerspruchsfreiheit aufzudecken. Darin besteht aber gerade die Chance der kollektiven Selbstbearbeitung solcher Geschichten: Im gemeinsamen Entdecken des je Vergessenen, Ausgelassenen, Nichtwahrgenommenen, ins Klischee Gezogenen und Harmonisierten ist die Möglichkeit eröffnet, die blinden Flecken unserer gesellschaftlichen Praxis ins Licht zu rücken und damit zu erkennen, wie Alternativen dieser Praxis denkbar, erfahrbar und machbar werden könnten. Es mag anfänglich irritierend sein, daß die erinnerten Geschichten in der dritten Person geschrieben sind. Diese Schreibpraxis hat folgenden Sinn: Obwohl es wichtig ist, daß wir gegen die entfremdenden Verhältnisse unser »ich« setzen, um nicht im Abstrakten zu verschwinden, ist es „in der Erinnerungsarbeit geradezu notwendig..., in die »dritte Person« zu gehen. Die Distanz ermöglicht es überhaupt erst, über die Vorgänge zu schreiben. Und gerade, weil wir gelernt haben, von uns und unseren Interessen weitgehend abzusehen, hat dies ... den Effekt, daß wir, schreiben wir von uns selber, uns nicht so viel Mühe geben, das meiste für entbehrlich halten, uns selber ungenügende Motive, Wünsche etc. zugestehen. Der Transport unserer eigenen Erfahrungen in eine dritte Person läßt uns sorgfältiger mit uns umgehen. Darüber hinaus ist der Blick, den wir von heute auf uns im Gestern werfen, ohnehin einer auf eine uns auch fremde Person" (ebd., S. 60). Hier der Text:

Als er in Schwierigkeiten mit einem „rechten gewaltbereiten" Jugendlichen kam.

Er saß in seinem Büro und erwartete im Rahmen der Jugendgerichtshilfe einen „rechten gewaltbereiten" Jugendlichen. Im Gespräch versuchte er den Jugendlichen zu seiner Straftat zu befragen und Hintergründe zu erfahren. Der Jugendliche blockte ab und bagatellisierte das Geschehen. Er ärgerte sich nach einer gewissen Zeit über die nicht vorliegende Gesprächsbereitschaft (alles aus der Nase ziehen!) und das Bagatellisieren des offensichtlichen Tathergangs und dachte: Wenn Du weiter auf blöd machst, habe ich keine weitere Lust mit Dir weiter zu arbeiten bzw. mit Dir gemeinsam Deine Verhandlung vorzubereiten. Dann soll Dich eben der Richter knallhart verknacken.

Damit das folgende etwas verständlicher wird, schlage ich zur Auswertung der Erinnerungsgeschichte Analysekriterien vor, die bereits erprobt sind (Abb.1).

Subjekt Tätigkeit Brüche Leerstellen Wider- sprüche Klischees Implizite Theorien Fragen

(Abb.1 : Kategorien zur Auswertung erinnerter Geschichten)

Unter der Kategorie des Subjekts geht es darum, wer das handelnde Subjekt ist und an welcher Stelle es im Satz steht. Die Tätigkeitskategorie fragt danach, in welcher Form die Autorin tätig ist und ob die Handlung im Aktiv oder Passiv konstruiert ist. Brüche in den Texten werden folgendermaßen beschrieben: „Geschichten brechen irgendwo ab und werden an anderer Stelle wieder aufgenommen. An den Rändern steht Vergessenes. ... Häufig sind Brüche so zusammengehalten, daß sie nur auf den ersten Blick ein harmonisches Ganzes zeigen" (Haug, 1983, S .35/36). Daneben existieren in den Geschichten Leerstellen: „Das Verschüttete und Liegengelassene spricht nicht mit lauten Worten. Umgekehrt müssen wir viel eher mit einem hartnäckigen Schweigen rechnen. ... Gemeinsam suchen wir Fehlendes und Entnanntes" (ebd., S .35). Eine weitere Kategorie subsumiert alle im Text gefundenen Widersprüche: „Transportiert in die sprachliche Form, werden die Widersprüche sichtbar. Es sind aber nicht bloß Widersprüche in der Sprache, sie sind also dort nicht lösbar. Wir nehmen sie als Aufforderung, an solchen Stellen weiterzuarbeiten, reale Widersprüche im Leben als solches anzugehen. ... Das harmoniebedürfnis ist ein arger Feind bei Erkenntnisprozessen. Zusammen mit dem Wunschdenken verschönert es die Unstimmigkeiten, verdeckt die Risse. Wir eliminieren die Widersprüche selbst um den Preis, daß wir Einseitigkeiten in Kauf nehmen, die unserem heutigen Wissensstand rundum widersprechen" (ebd., S .36). Neben den Widersprüchen sind häufig auch Klischees zu finden: „Die häufigste Form, in der Erinnerungen in Worte gebracht werden, ist das Klischee. Anders als die Sprachlosigkeit ist es unmittelbar geschwätzig. Es rechnet auf Einverständnis und verhindert dabei alles Denken und Begreifen" (ebd., S. 30/31). Unbewußt wird in der beschriebenen Erinnerung mit impliziten Theorien gearbeitet: „Die Geschichten beinhalten in der Regel Nahelegungen an die Leserinnen. Diese impliziten Theorien können die Meinungen der Autorin widerspiegeln, die Normen, mit denen sie konfrontiert wurde und die sie in der einen oder anderen Weise verarbeitet hat, sie können Maßstäbe an sich und andere darstellen oder aus Theorieversatzstücken bestehen" (Egartner & Holzbauer, 1994, S. 73). Zuletzt bleibt als Kategorie der Auswertung die der Fragen: „Jede Frage ist schon eine Vermutung über einen Zusammenhang und insofern eine erste Antwort" (Haug, 1983, S. 30/31).

