Freidenker 1-99

Newton und die Dialektik
von Dr. Rainer Eckert, Frankfurt am Main 

 10/00  
trdbook.gif (1270 Byte)  
trend
online
zeitung
Briefe oder Artikel: info@trend.partisan.net  ODER per Snail: Anti-Quariat 
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin

Newton wurde (nach dem damals in England gültigen Julianischen Kalender) im Jahre 1642 geboren, im Todesjahr von Galilei. Der zufällige zeitliche Anschluß der Daten gewinnt in der Rückschau mehr als bloß symbolische Bedeutung. Die Lebenszeit dieser beiden überdeckt ein Zeitalter, welches für die Wissenschaftsgeschichte so bedeutende Persönlichkeiten hervorbrachte wie Tycho Brahe, Giordano Bruno und Kepler, wie Descartes, Fermat und Huygens, wie Bacon, Hobbes, Leibniz und viele andere. Diese Namen waren zu ihren Zeiten und sind noch immer (natur-)wissenschaftlich-weltanschauliches Programm: Bei Newton und seinen Zeitgenossen vollzieht sich die endgültige Emanzipation der Wissenschaften. Noch werden Hexen verbrannt, aber die großen Geister der Zeit huldigen der Rationalität. Sie repräsentieren, wie Hegel es genannt hat, eine Periode des denkenden Verstandes.

Newton contra Mittelalter
Newton hat Grundlagen der modernen Mathematik gelegt und hat sich grundlegend mit Problemen der Optik beschäftigt, er hat die Theorie der Schwerkraft (Gravitation) konzipiert und die Dynamik, die Kraft- und Bewegungsgesetze, in ihrer heute fast unverändert benutzten Form geschaffen. Der Kern der newtonschen Dynamik läßt sich (für den vorliegenden Beitrag) in wenigen Worten zusammenfassen:

  • Ein Körper bleibt in Ruhe oder er bewegt sich mit unveränderter Geschwindigkeit geradlinig weiter, wenn er nicht durch Kräfte dazu gezwungen wird, seinen Bewegungszustand (der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung) zu ändern (Trägheitssatz).
  • Wirkt eine Kraft auf einen Körper, so wird dieser beschleunigt (d. h. seine Geschwindigkeit ändert sich), und diese Beschleunigung ist proportional zur wirkenden Kraft (Grundgesetz der Dynamik).
  • Wirken zwei Körper aufeinander ein, so ist die Kraft, mit der der erste Körper auf den zweiten wirkt, stets genauso groß (allerdings entgegengesetzt gerichtet) wie die Kraft, mit der der zweite Körper auf den ersten wirkt (Wechselwirkungsgesetz).

Zu diesen drei sogenannten newtonschen Axiomen tritt das Gesetz der Schwerkraft, das Gravitationsgesetz hinzu:

  • Zwei Massen ziehen sich wechselseitig mit einer Kraft an, die proportional zu den beiden Massen ist und die mit dem Quadrat des Abstandes zwischen ihnen abnimmt. (Was beispielsweise heißt: Verdoppelt man den Abstand zweier Massen, so sinkt ihre wechselseitige Anziehungskraft auf ein Viertel.)

Diese (hier in popularisierter Fassung angegebenen) Gesetze gestatten, in Verbindung mit einer Reihe später entdeckter und ausgearbeiteter Folgerungen, die theoretische Analyse eines beträchtlichen Bereichs der physikalischen Realität, vor allem von Bewegungen materieller Objekte im Raum, zum Beispiel Fall- und Wurfbewegungen, Pendelbewegungen, Wellenvorgängen in Flüssigkeiten, Deformationen elastischer Körper, Umläufen der Planeten und Kometen um die Sonne wie auch Bewegungen anderer kosmischer Objekte durch das Universum; nicht zuletzt resultieren aus diesen Gesetzen und ihren Konsequenzen tiefgehende Einsichten in den relativ stabilen Zusammenhalt unserer "Milchstraße" wie anderer komplexer Ansammlungen von Sternen u. v. a. m.

