Johannes Agnoli über Verfassungspatriotismus und Fundamentalopposition

Interview. Johannes Agnoli ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin und Theoretiker der Außerparlamentarischen Opposition

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Die Zukunft des Staates, der Ökonomie und der zivilen Gesellschaft werden heiß diskutiert. Eine prinzipielle Staatskritik wie die Ihre, die auf das Zerstören staatlicher Strukturen aus ist, findet dabei allerdings keine nennenswerte Anhängerschaft mehr.

Zerstören? Zwar sagt Marx in einer ‚Inauguraladresse‘ man müsse, um der Emanzipation willen, den Staat zerstören. Ich schlage für die gleiche Sache eine andere Bestimmung vor. Es geht darum, daß man neue Organisationsformen der Gesellschaft findet, die der Form Staat nicht mehr entsprechen. Der Staat ist auf Unter- und Überordnung gegründet, ist Ausdruck einer Politik, die sich als Herrschaft versteht. Was also überwunden werden soll, nenne ich etwas anders den objektiven Zwangscharakter unserer Gesellschaft. Die Tatsache also, daß unser gesellschaftliches Leben bedingt und bestimmt wird durch Strukturen, die einen Zwangscharakter haben. Diese Strukturen konkretisieren sich dann auf der politischen Organisationsebene als heutiger Staat. Was ja nicht immer der Fall gewesen ist, denn der Staat ist eine relativ moderne Erscheinung.

In der heutigen Zeit scheint es weniger um die Überwindung von Zwangsstrukturen zu gehen als um ihre Verschärfung. Die Gefahr der „Faschisierung“ ist da. Manche, die noch immer als links gelten, ziehen daraus den Schluß, man müsse einen Verfassungspatriotismus propagieren.

Verfassungspatriotismus kommt nicht von links, sondern ist die kluge Erfindung eines sehr klugen und sehr feinen Mannes, Dolf Sternberger. Der ist von Habermas gewissermaßen systematisiert worden. Ich habe zwar einmal über den Verfassungspatriotismus ironisiert als Ideologie des Verfassungsschutzes, aber ich lasse das Wort gelten für US-Amerika. Die sind Verfassungspatrioten, weil sie noch immer meinen, sie hätten die Verfassung geschaffen. Aber Verfassungspatriotismus in einem Lande, in dem das Grundgesetz praktisch oktroyiert wurde, ist eine ideologische Position. Daß ein Teil der Linken Frieden geschlossen hat mit dem bürgerlichen Verfassungsstaat, das geht in Ordnung. Ich erlaube mir zwar, sie anzugreifen, sie als Wendehälse zu bezeichnen, aber das ist ja keine moralische Verurteilung. Sie haben sich halt gewandelt. Dahinter steckt schon ein überzeugender Kern, nämlich die Position, daß die Linke auf einmal aufgerufen ist, den bürgerlichen Verfassungsstaat gegenüber dem Faschismus zu schützen. Das ist nicht meine Position, aber eine ehrenwerte. Es ist jedoch eine Position, die von Beginn an auf der Verliererseite steht. Es gibt ein Wort von Lassalle: Eine Verfassung, die verteidigt werden muß, ist keine gültige Verfassung mehr, hat keine Kraft mehr. Wenn man sich verfassungspatriotisch einbringen will in eine Bruchsituation der Konfliktualität, dann hat man schon verloren. Entweder lebt eine Verfassung aus dem Konsensus oder sie ist nichts.

Ein ähnliches Problem auf einer konkreteren Ebene ist, daß Linke in den letzten Jahrzehnten das, was den heutigen Sozialstaat ausmacht, kritisiert haben. Und doch haben wir heute das Problem, daß die Errungenschaften, die mit diesem Staat verbunden sind, weiter ausgehöhlt werden.

Das ist das gleiche Problem. Man muß zwei Dinge unterscheiden. Auf der einen Seite muß man verteidigen, was wir - was auch ich - früher kritisiert haben. Aber was ist der Sinn dieser Verteidigung? In einem kritischen Handeln muß man immer die Bruchsituation erkennen, in die man sich hineinbegeben kann. Es geht nicht darum, daß man jetzt den Sozialstaat verteidigt, den man früher kritisiert hat. Es geht darum, daß man sieht, jetzt entsteht eine Bruchsituation, die nicht nur Ideen und Prinzipien betrifft, sondern die Lebensbedingungen von Millionen Menschen. Also muß man sich überlegen, was in einer solchen Bruchsituation zu tun ist. Es geht also um mehr als nur um die Verteidigung des Sozialstaats.

Das Problem geht viel tiefer. Nehmen wir jenes berühmte Marx-Wort, daß nicht die Befreiung der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit das Ziel ist, die Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf ein Minimum. Diese Perspektive aufrechtzuerhalten in einer Zeit, in der die Menschen nach Arbeit hungern, um überhaupt weiterleben zu können - das ist natürlich ein Problem. Solche Probleme muß man sehen und nicht einfach sagen: Ach was, wir bleiben beim Prinzip der Befreiung von der Arbeit. Die Linken gehen sehr häufig nicht von der Wirklichkeit aus. Sie gehen immer entweder von Zukunftsvorstellungen oder von vergangenen Positionen aus. Aber die Hoffnung, daß es anders wird, hängt eben auch damit zusammen, daß es so auf keinen Fall weitergehen kann. Die Strukturen dieser Gesellschaft sind nicht mehr tragfähig, nicht mal mehr tragfähig innerhalb der Wohlstandsgesellschaft des Westens und wir wissen wirklich nicht, was weiter passiert. Diese Gesellschaft muß allemal geändert werden und die Frage ist, ob sich die Änderung übersetzt in eine härtere Form der politischen Machtausübung. Das ist meine Befürchtung.

