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»Die DDR war nicht bankrott«
KONKRET-Gespräch
Siegfried Wenzel & Hermann Jacobs & Jürgen Elsässer
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Zur Mythologie der Wiedervereinigung gehört unverzichtbar die Behauptung, es sei die DDR schon aus ökonomischen Gründen zu ihrer Selbstabschaffung gezwungen gewesen. Siegfried Wenzel, bis 1989 zweithöchster Plankommissar der DDR, widerlegt die Legende
KONKRET: War die DDR, wie so oft behauptet wird, Ende 1989 bankrott?
Wenzel: Ganz eindeutig nicht. Was heißt überhaupt bankrott? Ein Parameter für einen Staatsbankrott könnte die ausbleibende Bedienung der Auslandsschulden sein. Einen solchen Offenbarungseid mußten 1995 Mexiko, 1997 die ostasiatischen Tigerstaaten oder 1998 Rußland leisten. In diesen Fällen mußte der IWF mit neuen Krediten einspringen, damit diese Länder weiter fällige Schulden zurückzahlen konnten. Das war bei der DDR nie der Fall. Bis zum letzten Tag ihrer Existenz bediente die DDR ihre Rückzahlungsverpflichtungen pünktlich.
Ein weiterer Parameter für einen Staatsbankrott könnte der Zusammenbruch des Schuldendienstes gegenüber den inländischen Gläubigern sein, also gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern des eigenen Staates. Das ist seit einiger Zeit in Rußland zu beobachten, wo der Staat ausstehende Löhne, Gehälter, Renten und Sozialleistungen nicht mehr bezahlen kann - oder nur noch mit mehrmonatigem Verzug. Auch das traf auf die DDR nicht zu.
Ein Maßstab für drohenden Staatsbankrott ist auch das Verhältnis von Devisenschulden zu Exporterlösen, die sogenannte Schuldendienstrate. Die internationalen Finanzmärkte setzen einen Staat auf die »schwarze Liste«, wenn er mehr Devisen in den Schuldendienst stecken muß, als er über seine Exporte erwirtschaftet. Wie sah das für die DDR Ende 1989 aus?
Auf den ersten Blick, aber nur auf den ersten Blick, gar nicht gut. Mit den Valuta-Einnahmen konnten wir 1989 nur noch 35 Prozent der notwendigen Valuta-Ausgaben - Kredittilgung, Zinsdienst, lebensnotwendige Importe - finanzieren. Der Rest mußte durch Aufnahme neuer Kredite gedeckt werden. Da die DDR aber, wie eben gesagt, als verläßlicher Schuldner bekannt war, haben wir diese Kredite immer bekommen.
Was aber viel entscheidender ist: Der »erste Blick« beruhte auf unvollständigen Zahlen. In der »Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen«, die dem Politbüro unter Krenz im Oktober 1989 von einer Gruppe verantwortlicher Wirtschaftsfunktionäre vorgelegt wurde, war die Höhe unserer Westverschuldung mit 49 Milliarden Valutamark angegeben. Der spätere Kassensturz erbrachte wesentlich niedrigere Zahlen. So wies die unverdächtige Deutsche Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom Juli 1990 aus, daß die Nettoverschuldung der DDR nur 24,7 Milliarden Valutamark betrug - also etwa die Hälfte der Summe, die im Oktober 1989 genannt wurde.
Woher kommt so ein gravierender Berechnungsfehler? Chaos in der Planwirtschaft?
Keineswegs. Hauptverantwortlich für den unterschiedlichen Ausweis war die verschachtelte Unternehmens- und Kapitalstruktur des Bereichs von Alexander Schalck-Golodkowski, der »Kommerziellen Koordinierung« (KoKo). Die KoKo hatte, ihrem Auftrag entsprechend, umfangreiche verdeckte Devisenrücklagen zur Sicherung der Staatsfinanzen und der Zahlungsfähigkeit der DDR gebildet, über die nicht nur die Staats- und Parteiführung, sondern offenbar auch Schalck-Golodkowski nur einen unzureichenden Überblick besaß. Hinzu kam das Auslandsvermögen der DDR-Botschaften, also etwa der Botschaftsgebäude und Grundstücke.
Also stand das Schalck-Imperium außerhalb der Planungshoheit des Staates?
