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Terroranschläge in Moskau

Wer und was könnte dahinter stehen?

Von Wladimir Wolkow
17. September 1999 aus dem Russischen (14. September 1999)
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Die Terroranschläge der vergangenen beiden Wochen in Moskau haben mittlerweile über 200 Menschen das Leben gekostet und sind in der Geschichte Russlands ohne Beispiel. Niemals zuvor haben derartig starke Explosionen, die gegen friedliche Menschen gerichtet waren, eine solch scharfe Reaktion der Herrschenden und auch die Empörung und Entrüstung der Bevölkerung ausgelöst.

Die erste Bombe explodierte am 31. August im Einkaufszentrum "Jägerzeile" unweit des Kremls. Der Sprengsatz entsprach 200 Gramm TNT und verletzte 41 Personen, von denen eine kurz darauf im Krankenhaus verstarb.

Fünf Tage später, am 4. September, explodierte in der dagestanischen Stadt Buinaksk in einem von Soldatenfamilien bewohnten Haus eine weitere Bombe. Unter den Trümmern zweier Aufgänge des fünfstöckigen Hauses fanden 22 Menschen den Tod und 80 wurden verletzt.

Nach weiteren fünf Tagen, in der Nacht vom 9. zum 10. September, zerstörte eine 400 Kilogramm Hexagenbombe ein ganzes Wohnhaus in der Moskauer Gurjanowstraße im Bezirk Petschatniki, tötete 90 Menschen und verletzte 300 weitere Personen.

Die letzte Detonation ereignete sich in den frühen Morgenstunden des 13. September, an dem Tag, der zum Trauertag für die Opfer der vorangegangenen Terroranschläge erklärt worden war. Die Explosion zerstörte in der Kaschiraer Chaussee ein ganzes Haus und riss über 120 Menschen in den Tod. Endgültige Angaben über die Anzahl der Todesopfer liegen noch nicht vor.

In allen Fernsehkanälen wurden Phantombilder eines Mannes gezeigt, der in den Häusern, in denen die letzten beiden Bomben explodierten, im Erdgeschoss liegende Geschäftsräume gemietet haben soll. In dem Pass, den er dabei vorgelegt habe, stand der Name eines gewissen Muchit Laipanow, von dem sofort festgestellt wurde, dass dieser im Februar diesen Jahres bei einem Eisenbahnunfall ums Leben gekommen war. Sein Pass war damals verschwunden.

Die Serie von Bombenanschlägen hat zu einer ungewöhnlich scharfen Reaktion Seitens der Herrschenden geführt. Es wurde die Durchführung schärfster Kontrollmaßnahmen vor allem in Moskau und an Objekten der Atomindustrie angekündigt. Präsident Jelzin ordnete ein "verschärftes Sicherheitsregime" auf Flughäfen, Bahnhöfen, Märkten und an anderen Knotenpunkten an. Der Präsident forderte vom Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow eine unverzügliche Durchsuchung aller Dachböden, Keller und leerstehenden Häuser in Moskau. "Wir wissen schon, wer die Tragödie auf dem Gewissen hat", erklärte Jelzin. "Der Name des Verbrechers lautet Terrorismus."

Premierminister W. Putin, der sich auf dem APEC-Gipfel in Neuseeland befand, reiste sofort nach Russland ab. Vor seinem Abflug erklärte er auf dem Flughafen, dass man die Organisatoren dieser Terrorakte nicht als Menschen bezeichnen könne: "Das sind nicht einmal Bestien, sondern Schlimmeres." Die Maßnahmen gegen sie würden ebenso grausam sein. "Bestien" ist im Armeejargon ein Synonym für Tschetschenen.

Die antitschetschenische Kampagne

In seiner Einschätzung der Ereignisse erklärte Präsident Jelzin, dass man "die Probleme nicht auf ethnischen oder religiösen Boden übertragen darf. Es ist unzulässig, Säuberungen unter nationalen Aspekten durchzuführen."

Dennoch waren die Terroranschläge nach Meinung aller führender Politiker und Massenmedien Russlands eine Antwort von tschetschenischen Terroristen auf die russischen Bombenangriffe in Dagestan. Gleich nach der letzten Explosion äußerte sich Moskaus Bürgermeister Luschkow in diesem Sinne. Auf einer Kremlsitzung erklärte Jelzin ebenfalls unumwunden, dass die Kampfhandlungen in Dagestan auf Moskau übergegriffen hätten.