Subjekt Tätigkeit Brüche Leerstellen Widersprüche Klischees Implizite Theorien
Er sitzen   befragen   offensichtlich Gesprächsbereit- schaft
  erwarten Erwarten Hintergründe Gespräch Tathergang Offenheit
  versuchen Gespräch Geschehen ./. abblocken   Veränderung
  ärgern   gewisse Zeit bagatelli- sieren    
  denken   Bagatelli- sieren      
Jugendlicher abblocken Gespräch offensichtlich mein Büro   auf blöd machen
  bagatelli- sieren Ende Tathergang deine Verhandlung   Strategie des Jugendlichen
        gemeinsame Vorbereitung knallhart  
Richter verknacken       verknacken  

 

(Abb. 2: Auswertung der Geschichte „Als er in Schwierigkeiten...")

Wenn wir die ausgewählte Geschichte mit den vorgeschlagenen Kategorien analysieren (3), kommen wir in einer ersten Annäherung auf folgende Konstruktionen (siehe Abb. 2): Der Jugendgerichtshelfer sieht sich in einer Gesprächssituation zwar als aktives Subjekt, die jeweiligen Aktivitäten (sitzen, erwarten, versuchen, ärgern, denken) sind jedoch entweder auf innerliche Prozesse bezogen oder auf Tätigkeiten der Ruhe und Erwartung. Wir könnten seine Selbstpositionierung vor und während des Gespräches also als selbstpassivierendes und reagierendes Handeln bezeichnen. Der Jugendliche dagegen wird als aktive Person erinnert, wobei sich seine Aktivitäten aus der Sicht des professionellen Beraters auf die Verhinderung des Gesprächs beziehen. Die paradoxe Konstruktion, den aktiven Anteil des Jugendlichen an der Situation als Inaktivität in Form einer mangelnden Gesprächsbereitschaft darzustellen, entspringt aus der widersprüchlichen Gesprächskonstellation. Der Schreiber benennt diese Widersprüche zwar (er bezeichnet die stattfindende Befragung des Jugendlichen und dessen Widerstand als Gespräch), er verarbeitet sie in seinem Erinnerungsversuch jedoch als subjektive Verweigerung des Befragten. Einen weiteren Hinweis auf den zugrundeliegenden Widerspruch zwischen den Interessen des Professionellen und denen des Jugendlichen gibt die Verwendungsweise der Possessivpronomen. Der Jugendliche kommt an den Arbeitsplatz des Beraters, den dieser zu seinem Eigentum, seiner innerlichen Heimat zählt. Assoziativ klingt im ersten Satz die Machtposition gegenüber dem Jugendlichen durch: auf Stuhl und Thron sitzend erwarten Herrscher und Könige ihre Untergebenen. Um diesen zuerst nur gefühlten Zusammenhang nicht als Spekulation abzutun, können wir die Methode der Umkehrung verwenden. Sehen wir uns also eine andere erinnerte Eingangssituation an, in der das Macht/Ohnmacht-Verhältnis nicht entnannt, sondern ausgedrückt ist:

„Martin (15) kam pünktlich zum vereinbarten Termin bei ihr im Büro an. Sie hatte ihm per Telefon diesen Treffpunkt vorgeschlagen, zum gegenseitigen Kennenlernen. Sie unterhielten sich über seine derzeitige Familiensituation zu Hause, da sie die Familie noch nicht persönlich besucht hatte".

