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ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 429 / 26.08.1999

Standort EU oder sozialistische Perspektive
DGB-Gewerkschaften und soziale Bewegungen

von Martin Rheinlaender

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Maastricht-Europa mobilisiert gegen und für sich die unterschiedlichsten Kräfte. Die Anti-Maastricht-Opposition in Deutschland setzt nicht zuletzt auf die Gewerkschaften, insbesondere auf die Gewerkschaftslinke. Dazu wird im folgenden aus links-gewerkschaftlicher Sicht kritisch Stellung bezogen - kritisch vor allem gegenüber den Perspektiven eines "Sozialen Europa", wie sie von der deutschen und europäischen Gewerkschaftslinken vertreten werden. Diesen Überlegungen liegt ein Redebeitrag bei der Veranstaltung "Soziale Widerstandsperspektiven im Euroland" am 6. Mai 1999 in Hamburg zugrunde.

Kein "Ende der Sozialpartnerschaft"

Zusammengenommen ergeben die gewerkschaftlichen Erfahrungen der letzten drei Jahre ein scheinbar paradoxes Bild. Zum einen haben wir mehrere Situationen regelrechter Massenmobilisierungen erlebt - 1996 die Demonstrationen gegen das "Spar"-Programm der Kohl-Regierung, dann im Herbst desselben Jahres eine höchst explosive Auseinandersetzung in der Metallindustrie (von einer Kraft wie seit den wilden Streiks Ende der sechziger Jahre nicht mehr), schließlich 1997 Mobilisierungen der Bergarbeiter usw., dann 1998 die Aktionstage der Erwerbslosengruppen. Zum anderen aber steht am Anfang und am Ende dieser Entwicklung jeweils das "Bündnis für Arbeit".

Das neue "Bündnis für Arbeit" ist die zentrale Plattform der SPD-Regierung, und wer die Stellungnahmen aus den Einzelgewerkschaften genau verfolgt, wird feststellen, daß dieses "Bündnis für Arbeit" faktisch alternativlos akzeptiert wird - wenn auch oft nur zähneknirschend. Grundlage dieses "Bündnis"-Konzeptes ist zweierlei: Erstens eine Reduzierung der staatlich vermittelten Regulation auf allgemeine Rahmenvereinbarungen (woran die Gewerkschaften zentral beteiligt werden), während die konkrete Arbeitszeit- und Lohnpolitik immer weiter "verbetrieblicht" wird. Zweiter Eckpunkt ist die absolute Prioritätssetzung von Marktanpassung: die sogenannte Wettbewerbsfähigkeit, also die Standort-Logik.

Der scheinbare Widerspruch - zwischen Mobilisierung einerseits (mitsamt der sattsam bekannten Rhetorik einer simulierten sozialen Bewegung) und einer Fortsetzung kooperativer Interessenvermittlung andererseits - läßt sich freilich auflösen. Es handelt sich nämlich in der Bundesrepublik keineswegs um ein "Ende der Sozialpartnerschaft", wie es die gewerkschaftliche und gewerkschaftslinke Rhetorik oft nahelegt, sondern darum, ein neues Sozialpartnerschaftsmodell auszuhandeln und, falls nötig, auch auszukämpfen. Dafür werden soziale Initiativen und Bewegungen, werden Protest und Widerstand instrumentalisiert. Zugespitzt gesagt handelt es sich darum, daß die Gewerkschaften aufgrund ihrer Legitimationskrise dazu verdammt sind, "Gegenmacht" zu mobilisieren, um sich selbst als "Ordnungsfaktor" gegenüber Staat und Unternehmerlager wieder ins Spiel zu bringen.