Die Operationen der Schalck-Unternehmungen - soweit sie Betriebe und Kombinate der DDR betrafen - wurden in unseren Plänen berücksichtigt. Die ökonomischen Aktivitäten im Ausland und vor allem die dabei erzielten Ergebnisse waren nicht Planbestandteil. Sie unterlagen der Geheimhaltung. Der »Bereich Schalck« wurde nicht wie andere DDR-Unternehmungen, sondern als »Devisenausländer« behandelt - also etwa wie ein ausländischer Geschäftsmann, der in der DDR investiert.
Schalck-Golodkowski hatte Devisen gehortet, von denen die Plankommission nichts wußte?
Wir kannten zwar die exakte Höhe nicht. Aber die Existenz einer verdeckten Kasse selbst war nicht nur bekannt, sondern sogar erwünscht. Schalck-Golodkowski hat seine Dissertation in den sechziger Jahren über die Problematik der Devisenbeschaffung geschrieben, darin wurde das KoKo-System vorweggenommen, und dafür hat ihm Günter Mittag, das für Wirtschaft zuständige Politbüro-Mitglied, weitgehend freie Hand gegeben. Schalck-Golodkowski hatte den Auftrag, einen Rücklagenfonds anzulegen, mit dem wirtschaftliche Engpässe überbrückt werden konnten. Das hat offensichtlich funktioniert. Wenn Devisen zur Beschaffung notwendiger Investitionsgüter fehlten, ist er häufig eingesprungen und hat die Beschaffung finanziert. Als Anfang 1980 die sozialistischen Länder in eine Schuldenfalle zu laufen drohten, waren seine Rücklagen und Aktivitäten sehr wichtig für die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit der DDR. Die vom Bereich KoKo erwirtschafteten Mittel sowie die Einnahmen aus Zahlungen der BRD - beispielsweise aus der Transitpauschale - beliefen sich anfangs auf 700 Millionen Valutamark jährlich, danach regelmäßig auf zwei Milliarden.
Also war die DDR-Wirtschaft ohne Schalck-Golodkowski gar nicht lebensfähig?
Umgekehrt: Die »Einschüsse« in die Planzahlungsbilanz aus dem Bereich KoKo beruhten in erster Linie auf den Leistungen der Betriebe und Kombinate sowie der DDR-Volkswirtschaft insgesamt.
Mußte die Planungskommission nicht nach der Pfeife des wichtigen Devisenbringers tanzen?
Nein, das wäre völlig übertrieben. Allerdings verweigerte Schalck-Golodkowski bisweilen die Zusammenarbeit mit Kombinatsleitern und selbst mit stellvertretenden Ministern, wenn diese die mit ihm abgeschlossenen Verträge nicht pünktlich und mit der erforderlichen Qualität erfüllten.
Als im Oktober 1989 in dem erwähnten Bericht an das Politbüro von 49 Milliarden Valutamark-Schulden ausgegangen worden war - eine Zahl, die zur Alarmstimmung in der SED-Spitze beigetragen haben dürfte -, warum hat sich da Schalck nicht gemeldet und die Entscheidungsträger mit der Mitteilung beruhigt, er habe noch etliche Milliarden in petto?
Hat er. Er informierte noch im November 1989 gemeinsam mit der stellvertretenden Finanzministerin Herta König den neuen Ministerpräsidenten Modrow auf dessen Anforderung über die geheimgehaltenen Reserven der KoKo.
Nach dieser Unterrichtung ging die Modrow-Regierung nicht mehr von 49, sondern von 38 Milliarden Valutamark Westschulden aus - immer noch sehr viel mehr als die 24 Milliarden, die dann im Juli 1990 die Bundesbank errechnete. Offensichtlich hatte Schalck-Golodkowski nicht alles angegeben. Hatte er selbst die Übersicht verloren - oder lag ihm an der Stabilisierung der DDR nichts? War er nicht letzten Endes ein normaler Kapitalist?
Dafür habe ich keine Anhaltspunkte. Ich meine, daß er sich vorbehaltlos für die Erfüllung der mit der Bildung eines solchen Bereichs gestellten Aufgaben einsetzte. Daß das von ihm kontrollierte Devisenvermögen schließlich noch größer war als von ihm im November 1989 angegeben, könnte einen ganz profanen Grund haben: Oft kommt erst bei einer Totalinventur wirklich alles auf den Tisch. Die aber ist unter den Bedingungen eines laufenden Betriebes und sich überstürzender Ereignisse schwer möglich.
Gegen die Integrität Schalcks spricht doch zumindest der von ihm eingefädelte Strauß-Kredit 1983. War das nicht die Form von Auslandsverschuldung, die der DDR mehr schadete als nützte?