Die Interessen der Beraterin werden in dieser Schilderung nicht als Leerstelle eingeführt. Sie will den Jugendlichen kennenlernen und etwas über seine Familiensituation erfahren, weil sie ihn noch kaum kennt. Und sie hat die Initiative zu diesem Gespräch übernommen. Obwohl hier - im Gegensatz zum erwartenden, sitzenden männlichen Kollegen - das Eigeninteresse benannt ist und damit auf die unterschiedlichen Interessen der am Gespräch beteiligten verweiesen ist, bleibt trotzdem der in beiden Fällen zugrundeliegende Widerspruch ungeklärt: dieser Widerspruch ist letztlich Grundlage für die bisher gefundenen Konstruktionen, Leerstellen und Klischees. Professionelle im psychosozialen Arbeitsbereich haben die Aufgabe, „Menschen im Interesse der Wiederherstellung ihrer relativen Handlungsfähigkeit und Absicherung ihrer Existenz zu re-integrieren" (Bader, 1984, S. 87), was im hier vorgeführten Falle der Jugendgerichtshilfe nichts anderes bedeutet, als einerseits die Jugendlichen darauf vorzubereiten, die Gerichtsverhandlung so schadlos wie möglich hinter sich zu bringen und andererseits nach § 43 des Jugendgerichtsgesetzes den Behörden und der Justiz durch die Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Beschuldigten" helfend zur Seite zu stehen. Da in unserem Fallbeispiel dieser grundlegende Widerspruch psychosozialer Arbeit im allgemeinen und im Bereich der Jugendgerichtshilfe im besonderen nicht thematisiert wird, entstehen in der nachträglich erinnerten Konstruktion Leerstellen und Widersprüche, die erst bei kritischer Reflexion als solche wahrgenommen werden können. Die jeweiligen Bruchstellen im Text markieren die strukturelle und inhaltliche Unklarheit des Autors über die Funktion des Beratungsgespräches im Rahmen seiner Tätigkeit. Obwohl das Beratungsgespräch ein „Zentralbegriff der Sozialen Arbeit" (Hottelet, 1996, S.102) ist, kann der Profi durch die erläuterte Widerspruchskonstellation und ihre Entnennung weder die Ziele, noch die Funktion seiner Tätigkeit klären. Diese Diffusität - und hier sind wir im Bereich der impliziten Theorien - und Unklarheit führten nun dazu, daß die zugrundeliegende Thematik der Gesprächssituation keinen Namen bekommt (wir erfahren an keiner Stelle etwas über das „Geschehen" oder den „Jugendlichen" und den „offensichtlichen Tathergang") und der Erfolg der Maßnahme daran gemessen wird, welches Verhalten der Jugendliche im Gespräch an den Tag legt. Eine der Theorien, die dieser Einschätzung zugrunde liegen, heißt: „Dein Verhalten im Beratungsgespräch ist der Indikator für Deine Schuld oder Unschuld und damit als Argument für das Strafmaß zu verwenden". Auf den ersten Blick erscheint es so, als habe die Individualisierung der sozial und politisch bedingten Konfliktsituation durch den Berater lediglich negative Konsequenzen für den Jugendlichen. Im widersprüchlichen Feld von Hilfe und Versorgung auf der einen und Disziplinierung, sozialer Repressions-, Befriedungs- und Integrationsinstanz auf der anderen Seite hat sich der Autor auf die zweite Seite geschlagen. Unser ansatzweises Einverständnis mit seinem Wunsch, der Richter möge den Jugendlichen verknacken, kann er lediglich über die negativ konnotierte Bezeichnung des Jugendlichen als „rechts" und „gewaltbereit" erzielen. Doch in der Erinnerungsgeschichte werden diese Eigenschaften weder erklärt noch belegt. Die politisch- sozialen Zusammenhänge, in die sich der Jugendliche hineinverstrickt hat, sind nicht erwähnt. Der abrupte Abbruch des Textes zeigt, daß die geschilderte Arbeitssituation des Schreibers keinen angenehmen Abschluß gefunden hat. Die Aggression und der Ärger beziehen sich nicht nur auf den Jugendlichen, sondern ebenfalls auf die scheinbar ausweglose Situation, in die sich die Beratung verfahren hat. Die textuelle Vereinheitlichung und Verunklarung von widersprechenden Anforderungen in der Tätigkeit als Jugendgerichtshelfer, die Entnennung von Widersprüchen und komplexen Anordnungen und damit die individualisierende Konstruktion des Jugendlichen und des Schreibers sind Grundlage einer Selbstfesselung, die zur Anpassung und letztlich zur resignativen Aufgabe führen. Insofern war für den sich erinnernden Praktiker die kollektive Bearbeitung seiner Geschichte eine beschwerlich-befreiende Möglichkeit, die Grundlagen und Grundannahmen seiner Arbeit in Frage zu stellen. Die Zerstörung, also Dekonstruktion, alter und uns fesselnder Bilder ist jedoch nur ein Anfang. Seine produktive Fortsetzung findet er in der gemeinsamen Veränderung der Erinnerung, unseres Denkens und Fühlens, und zuletzt in unserer Praxis. Erst diese Veränderung ermöglicht einen anderen praktisch-theoretischen Zugang zu rassistisch verstrickten Subjekten. Vor allem aber kann die Methode gemeinsamen Erinnerns in prekären (beruflichen) Situationen dazu beitragen, einem Eingehen auf den nahegelegten rassistischen Diskurs eine durchdachte Strategie antirassistischen Handelns und Sprechens entgegenzusetzen.