Das ist den DGB-Gewerkschaften tatsächlich auch gelungen. Alle Auseinandersetzungen seit 1996 haben schließlich bewiesen, daß es ohne die Gewerkschaften nicht geht, daß die Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik einen Frontalangriff wie das "Spar"-Programm der Kohl-Regierung 1996 nicht zulassen. Es sei denn, ein solches Programm stützt sich auf einen korporativen Konsens mit Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden, - was Heiner Geißler am Wahlabend im September 1998 als Hauptgrund für die Wahlniederlage der CDU einräumte. Der Ort dieses korporativen Konsenses ist nun gefunden. Es ist die "Neue Mitte" Schröders. Bei allen tiefgreifenden Krisenerscheinungen innerhalb der DGB-Gewerkschaften zeigt sich hier doch eine relative Stärke der gewerkschaftsoffiziellen Politik - relativ im Verhältnis zu anderen Ländern innerhalb der EU. Dies macht es dem DGB auch immer wieder möglich, sich in entscheidenden Situationen selbst zur "sozialen Bewegung" zu erklären bzw. deren Platz einzunehmen. So wie es Dieter Schulte 1996 sagte: "Der DGB ist die soziale Bewegung in Deutschland." Beihilfe kann die DGB-Führung dabei sogar von seiten der gewerkschaftlichen Linken erwarten, die bis heute nicht aufgehört hat, ausgerechnet dem DGB eine politisch vereinigende bündnispolitische Funktion - sozusagen als Dach verschiedener sozialer Bewegungen -zuzuschreiben bzw. diese einzufordern.

Die relative Stärke dieser gewerkschaftlichen Integrationspolitik hat freilich auch mit widersprüchlichen Ansprüchen zu tun, die von seiten der "Basis" an die DGB-Gewerkschaften gestellt werden. Zum einen wird von den Gewerkschaften erwartet, daß sie - gleichsam stellvertretend - eine aktive, manchmal auch polarisierende Rolle in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen spielen. Die Gewerkschaften haben hier ein ausdrückliches politisches Mandat und sind dabei so etwas wie eine sozialpolitische Ersatz-Partei der Lohnabhängigen, zumal wenn eine "ArbeitnehmerInnenpolitik" durch die SPD gar nicht mehr repräsentiert wird.

Umgekehrt geht aber auch von der "Basis" ein immenser Anpassungsdruck aus. Eine gewerkschaftliche Praxis, die sich der Standort-Logik widersetzt, kann sich heute de facto nur auf Minderheiten innerhalb von Branchen und auch von Belegschaften stützen. Es wäre also grundfalsch, die Widersprüche gewerkschaftlicher Politik einzig an den Führungen oder Apparaten festzumachen. Es handelt sich um Widersprüche, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen durchziehen. Das heißt, jede radikale Opposition kann zunächst einmal nichts anderes als eine Minderheit sein. Es kommt aber darauf an, daß diese handlungsfähig wird.

Europäische Perspektiven

Was heißt dies nun in europäischer Perspektive? Zunächst einmal gilt auch hier die Priorität der "Wettbewerbsfähigkeit". Insbesondere in exportstarken Branchen haben sich Gewerkschaften hier auch Vorteile durch die Wirtschafts- und Währungsunion versprochen. Immerhin fand Maastricht ja mehrheitlich Zustimmung innerhalb des DGB. Standortpolitik und korporative Interessenvertretung gehören auch in europäischer Perspektive zusammen. Die DGB-Gewerkschaften werden mehrheitlich mit der Bundesregierung das gemeinsame "nationale Interesse" vertreten. Damit befinden sie sich ganz im Trend einer zunehmenden Re-Nationalisierung der EU-Politik, also im Trend des Widerstreits nationalstaatlicher Einzelinteressen. Auch in dieser Frage werden sich die DGB-Gewerkschaften nicht so weit entfernt von großen Teilen der "Basis" befinden. Ein großer Konsens dürfte darin bestehen, daß die nationalen sozialen Standards, soweit sie in der Bundesrepublik noch Geltung haben, gehalten werden müssen. Aber so etwas wie eine gesamteuropäische soziale Perspektive, für die eben auch GewerkschafterInnen in der Bundesrepublik nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen mit-kämpfen müßten, bleibt wohl vorerst in weite Ferne gerückt. Eher ist das Gegenteil zu befürchten, nämlich eine noch stärkere nationalistische und auch rassistische Aufladung der sozialen Frage - wie in anderen Ländern der EU, wo Neofaschisten als Parteien des nationalen Sozialstaates fungieren. Diese abgrenzende und ausgrenzende Dynamik innerhalb der ArbeiterInnenklasse muß sich in der Bundesrepublik nicht zwangsläufig in Gestalt eines eigenständigen Rechtsradikalismus artikulieren. Interessenlagen und Wertorientierungen, die mit denen des offenen Rechtsradikalismus identisch sind, lassen sich heute im breiten Spektrum der sozialdemokratischen WählerInnenbasis wie auch innerhalb der Gewerkschaftsmitgliedschaft feststellen - eine Problematik, die erst seit kurzem offen innerhalb der Gewerkschaften diskutiert wird.