Newton fand zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zahlreiche grundlegende Ergebnisse der Physik, insbesondere auch der Mechanik, bereits vor. Die Bahnen der damals bekannten Planeten waren vermessen, Bewegungen entlang einer schiefen Ebene, Wurfbewegungen, Pendelbewegungen, Stoßvorgänge und viele andere mechanische Prozesse waren als Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchungen bekannt und ihre Inhalte als Gesetzmäßigkeiten zum Teil bereits mathematisch formuliert. Bewegungsgesetze, die sich aus heutiger Rückschau als rohe, unvollständige Vorformen der newtonschen Fassung darstellen, waren bereits von Galilei, von Descartes, von Huygens u. a. ausgesprochen worden. Dies alles konnte Newton aufnehmen, systematisieren, unter dem "Dach" einer einheitlich begründeten physikalisch-mathematischen Theorie zusammenfassen, damit eleganter, schlüssiger formulieren und in seinen inneren Zusammenhängen deutlicher werden lassen.

Was aber macht weit darüber hinaus Newtons Besonderheit in der Geschichte der Physik und seine grundlegende Bedeutung für die modernen Naturwissenschaften bis heute aus? Die Frage ist zu beantworten, wenn man einen (hier notwendigerweise knappen) Blick auf die Geschichte physikalischer Theoriebildung vom griechischen Altertum bis in Newtons Zeiten wirft. Aristoteles hatte theoretische Grundlagen der Dynamik geschaffen, für die zwei fundamentale "Schnitte" bestimmend waren. In der (nach der philosophischen Schule des Aristoteles so benannten) Peripatetischen Dynamik wurde strikt unterschieden zwischen "Bewegungen der Himmelssphären", kosmischen Bewegungen "nach einer ewigen Weltordnung" einerseits und irdischen Bewegungen andererseits, zwischen denen kein Übergang, keine Wechselwirkung zu denken war. Dieser "Schnitt" war weltanschaulich begründet, er resultierte aus unterschiedlichen philosophischen, naturwissenschaftlichen und ideologischen Motiven (denen hier nicht weiter nachzugehen ist) und war eingebettet in das relativ geschlossene aristotelische Bild vom Weltganzen und seiner Ordnung. Dieses wirkte über das gesamte europäische Mittelalter im physikalischen und philosophischen Denken prägend, wobei in jenem mehr als eineinhalb Jahrtausende währenden (wissenschafts-)geschichtlichen Prozeß originär von Aristoteles formulierte Gedanken und Positionen mit nachfolgenden aristotelischen (peripatetischen) Modifikationen in Verbindung mit zahlreichen Denkrichtungen des Mittelalters zur christlich-aristotelischen Tradition wurden, dem eigentlichen Widerpart neuzeitlicher moderner Wissenschaft.

Aus dieser Tradition heraus galt Aristoteles bis in Newtons Zeiten weitgehend als Autorität und selbstverständliche Berufungsinstanz. Selbst Kopernikus erweist sich in der Formulierung seiner revolutionär neuen Auffassungen zum Sonnensystem als christlicher Peripatetiker: Die berühmte "Kopernikanische Wende", die die Sonne ins Zentrum der Planetenbewegung rückt, enthält noch die aristotelische Auffassung von "Kristallsphären" als Ort der Fixsterne.

Der zweite wesentliche "Schnitt" der aristotelischen Dynamik betrifft irdische Bewegungen. Hier wurde seit Aristoteles unterschieden zwischen "natürlichen Bewegungen" einerseits und "erzwungenen Bewegungen" andererseits. Als "natürliche" wird in der peripatetischen Dynamik jede Bewegung betrachtet, die aufgrund der "natürlichen" Weltordnung und unter Einfluß "natürlicher" Kräfte erfolgt. Beispielsweise ist es Teil dieser Ordnung, daß schwere Körper "unten" seien und leichte "oben", weshalb schwere Körper, wenn man sie losläßt, nach unten fallen: eine weltanschaulich begründete "Theorie des freien Falls".