Die russischen Politiker und Massenmedien begannen daraufhin eine offene antitschetschenische Kampagne. So berichtete die Zeitung Iswestja am 14. September wohlwollend, dass sich in einigen Bezirken Moskaus spontane "Bürgerwehren" gebildet hätten, die in den Kellern und Aufgängen der Wohnhäuser patrouillierten. Der Meinung der Zeitung zufolge habe sich "die Bevölkerung entschieden, selbständig das Schema ihrer Sicherheit auszubauen, nachdem sie verstanden hat, dass der Staat sie ihr nicht garantieren kann. Fassungslosigkeit und Angst gehen Stück für Stück in Hass über: die Parole ‚für jedes Haus in Moskau ein Dorf in Tschetschenien‘ ist äußerst populär geworden."

In Moskau begann die wirtschaftliche Verdrängung von Unternehmern, die aus dem Nordkaukasus stammen. Die Sicherheitskräfte organisierten sofort ein ganzes System von Repressalien gegen die tschetschenische Diaspora und einige tschetschenische Unternehmer, die eine herausragende Stellung im Geschäft mit Erdölprodukten, dem Showgeschäft, dem Einzelhandel usw. innehaben. Unternehmer, die verdächtigt werden, den tschetschenischen Kämpfern finanzielle Unterstützung zu gewähren, werden besonders schnell Opfer der Repressalien.

Der bekannte liberale Journalist M. Leontief, der zur Zeit den größten Fernsehsender ORT leitet, bezeichnete die Situation als "dritten Vaterländischen Krieg". Die Explosionen in der Hauptstadt seien die Folgen des Tschetschenienkrieges, "das Resultat von Budjonnowsk und davon, dass die Missgeburten Bassajews von dort mit allen Ehrenbezeigungen nach Hause begleitet wurden und man einen Friedensvertrag mit ihnen schloss. Das ist das Ergebnis des Friedens von Chassavjurt. Das ist das Ergebnis der Kapitulation vor diesem Banditenstaat."

[Während des Tschetschenienkrieges hatte Bassajew mit einigen Rebellen ein Krankenhaus im südrussischen Budjonnowsk besetzt und die Kranken und das Personal als Geiseln genommen. Die Geiselnahme wurde mit großen Zugeständnissen an Bassajew und die Tschetschenen gelöst. - d. Übers.]

Die Möglichkeit eines Ausnahmezustandes

In dieser Atmosphäre werden Appelle zur Ausrufung des Ausnahmezustandes immer lauter. Ihre wichtigste Quelle ist der Kreml. Um die Situation zu entspannen, erklärte Präsidentenvertreter A. Kotjenkow in der Duma zwar, dass die Ausrufung eines Ausnahmezustandes unwahrscheinlich sei. Dafür wären "bestimmte gesetzliche Bedingungen nötig - die Verfassung sieht die Ausrufung des Ausnahmezustandes nur auf der Grundlage eines föderalen Verfassungsgesetzes vor, aber ein solches Gesetz gibt es noch nicht", sagte er. "Die Erklärung des Ausnahmezustandes könnte in einzelnen Orten erfolgen, aber der Gesetzgebung entsprechend hätte das keinerlei Einfluss auf die Durchführung der Dumawahlen," hob er hervor.

Man muss aber die Frage stellen, wer an einer tiefgreifenden Destabilisierung des Landes interessiert sein könnte. Der russischen Verfassung entsprechend würden während eines Ausnahmezustandes alle Wahlen abgesagt und die Verfassung und mit ihr alle Rechte und Freiheiten der Bürger außer Kraft gesetzt.

Die jetzige Kremlführung einschließlich Jelzin selbst, seine Familie und seine nähere Umgebung befinden sich im Moment in einer ziemlich verzweifelten Lage. Innenpolitisch haben deren Gegner, die Opposition aus Nomenklatur und Oligarchen, der Block Luschkow-Primakow "Vaterland - Ganz Russland" in der jüngsten Zeit ein immer größeres Gewicht erlangt und werden in den bevorstehenden Parlamentswahlen bereits als die größten Favoriten gehandelt. Gleichzeitig steht der Kreml im Zentrum eines großen internationalen Korruptionsskandals, in den europäische und amerikanische Banken verwickelt sind.

Die zahlreichen Veröffentlichungen und Enthüllungen in den westlichen Medien zu diesem Thema werden von der russischen politischen und ökonomischen Elite als zielgerichtete Kampagne zur Diskreditierung Russlands als Staat betrachtet, womit entsprechend das Ansehen der größten Industrieunternehmen und Banken des Landes herabgemindert werden soll. Dabei droht Jelzin samt nächster Umgebung das nächste Opfer der Kampagne zu werden.

Wer steht hinter den Explosionen?