Demgegenüber deutet sich seit einigen Jahren innerhalb der Gewerkschaftslinken eine andere Position an, und zwar als durchaus positiver Bezug auf die EU-Integration. Im Zentrum steht dabei die Konzeption eines "Europäischen Sozialstaates", zu dessen bekanntesten PropagandistInnen nach 1995 Pierre Bourdieu geworden ist. Etwas vereinfachend gesagt handelt es sich hierbei um eine neo-reformistische Perspektive auf europäischer Ebene - eine Maastricht-kritische, eine "europakritische Europapolitik". Im Gegensatz zum Modell eines Nationalen Wettbewerbsstaates innerhalb von Maastricht-Europa wird hier de facto das Modell eines Europäischen Staates angestrebt, der die bestehende EU in zweifacher Weise reformieren und dabei ablösen soll: Zum einen soll die EU eine bürgerlich-demokratische Legitimation erlangen - etwa durch eine einheitliche europäische Staatsbürgerschaft, eine europäische Verfassung, die zur Stärkung des Europäischen Parlaments führen würde; zum anderen soll diese reformierte Staatlichkeit auch Garantin weitgehender sozialer BürgerInnenrechte werden.

Dabei ist den ProtagonistInnen dieser reformistischen Option durchaus klar, daß dies nicht ohne eine enorme Intensivierung und Ausdehnung sozialer Kämpfe und Bewegungen auf europäischem Terrain zustande kommen kann. Das wäre die Rückkehr des historischen "kämpferischen Reformismus" der alten nationalen ArbeiterInnenbewegungen, nunmehr auf europäischer Ebene. Auch wenn dafür ein "neuer Internationalismus" (Bourdieu) bemüht wird, muß man doch präzisieren, daß es sich hier vorrangig um die Vision einer "Europäischen Nation" handelt, zu der sich in sozialen Bewegungen und Kämpfen die ArbeiterInnenklassen Europas konstituieren werden.

Tatsächlich ist dies derzeit die einzig strategische Perspektive, in der sich ein breites politisches und gewerkschaftliches Spektrum der Linken über die Staatsgrenzen hinweg vereinigt. Das macht die Faszination dieser Orientierung aus. Von der Führung der IG Medien über italienische Kommunisten bis hin zu LinksgewerkschafterInnen von AC! oder SUD reicht dieses Spektrum. Diese Faszination hat auch noch mit etwas anderem zu tun: Mit dem Konzept einer europäischen oder zunächst transnationalen Sozialstaatlichkeit glaubt sich die Linke endlich aus der sogenannten "Globalisierungsfalle", aus der nationalstaatlichen Fesselung befreien zu können und hofft dabei, auf europäisch-transnationaler Ebene wieder so etwas wie eine wohlfahrtsstaatliche Regulationspolitik in Gang bringen zu können - wenn denn der soziale Druck von unten stark genug ist.

Das Problem besteht aber darin - und dies ist als Kritik auch schon in den bisherigen Debatten angemerkt worden -, daß man auf internationaler oder transnationaler Ebene nicht die Niederlagen kompensieren kann, die man sich seit zwanzig Jahren auf nationalem Terrain eingefahren hat. Die internationale Deregulierungsoffensive von seiten der Unternehmer und Staaten fand und findet in nationalstaatlicher Form und auf regionalem Terrain statt. Deshalb sei hier ein Einwand als These formuliert: Ein Europäischer Sozialstaat auf der Grundlage weitgehender sozialer BürgerInnenrechte kann und wird nur das Ergebnis von langen und schweren Klassenauseinandersetzungen sein können, von einer Radikalisierung, die schon im Ansatz die magere Utopie eines sozialstaatlich regulierten europäischen Kapitalismus überschreitet. Insofern birgt die neo-reformistische Perspektive eines "Sozialen Europa" möglicherweise eine Eigendynamik in sich, die den Horizont eines Europäischen Sozialstaates überschreitet.