Dieser Kredit hat uns überhaupt nicht geschadet, denn wir hatten zum damaligen Zeitpunkt unsere Wirtschaft und auch die Zahlungsbilanz mit großen Anstrengungen konsolidiert. Zumindest hat sich im Zeitraum 1981 bis 1985 die Westverschuldung nicht erhöht. Zeitweise wurden jährliche Exportüberschüsse von zwei Milliarden Valutamark erzielt. Wie wenig wir damals in der Klemme waren, zeigt der Umstand, daß wir den Kredit der Kohl-Regierung, der auf den von Strauß vermittelten folgte, nur zu einem Drittel in Anspruch nahmen.
Warum ist die DDR dann überhaupt auf die Strauß-Offerte eingegangen?
Ein Kredit wie dieser, der zu normalen beziehungsweise sogar günstigen Bedingungen gewährte wurde, ist immer etwas Positives, und wenn er nur zur Ablösung ungünstiger anderer Kredite eingesetzt werden kann. Ich glaube aber, es waren vor allem politische Motive: Über den Kredit wurden die deutsch-deutschen Beziehungen befördert, Honecker - und übrigens auch Strauß - brachten sich so als Entspannungspolitiker ins Gespräch.
Aber vom Einzelfall abgesehen: Honecker war für die letztlich gefährliche Schuldenmacherei im westlichen Ausland verantwortlich. Stiegen nicht die Valutamark-Schulden in seiner Amtszeit von zwei Milliarden (1970) über elf Milliarden (1975) auf 28 Milliarden (1980)?
Das ist richtig, aber dafür trägt er nur zum Teil Schuld. Sein Credo von der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« ermöglichte einen Anstieg des Lebensstandards. Ulbricht hatte die Schwerindustrie und ehrgeizige wissenschaftlich-technische Projekte auf Kosten der Konsumgüterversorgung und des Wohnungsbaus forciert. Nach der Devise »So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben« wurden die Menschen auf die Zukunft vertröstet. Das schuf Ende der sechziger Jahre Unruhe. Bei Honecker sollte der Produktivitätsfortschritt der Bevölkerung unmittelbar zugute kommen, etwa nach dem Motto: »So wie ihr heute arbeitet, sollt ihr heute auch leben.« Das hat zunächst geklappt und führte zu einer inneren Stabilisierung der DDR Anfang der siebziger Jahre.
Gescheitert ist dieses Konzept an einer wesentlichen Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Bedingungen, besonders deutlich geworden am internationalen Ölpreis-Schock: In den siebziger Jahren erhöhten die Opec-Staaten sukzessive den Ölpreis - und alle anderen Rohstoffe zogen mit. Außerdem kürzte die UdSSR ihre Öllieferungen an die DDR von rund 20 Millionen Tonnen auf 17,5 Millionen Tonnen pro Jahr - um mit dem Rest selbst Devisen auf dem Weltmarkt zu erwirtschaften. Mußten wir 1970 nur 13 Rubel für eine Tonne sowjetisches Erdöl zahlen, so waren es 1985 168 Rubel - also das Dreizehnfache. Diese Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Situation führte zu Belastungen, die durch zusätzliche Leistungen über die bereits angespannten Pläne hinaus nicht ausgleichbar waren. Honecker hätte die DDR-Bürger informieren müssen, daß unter diesen Bedingungen Abstriche am ambitionierten Lebensstandardprogramm, darunter an den überdimensionierten Wohnungsbauvorhaben, unvermeidlich sind. Dazu war er nicht bereit.
Warum nicht? Auch im Westen wurde doch damals Konsumverzicht gepredigt. Ich erinnere mich an die flächendeckenden Sonntagsfahrverbote 1974.
Honecker wollte solche Konsequenzen der DDR-Bevölkerung nicht zumuten. Er stand ja auch unter dem Druck des hohen Lebensstandards in der BRD, der unter viel günstigeren historischen Bedingungen als in der DDR zustande gekommen war. Vielleicht hängt die mangelnde Bereitschaft zur Kurskorrektur auch damit zusammen, daß er getreu der Maxime »Die Partei hat immer recht« keine Abänderung der einmal verkündeten Linie zugeben konnte.
