Kanzler Schröders Anstandsschnitte

von Johannes Stockmeier
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„Einen Aufstand der Anständigen" fordert Bundeskanzler Gerhard Schröder nachdem jüngsten antisemitischen Anschlag in Düsseldorf. Spontan stellt sich bei mir Verwirrung ein: „Anständige" revoltieren nicht, dachte ich immer, und überhaupt schien mir Anstand immer eher auf ein Unterlassen hinauszulaufen -etwa die Anstandsschnitte, die man liegen lässt-, als auf ein Tun. Wenn jedoch ein Tun, dann jedenfalls eines, daß mit der Spontanität des Aufstandes sich nur schwer in Verbindung bringen lässt.

Eine zweite Frage drängt sich auf: gegen wen soll sich der Aufstand richten? Ein Aufstand richtet sich gegen eine herrschende Macht, entweder eine schon lange existierende, oder eine Usurpation. Ein Aufstand im Namen des Anstandes müßte sich also gegen die Herrschaft des Unanständigen erheben. Es ist dabei festzuhalten, daß wer zum Aufstand der Anständigen auffordert bereits davon ausgeht, daß das Unanständige herrscht. Inwiefern aber herrscht das Unanständige? Fordert Schröder zum Sturz seiner Regierung auf?

Wir haben Gründe anzunehmen, daß das nicht gemeint war. Oder ist die Aufforderung mit dem Eingeständnis verbunden, daß Schröder nicht mehr herrscht, sondern jene anonymen Kräfte, die für den Düsseldorfer Brandanschlag verantwortlich sind? Nun mal nicht so kleinlaut, Herr Bundeskanzler! Die staatlichen Exekutivorgane stehen Ihnen weiterhin zur Verfügung, im Kosovo wie an der Oder. Aber ich verstehe schon, daß Justiz und Polizei mit all den Brandstiftern, Bombenwerfern und Friedhofsschändern nicht fertig werden, das fällt nicht in Ihren Verantwortungsbereich, das fällt auf ein symbolisches Repräsentationsverhältnis zurück, daß irgendwie so geartet ist, daß die staatliche Exekutive dagegen machtlos ist.

Der Düsseldorfer Brandanschlag war also ein symbolischer Usurpationsakt der Unanständigen. Ich vertiefe mich nocheinmal in die Definition des Begriffes „Anstand". Anstand ist das Schickliche, die Konvention. Ein symbolischer Usurpationsakt stürzt die herrschende Konvention und errichtet an ihrer Stelle eine andere. Übertragen auf Düsseldorf heißt das: Kanzler Schröder hat klargemacht, daß die herrschende Konvention, die den Antisemitismus verdammt, gestürzt ist. Er ruft zum Aufstand auf, gegen eine antisemitische Gesinnung, die in Deutschland nunmehr en vogue ist.Ziemlich starker Tobak. Aber können wir ihn beim Wort nehmen?

Die Frage ist, wie und auf welche Weise sich ein symbolischer Aufstand zu vollziehen habe. Diesmal greife ich zum Wörterbuch: ‚Anstand‘, heißt es da,ist aus dem zusammengesetzten mittelhochdeutschen Verb ‚anstehen‘ gebildet und steht für Warten und Aufschub. Erneut Verwirrung, ein Aufstand als Aufschub? Dann gibt es da außerdem noch den Anstand des Jägers,den Hochsitz also, auf dem er geduldig wartet bis ihm das Wild vor die Flinte kommt. Na immerhin, wir nähern uns der revolutionären Praxis.