Vorerst werden wir also auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen, auf die inneren Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik und darauf, wie sie sich im Prozeß der EU-Integration entwickeln werden. Die entscheidenden Auseinandersetzungen, auch wenn sie in sich einen internationalen Charakter haben, weil schließlich die neoliberale Offensive selbst ein internationales Projekt ist, - diese entscheidenden Auseinandersetzungen finden ja jeweils "vor Ort" statt. Also in der Bundesrepublik, in Frankreich, in Italien, in Britannien ... Und dabei sollten wir uns dessen bewußt sein, was früher schon KollegInnen und GenossInnen aus Italien anmerkten und was später Bourdieu GewerkschafterInnen in der Bundesrepublik sagte: Über die weitere Entwicklung von Maastricht-Europa wird maßgeblich in den sozialen Auseinandersetzungen hier in der Bundesrepublik entschieden.

Essentials einer radikalen sozialen Opposition

Um eine Art Fazit oder erstes Resümee als Schlußfolgerungen für eine gleichermaßen mögliche wie notwendige radikale soziale Opposition zu formulieren, hier einige Essentials, die lediglich erste Orientierungspunkte sein können, aber schon in den Erfahrungen der vergangenen Jahre begründet sind:

1. Auf absehbare Zeit werden wir uns darauf einrichten müssen, in der Position einer Minderheit zu bleiben, als Minderheiten zu agieren, die sich freilich zunehmend vereinigen. Auseinandersetzung um und Kampf gegen die Standortlogik ist auch eine massive Auseinandersetzung innerhalb der "Klasse" mitsamt zwangsläufigen Polarisierungen und neuen Fraktionierungen.

2. Um der Instrumentalisierung durch die gewerkschaftsoffizielle Politik zu entgehen, muß der Vorrang auf Selbstorganisierung gelegt werden, auf die Autonomie sozialer Initiativen und Bewegungsansätze. Das heißt nicht, daß eine institutionelle Praxis, etwa innerhalb der Gewerkschaften, nicht sinnvoll wäre. Sie ist es aber nur in Hinsicht auf eine Stärkung von Selbstorganisierungsprozessen.

3. Insbesondere die aktiven Linken innerhalb der Gewerkschaften müssen Schluß machen mit einer gewerkschaftlichen Praxis, in der die gewerkschaftliche Aktion sich selbst genügt. Das heißt, sie müssen damit beginnen, sich selbst als Teil einer gesellschaftspolitischen oder sozialpolitischen Linken zu begreifen, die - neben anderen Bereichen und Handlungsfeldern - auch in Gewerkschaften und Betrieben aktiv ist.

4. Es darf unter den eh nur schwachen Teilbereichsinitiativen keinerlei Privilegierung geben. Ob es sich nun um betrieblich-gewerkschaftliche oder Erwerbslosen- oder andere Sozialinitiativen handelt, - es muß völlige Gleichberechtigung gelten. Die minoritären Kräfte einer radikalen sozialen Opposition müssen schon heute das ganze Spektrum einer möglichen, zukünftigen sozialen Bewegung abbilden. Das setzt allerdings mehr voraus als reine Bündnisbeziehungen. Woran wir arbeiten müssen, das ist eine übergreifende, organisierte linke Strömung in allen sozialen Bereichen.

5. Als letztes, aber bedeutendes Essential ist hier noch zu nennen: ein bedingungsloser Internationalismus. Aber dieser Internationalismus konstituiert sich nicht primär über inter- oder transnationale Beziehungen (so wichtig auch Strukturen wie die der Euro-Märsche sein mögen). Dieser Internationalismus hat seinen praktischen Ort zuallererst hier in der Bundesrepublik. Ein Kernelement davon ist der Kampf für umfassende soziale BürgerInnenrechte, die für alle gelten, die auf diesem Territorium leben - eine andere, radikal-demokratische Bestimmung von BürgerInnenrechten: nämlich unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Ein Inter-Nationalismus, der nur eine neue Nation konstituiert, und sei es eine Europäische Nation, widerspricht einer solchen universellen Orientierung.

Zum Schluß bleibt die Frage, warum sich mittlerweile fast alle linken Strömungen derart an die sozialstaatliche Rhetorik angepaßt haben, daß immerfort nur noch von einem "Sozialen Europa" als Zielvorstellung die Rede ist. Warum nicht wieder damit beginnen, offen auszusprechen, worum es uns geht, auch wenn wir den Weg dahin und die sozialen Kräfte, die ihn beschreiten können, derzeit nicht konkret bestimmen können? Warum sprechen wir eigentlich nicht offen von Sozialismus, und zwar von einem Sozialismus ohne Grenzen - eine Perspektive, die nicht an den Grenzen eines "Sozialen Europa" haltmachen kann?

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