6. Was wir haben

„Was haben wir aber?", war die Frage Christian Geißlers angesichts einer bedrohten und für die Menschen bedrohlichen und ungastlichen Welt, in der viele dazu gebracht werden, in Unsicherheit und Unfreiheit zu leben. Und wir fragten danach, ob Psychologie hilfreich sein kann im Widerstand gegen rassistisches Denken und Handeln. Psychologie kann nichts zur Überwindung des Rassismus beitragen. Dieser Satz stimmt insofern, als Rassismus nicht überwunden werden kann und er stimmt auch nicht, weil Psychologie durchaus ihren Beitrag dazu liefern kann, die eigenen Verbindungen mit der rassistischen Struktur unserer Gesellschaft offenzulegen und in das Denken, Sprechen und Handeln in den Machtverhältnissen, von denen eines der Rassismus ist, verändernd einzugreifen. Dazu bedarf es allerdings einer Psychologie, die es nur in Ansätzen gibt: Eine Subjektwissenschaft, die in kritischer Reflexion die eigene Geschichte im Rahmen der Geschichte der Wissenschaften sieht; eine Wissenschaft vom Subjekt, die erst noch in Auseinandersetzung mit ihrer Funktion im gesellschaftlichen Kontext dem Individuum zur Subjektwerdung verhelfen könnte; eine Wissenschaft, die im Kampf der Individuen ums Überleben in schrecklichen Produktions- und Lebensweisen deren Glück (4) und (Selbst-) Liebe zum Thema hätte; eine Subjektwissenschaft, die die Spiele der Macht kennen müßte und sich entscheiden würde, ihre Regeln und Mechanismen den Einzelnen zu erklären anstatt sie zu verdoppeln. Diese Psychologie gibt es (noch) nicht. Den Zusammenhang von Subjektivität und rassistischer Struktur einer Gesellschaft zu denken, wäre deren Aufgabe. Dies ist der „Stoff für eine psychologische Lektüre, der allerdings erst noch geschrieben werden muß" (Weber, 1996, S.18).

Anmerkungen

Psy-Agenturen meint alle "Gesundheitsinstitutionen, die auf die Psyche einwirken" (Haug, 1986, S.70). Der Begriff ermöglicht, das Spannungsfeld von staatlichem Auftrag und subjektiver Selbsttätigkeit, in dem sich Psy-AgentInnen tummeln, zu verdichten.

»Rechtsextremismus« wird von mir als Kategorie abgelehnt, weil sie inhaltlich nicht benennen kann, wovon sie spricht (vgl. Weber, 1997, S.8)

Die Analyse besteht in der „Zergliederung" des Textes: Die einzelnen Worte oder Passagen der Geschichte werden z.B. farblich markiert und in die jeweils passende Kategorie eingetragen. Die gemeinsam diskutierte Auswertung der Kategorien ergibt neue Antworten und Themen, die das Selbst- und Weltbild der AutorInnen in Frage stellen und die Erinnerungsgruppe auffordern, die jeweiligen Konstruktionen der Vergangenheit zu überdenken und zu reformulieren.

Glück meint hier nicht das "eingeimpfte Glück über ein neues Auto" (Jacoby 1980, S.148), sondern die vorscheinende Möglichkeit eines Gefühls, das in herrschaftsfreien Verhältnissen die Beziehungen der Menschen (nicht nur einiger weniger) durchzieht und nicht im Gegensatz zur Erkenntnis steht.

Literatur

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Quelle: http://www.bdwi.org/bibliothek/weber2.htm

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