Da die mir die Etymologie nur eine Ahnung verschafft, versuche ich die   historische Reflexion des Begriffes ‚habitus‘, dessen Konotationen sich höchstwahrscheinlich in den deutschen ‚Anstand‘ hineingemischt haben. Der habitus war eine Verhaltensweise, die sich aus der systematischen Einübung bestimmter moralischer Praktiken innerhalb der katholischen ordo ergab. Ein unteilbares Konglomerat aus moralischer Selbstvergewisserung und Ordensdisziplin. Es konnte nicht ausbleiben, daß im Verlauf der Säkularisierung der habitus in den Bestand der bürgerlichen Tugenden aufgenommen wurde. Nicht ohne Modifikation. So verlagerte sich die Praxis vom moralischen habitus auf das Sittliche (ich mache hier Hegels Trennung von Sitte und Moral mit). Im Ideal des gentleman und des honett homme (den Pascal dann wieder zu remoralisieren versuchte) haben wir zum erstenmal die Bestandteile, die sich im deutschen Anstand niederschlagen, nämlich eine nur noch unbestimmte, verwässerte Moralität, dafür viel Konventionalismus und vor allem: Triebkontrolle. Im deutschen Anstand scheint sich im übrigen noch mehr von der ursprünglichen Ordodisziplin erhalten zu haben, im Gegensatz zu dem auf Selbstdisziplin reduzierten habitus des gentleman. Wahrte der gentleman ‚Anstand‘ noch im Sinne eines common sense, so tat er das dennoch als unabhängiges bürgerliches Individuum. Eine von oben herab diktierte Umdeutung dessen, was als common sense zu gelten hätte, hätte er nicht akzeptiert. Anders der viel stärker an den Feudalismus angelehnte deutsche Anstand. Nur dem ist es zu verdanken, daß die Disziplin die völlige Entledigung jeglicher moralischer Grundsätze zu tragen vermochte. Kontrolle der geltenden Normen von außen (von oben), Triebkontrolle von innen, das machte den Deutschen reif für den NS. Von nun an galt als Anstand nur noch die möglichst exakte Befolgung des Befohlenen und Angeordneten, in gentlemanhaftem Gleichmut, worum auch immer es sich handelte. Der „innere Schweinehund" mußte überwunden werden, gleichgültig ob es sich dabei um Trägheit, Skrupel,oder allzu exzessive Mordlust handelte.

Unvergesslich sind jene Worte, die einst Himmler nach dem Besuch des Vernichtungslagers an seine SS Chargen richtete: >>Von Euch werden die meisten wissen, was es heist, wenn 100 Leichen beisammen liegen,wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei -abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen- anständig geblieben zu sein,das hat uns hart gemacht.<<

Vom habitus ist nur noch die Immunität gegen jede spontane Regung geblieben, der Kadavergehorsam, der das als jeweils schicklich geltende unwillkürlich vollzieht. Anständig ist derjenige Massenmörder, der, nachdem er buchstäblich über Leichen gegangen ist, ungerührt das von Himmler verordnete Familienleben weiterführt, -unanständig derjenige, der etwas von seinen Erlebnissen in seinem täglichen Verhalten durchschimmern lässt.

Nachdem sich nach 1945 der während des NS etablierte common sense als nunmehr unvorteilhaft erwies, wurde der alten, verwässerten Moralität wieder zu Rang und Ehren verholfen. War dieser aber schon vorher nicht zu trauen,so hat man heute noch viel weniger Anlass dazu. Die Parole des Bundeskanzlers erhält von hierher ihre Bedeutung. Als common sense hat nicht mehr Antisemitismus zu gelten, ab jetzt ist Toleranz zu zeigen, Toleranz ist schicklich, nieder mit dem Schweinehund, rührt euch! Was als Rebellion formuliert wurde, ist der martialische Marschbefehl an Eltern, Erzieher und Journalisten, mit diesem, der Reputation der Regierung so schädlichen Ungeist aufzuräumen, und die rebellische Attitüde ist keine andere als es die jener im Gleichschritt marschierenden Rebellen war, die durch ihre Erhebung Ordnung und Anstand wieder in ihre Rechte einsetzen wollten.

Aber bitte: keine Exzesse! Sollte einer der Aufständischen gegen den Antisemitismus sich dazu hinreißen lassen, auch über das in Deutschland geltende Asylrecht nachzudenken, über Sinn und Unsinn von humanitären Militäreinsätzen, oder gar über die Eigentumsfrage,so haben wir dafür nur noch ein Wort übrig: unanständig.