Trotz allem aber konnte die DDR Anfang der achtziger Jahre ein Zuschnappen der Schuldenfalle verhindern - anders als Ungarn, das sich damals dem IWF-Diktat unterwerfen mußte, anders als Polen und Kuba. Wir erreichten es unter anderem durch ein ehrgeiziges Programm zur Öleinsparung: So wurden etwa die Berliner Kaufhallen Anfang der achtziger Jahre nicht mehr über LKW-Zulieferung versorgt, sondern die Waren wurden nachts mit der Straßenbahn angeliefert. Von entscheidendem Gewicht war, daß unsere jährliche Braunkohleförderung, die schon 1980 die weltgrößte war, bis 1985 noch einmal von 258 auf 312 Millionen Tonnen, das heißt um 21 Prozent, gesteigert wurde. So erreichten wir eine Öleinsparung von sechs bis sieben Millionen Tonnen, mehr als ein Drittel unserer Importe aus der UdSSR - und dieses Öl verkauften wir dann, über den zollfreien Handel mit der BRD, in den Westen. Damit konnten wir selbst von den gestiegenen Ölpreisen profitieren und eine weitere Verschuldung vermeiden - in einer Phase, in der viele andere nichtkapitalistische Länder immer tiefer in die roten Zahlen rutschten.
Doch 1985 wendete sich das Blatt erneut zu unseren Ungunsten, und diesmal endgültig. Jetzt war es der Fall der Ölpreise, der unsere Handelsbilanz ruinierte: Der Barrelpreis gab um mehr als die Hälfte nach, unter anderem nachdem die Förderung des Nordseeöls aufgenommen worden war - und damit schrumpften auch unsere Einnahmen aus den Ölexporten in den Westen. Hatten wir von 1981 bis 1985 einen nicht unbeträchtlichen Exportüberschuß im Westhandel erwirtschaftet, so wuchsen umgekehrt in der Periode 1986 bis 1989 die Importüberschüsse - und damit die Verbindlichkeiten gegenüber dem Westen - schnell an.
Aber gleichzeitig hätte doch ab 1986 auch der Preis für das sowjetische Öl um die Hälfte fallen müssen - und damit wäre der Verlust mehr als ausgeglichen gewesen, denn die DDR-Ölimporte waren ja fast doppelt so hoch wie die -exporte.
Der Preis für das importierte sowjetische Erdöl blieb konstant, weil es zwar eine Vereinbarung im RGW gab, daß sich die Erdöl- und Erdgaspreise an den Weltmarktpreisen orientierten, diese Anpassung aber jeweils nur schrittweise über einen Zeitraum von fünf Jahren wirksam wurde. Was bei den Ölpreiserhöhungen in den siebziger Jahren günstig für uns gewesen war, wirkte sich nun beim Preisverfall fatal aus.
Hinzu kamen die ökonomischen Schwierigkeiten der Perestrojka. So schön die Ankündigungen von Gorbatschow klangen - die sowjetische Wirtschaft brach in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein, Lieferverpflichtungen an uns und andere RGW-Staaten wurden teilweise nicht mehr erfüllt. Das war eine tödliche Gefahr für die DDR, die ohne die Rohstoffe aus der UdSSR ökonomisch nicht lebensfähig war.
Mit anderen Worten: Die DDR war zwar 1989 nicht bankrott, wäre es aber ein paar Jahre später gewesen?
Schon 1986 mit der Ausarbeitung des Fünfjahrplanes 1986 bis 1990 wurde klar, daß der mit dem Preisverfall bei Erdölprodukten verbundene Devisenausfall ohne Eingriffe in die Konsumtion nicht auszugleichen war. Das aber war politisch nicht durchsetzbar. Auf Unterstützung aus der UdSSR konnte man nicht hoffen. So reifte der Gedanke, daß die DDR nur in einer Art Konföderation mit der BRD eine Zukunftschance haben könnte. Als ich mich unter vier Augen gegenüber dem Vorsitzenden der Plankommission Schürer 1986 entsprechend äußerte, nahm er das schweigend zur Kenntnis - er widersprach mir aber auch nicht. 1988 wurde diese Frage in einem Gespräch zwischen Schürer und Schalck-Golodkowski erörtert, zu dem ich als Verantwortlicher für die gesamtvolkswirtschaftliche Bilanzierung hinzugezogen wurde.
Leider gab es in der SED-Spitze nur begrenzt Ansprechpartner für solche Gedanken. Immerhin wurde die Idee gemeinsamer Olympischer Spiele in Ost- und Westberlin damals auch von Honecker gesprächsweise unterstützt. Und als die Plankommission ebenfalls 1988 eine reale Analyse unserer ökonomischen Lage vorlegte - Honecker hatte dazu den »Kleinen Kreis«, die mit Wirtschaftsfragen befaßten Politbüro-Mitglieder einschließlich Willi Stophs, einberufen - gab es zum ersten Mal keine Widerrede. Honecker wirkte nachdenklich wie nie. Er sprach davon, daß man mit der Vorbereitung des XII. Parteitages, der für das Frühjahr 1990 angesetzt war, die notwendigen Entscheidungen treffen müßte.