"Erzwungene Bewegungen" hingegen seien solche, die von "antreibenden Kräften" verursacht werden, welche Kräfte ihrerseits wiederum nur durch direkte Wechselwirkung, direkten Kontakt mit dem bewegten Objekt ihren "Zwang" ausüben können. Diese theoretische Vorstellung von Kräften beruhte u. a. auf dem dem Alltagsbewußtsein geläufigen Umstand, daß zur Aufrechterhaltung von Bewegungen mit konstanter Geschwindigkeit Kräfte erforderlich sind: Schiebt man einen Wagen auf rauher Straße, so bleibt dieser stehen, sobald man mit dem Schieben aufhört. Oberflächlich betrachtet führt das durchaus schlüssig zu der - fälschlichen - Auffassung, daß Kräfte konstante Geschwindigkeiten hervorriefen und daß diese den wirkenden Kräften proportional seien. Dies hat Newton fundamental korrigiert. Zum einen hat er mit dem Gravitationsgesetz die christlich-aristotelische Trennung zwischen "himmlischer" und "irdischer Plysik durchbrochen: Die Kraft, die einen Apfel vom Baum zur Erde fallen läßt, ist nach Newton von gleicher Art wie diejenige Kraft, die die Planeten auf ihren Umlaufbahnen um die Sonne hält. Diese Kraft, die wechselseitige Anziehungskraft zwischen Massen, wirkt zudem, anders als die "erzwungenen Kräfte" der Peripatetiker, ohne direkte Berührung, wirkt über große Distanzen, wirkt sogar durch den "leeren" Weltraum.

Die weltanschauliche Bedeutung der Gravitationstheorie liegt auf der Hand: Sie liegt in der Auflösung der genannten, bis dahin als unüberwindlich. geltenden Trennung der Naturanschauung, sie beseitigt damit spekulative Begründungen für grundlegende Bereiche der Physik, sie richtet den Blick auf das Weltganze in seiner materiellen Einheit, und sie lenkt zugleich den wissenschaftlichen Blick auf die (anzustrebende) theoretische Einheit der Physik.

Zum anderen enthält das newtonsche Grundgesetz der Dynamik eine theoretisch bedeutsame Korrektur: nicht die Aufrechterhaltung einer konstanten Geschwindigkeit, sondern deren Änderung erfordert eine Kraft. Damit wird der aristotelische "Schnitt" zwischen "natürlichen" und "erzwungenen" Bewegungen theoretisch aufgelöst und ersetzt durch einen anderen: den zwischen kräftefreien Bewegungen mit immerwährend konstanter Geschwindigkeit einerseits und den Kräften unterworfenen, also beschleunigten Bewegungen andererseits; ersteres ausgedrückt im Trägheitssatz, letzteres im Grundgesetz der Dynamik.

Weltanschauung, Mathematik, Physikalische Theorie
Um die Bedeutung der newtonschen Umwälzung der christlich-aristotelischen Dynamik weiter zu verdeutlichen, sind einige Bemerkungen anzuschließen. Die Beschreibung einer mechanischen Bewegung erfolgt in der Physik dadurch, daß man den Ort eines Körpers zu einer bestimmten Zeit angibt und einen anderen Ort zu einer späteren Zeit. Diese Aussage enthält physikalische, mathematische und weltanschauliche Probleme. Es widerspricht, in undialektischer Sichtweise, dem Begriff der Bewegung zu sagen, ein Körper sei an einem Ort. Selbst in der unmeßbar kleinen Spanne, in der man diesen Gedanken denkt, kann der Körper nicht mehr an diesem Ort sein, denn er bewegt sich: Er ist an einem Ort und ist zugleich nicht (mehr) an diesem Ort. Eine Theorie der Bewegung kann von dem Widerspruch grundsätzlich nicht befreit werden, daß die Begrifflichkeit "an einem Ort" die statische Formulierung eines dynamischen Prozesses ist.

Es war dieser den mechanischen Bewegungen objektiv innewohnende Widerspruch, der theoretisch abgebildet werden mußte, um Bewegungen mathematisch beschreibbar zu machen. Die Losung dieses Problems erfordert offenkundig physikalische Vorstellungen von Raum ("Ort") und Zeit, und diese wiederum enthalten unvermeidlich Vorstellungen vom Raum und von der Zeit im Großen wie im Kleinen, vom Weltganzen, berühren also unvermeidlich weltanschaulich-philosophische Positionen - ob man sich dessen bewußt ist oder nicht. Die mathematische Lösung durch Newton und seither erfolgt dadurch, daß zwar nur mit den Größen Raum und Zeit operiert wird, aber (mit Hilfe der von Newton u. a. entwickelten Differentialrechnung) eine Dualisierung in Raum-Zeit und Geschwindigkeit vorgenommen wird; kurz und in jedem geläufiger Fassung gesagt: Geschwindigkeit ist Weg ("Raum") geteilt durch Zeit. Die Art und Weise, in der die Größe Geschwindigkeit in der Differentialrechnung gebildet wird (in der man mit "unendlich kleinen" Größen rechnen kann, auch mit "unendlich kleinen" Wegen und Zeitspannen), macht deutlich, daß diese Größe stets den Bezug auf benachbarte Orte enthält. Ohne in logische Widersprüche zu geraten, gelingt es mithin, den behaupteten Sachverhalt, daß ein bewegter Körper zu ein und dem selben Zeitpunkt an einem Ort ist und nicht an ihm ist, in einer Weise darzustellen, die Berechnung und Messung zuläßt.