Die Selbstverständlichkeit, mit der die russischen Massenmedien diese Frage beantworten, obwohl die Umstände nicht vollständig geklärt sind, wirft eher die Frage auf, ob die Explosionen tatsächlich das Werk tschetschenischer Terroristen waren oder ob nicht auch der russische Geheimdienst seine Hände im Spiel haben könnte und geheime Hintergedanken des Kremls oder anderer einflussreicher Schichten der russischen herrschenden Klasse in die Tat umsetzt.

Bisher hat mit Ausnahme eines Telefonanrufs einer völlig unbekannten Organisation niemand die Verantwortung für die Anschläge übernommen. Obwohl im Fernsehen ständig Kriegserklärungen von Bassajew und Chattab wiederholt werden, in denen sie Vergeltungsmaßnahmen gegen Russland ankündigen, haben diese jegliche Beteiligung an den Anschläge zurückgewiesen. Ein solches Verhalten steht im Gegensatz zur üblichen Praxis bekannter Terrororganisationen wie der RAF in Deutschland, der IRA in Irland oder der baskischen ETA in Spanien. Diese haben ihre Terroranschläge für gewöhnlich so durchgeführt, dass jeder wusste, wer dafür verantwortlich war. Es wäre logisch, wenn Bassajew und Chattab, die einen offenen Krieg mit der russischen Armee führen, ebenso handeln würden, wenn die Anschläge tatsächlich ihr Werk wären.

Es ist schwer zu widerlegen, dass sie nicht die jüngsten Bombenleger waren. Doch inwieweit könnten sie daran interessiert sein? Wie könnten ihnen die Auswirkungen dieser Explosionen tatsächlich von Nutzen sein? Klar ist, dass massenhafte Opfer unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung eine weitere Verschärfung der Kampfaktivitäten gegen sie heraufbeschwören müssen. Solch brutale Massaker bringen den russischen Truppen Sympathien in der russischen - und selbst der nordkaukasischen - Bevölkerung ein und erleichtern ihnen eine Ausweitung des Krieges in Dagestan.

Andersherum sind unabhängig von den Differenzen innerhalb der russischen herrschenden Eliten alle Fraktionen an einer Stärkung der Staatsgewalt interessiert, um polizeiliche und militärische Möglichkeiten zur Lösung politischer Probleme zur Verfügung zu haben. Unter Bedingungen der Instabilität und Massenpanik lassen sich Maßnahmen durchsetzen, die unter "normalen" Bedingungen kaum zu realisieren wären.

Ähnliche Versuche gab es in der Nachkriegsperiode in einigen Ländern Europas. Italien wurde Ende der 70er Jahre von einer Welle von Terroranschlägen erschüttert, zu der sich nie jemand bekannte. Heute steht fest, dass eine rechte Verschwörung im Staatsapparat dahinter stand, die mit Hilfe einer Massenpanik eine politische Wende zur Militarisierung des Staatsapparates und zur Verschärfung staatlicher Repressionen herbeiführen wollte.

Bis jetzt sind noch keine unumstößlichen Beweise dafür vorgelegt worden, dass tschetschenische Terroristen für die Bombenexplosionen verantwortlich sind. Es besteht auch die Möglichkeit, dass Teile der russischen herrschenden Klasse oder die staatlichen Sicherheitsorgane daran beteiligt waren, wobei sie nicht notwendigerweise als direkte Organisatoren der Anschläge fungiert haben müssen. Wenn man in die Sowjetgeschichte zurückgeht, so wurde die Ermordung Kirows im Dezember 1934 auch von einem einzelnen Terroristen durchgeführt, obwohl dieser den Anweisungen des stalinistischen NKWD und somit dem direkten Befehl Stalins folgte.

In Russland mangelt es nicht an Publikationen, in denen von den langjährigen Verbindungen zwischen tschetschenischen Terroristen und einflussreichen politischen Kräften in Moskau die Rede ist. Während des Tschetschenienkrieges wurden Dudajews Truppen politisch und wahrscheinlich auch finanziell von Schichten neuer russischer Kapitalisten unterstützt, die in Opposition zu Jelzin standen. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass diese Verbindungen bis heute aufrechterhalten werden.

Auf einer Pressekonferenz erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Hauptabteilung für Wirtschaftskriminalität des Innenministeriums, General K. Schalenkow, wie die tschetschenischen Kämpfer finanziert werden. Schalenkow nannte mehrere Kanäle und bemerkte, dass auch über einige russische Banken Gelder flössen. Sollte das stimmen, muss man ganz anders an die Frage herangehen, wer in Wirklichkeit hinter dieser blutigsten Terrorwelle in der neuesten Geschichte Russlands steht.

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