Eingangs sagten Sie, die DDR sei bis zum Schluß liquide gewesen. Warum dann trotzdem der Kurs auf eine Konföderation und schließlich auf die Wiedervereinigung?
Wir rechneten mit ernsthaften Zahlungsengpässen etwa ab dem Jahre 1991. Wir schätzten, daß wir zur Sicherung der Liquidität einen Bonner Kredit in Höhe von zwei bis drei Milliarden Valutamark brauchen würden. Der Kollaps für das Jahr 1989/90 ist also herbeigeredet und sollte nur die überfallartige Währungsunion und den Anschluß an die BRD rechtfertigen; aber im Prinzip gab es wirtschaftlich zu einer stufenweisen und langsamen Vereinigung, wie sie dann Modrow Anfang Februar 1990 mit dem Programm »Deutschland einig Vaterland« vorschlug, keine Alternative.
Keine Alternative? Rein theoretisch fallen mir wenigstens drei ein. Nummer eins: Dafür sorgen, daß die Sowjetunion die Perestrojka abbricht und wieder zu den stabilen Verhältnissen des Breschnewismus zurückkehrt. Dafür hätte es in allen RGW-Ländern und auch in der Sowjetunion Bündnispartner gegeben - jedenfalls 1986, als Sie und andere Wirtschaftsfachleute das Desaster zu ahnen begannen.
Es stimmt, wir waren skeptisch hinsichtlich der ökonomischen Konsequenzen der Perestrojka. Wir als Wirtschaftler haben frühzeitig anhand exakter Zahlen mitbekommen, daß unter Gorbatschow die Ökonomie den Bach runtergeht. Trotzdem wäre für uns die von Ihnen genannte Alternative völlig widersinnig und irreal gewesen, denn der wirtschaftliche Verfall hatte ja unter Breschnew begonnen.
Möglichkeit zwei: Der kubanische Weg. Die Sowjetunion hat ihre Öllieferungen an Kuba 1990 um achtzig Prozent zusammengestrichen, Kuba hat trotzdem überlebt.
Man kann die DDR nicht mit Kuba vergleichen. Kuba ist eine Insel, und das politisch-ökonomische Umfeld, die katastrophale Lage der Menschen in ganz Lateinamerika, ist völlig verschieden. Was dort möglich ist und einem große Hochachtung abnötigt, wäre in Europa unmöglich gewesen.
Möglichkeit drei: Sich die Kredite zur Überbrückung der Liquiditätsengpässe ab 1991 nicht von der BRD besorgen, sondern von Frankreich oder Großbritannien, die, im Unterschied zur BRD, die Wiedervereinigung ablehnten.
Stimmt, Mitterrand und Thatcher waren 1989 strikt gegen die Wiedervereinigung. Mitterand schreibt in seinen Memoiren, wie er im November zu Gorbatschow gesagt hat: »Was macht ihr denn mit der DDR? Wir wollen, daß sie bleibt!« Aber die Frage ist, ob diese Länder die für uns notwendigen Summen aufgebracht hätten.
Sie sprachen von einem Kredit in Höhe von zwei bis drei Milliarden Valutamark. Das ist keine Summe für ein Land wie Frankreich.
Ein französischer Kredit wäre wahrscheinlich auch eine zu starke Belastung für die Beziehungen zwischen Paris und Bonn gewesen. Die führenden Kreise der BRD wollten ja nicht die Erhaltung der DDR - selbst wenn es nur für wenige Jahre gewesen wäre -, sondern den schnellen Anschluß nach Artikel 23 Grundgesetz. Immerhin hat Mitterrand im Dezember 1989 mit seinem Staatsbesuch bei Modrow ein deutliches Signal für sein Interesse an der Eigenständigkeit der DDR gesetzt. Da hätte ihn Modrow wegen eines solchen Kredites fragen müssen. Offensichtlich hat er das nicht gemacht.
Mit Siegfried Wenzel sprachen Hermann Jacobs und Jürgen Elsässer
Jürgen Elsässer schrieb in KONKRET 9/99 über die Tribalisierung der Wirtschaft im Kosovo und anderswo; Hermann Jacobs' Studien zum Wert/Preis-Verhältnis in der DDR-Ökonomie wurden in KONKRET 11/97 (»Kommunismus mit Kohle«) vorgestellt.