Wenn Linke eine Aufgabe nicht haben, dann einen offensichtlich brüchig gewordenen Verfassungsstaat zu verteidigen. Man muß jetzt überlegen, was geschehen muß, was geschehen kann, damit ein anderer Weg eingeschlagen wird und nicht der Weg der Macht. Das Kapital ist eine ernsthafte Sache, keine Spielerei, keine belanglose Größe. Wir wissen nicht, wie die Herrschenden in dieser Gesellschaft reagieren, wenn ihre Position gefährdet ist. Wir haben es ja nicht mit kleinen Gruppen von Anarchisten zu tun, die versuchen die Gesellschaft zu zerstören. Wir haben es mit einer viel größeren Quantität, einer Qualität zu tun, die sich da in Bewegung setzt, in Bewegung setzen kann. Vorläufig bewegt sie sich nicht.

Ende der sechziger Jahre sahen Sie Chancen einer Fundamentalopposition, die sich des Parlaments noch bedienen könnte. Zwanzig Jahre danach waren Sie Pessimist und bekannten sich zur Anti-Politik.

Anti-Politik auf keinen Fall, das ist mir untergeschoben worden. Anti-Politik wäre eine abstrakte Negation, hieße, sich mit der Politik überhaupt nicht mehr zu befassen. Die Kritik der Politik im Sinne Kants und Marx‘ ist etwas anderes, heißt: beschreiben, analysieren, wie die politische Macht funktioniert, zu welchem Zweck und mit welcher Perspektive. Die Macht ist als solche abzulehnen, aber nicht in der Form der radikalen abstrakten Absage, sondern in der Form, daß man kritisch überprüft, wie sie funktioniert, wie die Institutionen funktionieren. Um auch das andere Problem zu klären: Ob es möglich ist, innerhalb der Institutionen zu handeln oder nicht. Ich habe früher eine Fundamentalopposition in Aussicht gestellt, die parlamentarisch tätig ist. Inzwischen bin ich zu der Ansicht gekommen, daß dies innerhalb der Institutionen nicht möglich ist, daß die Institutionen stärker sind als ein reformerischer Wille. Das Institutionensystem ist ein Machtsystem objektiven Charakters, das nicht abhängt von den Menschen, die in ihm sind. Das gilt auch für die Parteiform.

Eine Organisation, die sich die Emanzipation zum Ziel setzt, muß dazu in der Lage sein, im Vorlauf zu diesem Ziel, selber Emanzipation zu verwirklichen. Eine Organisation, die, um die Emanzipation zu erzielen, sich eine hierarchische Struktur gibt, wird unmöglich dieses Ziel erreichen. Gerade die Geschichte der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zeigt das.

Eine politische Organisation, die eine Gesellschaft der Freien und Gleichen will, in ihrer eigenen Organisation aber weder Freiheit noch Gleichheit kennt, sondern nur Hierarchie und Befehlsstrukturen, die wird dieses Ziel nicht erreichen. Wie das zu erreichen ist, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß dies geschehen soll.

Ebenso bei der gesamten Gesellschaft. Die Überwindung des Zwangscharakters der Gesellschaft ist ein langer Prozeß, weil erst in diesem Prozeß sich die neuen Organisationsformen entwickeln können, die in der Lage sind, den Zwangscharakter zu überwinden. Wenn man mich nach einem Modell fragt, nenne ich immer das Rätemodell. Doch genau läßt sich dies nicht beschreiben.

Adorno sagte, es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Darauf hat dann Peter Brückner geantwortet, es gäbe aber ein richtigeres Leben.

Ja, richtig. Wenn es kein richtiges Leben im Falschen gibt, dann können wir uns auch in unser Gärtlein zurückziehen und Tomaten pflanzen. Dann gibt es ja keinerlei Aussicht auf Emanzipation, auf Verbesserung und Richtigstellung des Lebens. Das ist natürlich schwierig, denn selbst die italienischen Anarchiker - sie heißen Anarchiker, denn Anarchismus ist doktrinär - leben in der Konsumgesellschaft. Auch sie sind nicht dazu in der Lage, eine geldlose Gesellschaft innerhalb der bürgerlichen herzustellen, was die Aussage, es gäbe kein richtiges Leben im Falschen, eigentlich bestätigt.

Deshalb wiederhole ich eine alte Formulierung von mir immer bis zum Überdruß: Daß es auf die alltägliche Orientierung ankommt. Wenn du dich vom Alltag bis zu den höchsten kulturellen Sphären am Prinzip orientierst, daß es allemal Herrscher und Beherrschte geben soll, wirst du deinen Alltag anders organisieren, als wenn du der Utopie einer Gesellschaft der Freien und Gleichen anhängst. Daß dies ein schwieriges Geschäft ist, ist klar. Wenn es nicht so schwierig wäre, hätten wir längst Freiheit und Gleichheit erreicht. Mit der Orientierung am Telos von Freiheit und Gleichheit selbst in dürftigen Zeiten, läßt sich das alltägliche gesellschaftliche Zusammenleben zwangloser und menschlicher gestalten. Es geht dabei aber nicht nur um das richtigere Leben unter den Zwängen des Kapitalismus. Dadurch wird zudem die Möglichkeit neuer Aufbrüche bewahrt, in denen der Mensch sein Leben in die eigenen Hände nimmt und für sein freies Glück kämpft.