Newtons methodologische Lösung, die beträchtliche weltanschauliche Konsequenzen besitzt, bestand wesentlich darin, die theoretischen Kategorien des absoluten Raums und der absoluten Zeit zu schaffen. "Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihr Liegendem" und "der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich." Der Kontext dieser bekannten Positionen Newtons (in seinem berühmten Werk Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie) zeigt, daß ihm diese Kategorien als verallgemeinerter Hintergrund, als allgemeines Bezugssystem für unendlich mannigfaltige mechanische Bewegungen dienten. In gewisser Weise war das ein Schlüssel. Absoluter Raum, absolute Zeit und darauf bezogene mathematische Bezugssysteme nahmen der Dynamik jegliche unmittelbare (Alltags-)Anschauung, lösten sie von den Zufälligkeiten realer Bewegungsformen und ließen die klassische Mechanik damit zur wirklichen Theorie werden, die die gedanklich-rationale Durchdringung physikalischer Realität ermöglichte. Ein weiterer solcher Schlüssel war, nebenbei bemerkt, die newtonsche Konzeption des Massepunktes (worauf hier nicht näher eingegangen wird), eines materiellen Objekts "ohne räumliche Ausdehnung", jedoch mit Masse behaftet; dies ist eine analoge theoretische Idealisierung wie absoluter Raum und absolute Zeit. Es darf damit bemerkt werden, daß Unanschaulichkeit (im landläufigen Sinne des Wortes) in der Physik nicht erst mit der Relativitätstheorie und mit der Quantenmechanik einsetzte, und daß sie im angedeuteten Sinne notwendige Vorbedingung einer Theorie ist.

Mit beiden hier nur kurz angedeuteten Fundierungen der modernen Dynamik, der mathematisch-physikalischen wie der methodologisch-weltanschaulichen, konnte Newton den objektiven dialektischen Widerspruch der Bewegung theoretisch aufnehmen. Was ihm in dieser Hinsicht bis heute nicht selten als "mechanistischer Dogmatismus" ausgelegt wird, war tatsächlich der entscheidende Schritt zur präzisen Erfassung der Bewegung. Newton konnte damit das seit dem Altertum ungelöste Problem der mathematischen Beschreibung der Bewegung einer theoretischen Lösung zuführen und damit der christlich-aristotelischen Dynamik letztlich den Boden entziehen.

Dieser weltanschauliche und methodologische Umwälzungsprozeß vollzog sich im gesamten auf Newton folgenden Jahrhundert. Er konnte sich allerdings nicht in einem diffusen "Diskurs" durchsetzen. Die Rationalität der fundamental neuen Theorie, die die aus dem griechischen Altertum überkommene falsche Widerspiegelung der physikalischen Realität nachhaltig unterminierte, konnte nur zur herrschenden Physik, zur allgemein anerkannten physikalischen Theorie werden, indem sie ihre Widerspiegelungsfunktion praktisch demonstrierte. Der newtonsche Ansatz war der einzige, der die Meßbarkeit der Bewegung ermöglichte. Er allein bot die Möglichkeit der dialektischen Widerspiegelung der Dialektik der physikalischen Realität, indem er die Einheit der Diskontinuität und Kontinuität des Raumes mit der Diskontinuität und Kontinuität der Zeit meßbar machte. Erst mit der Begründung der klassischen Mechanik durch Newton war die Meßgrundlage der Physik, beruhend auf den Meßgrößen Raum und Zeit (und, worauf hier nicht eingegangen werden kann, Masse), ausgearbeitet. Jede nachfolgende physikalische Theorie wurde dadurch zur messenden Physik, daß sie angab, wie ihre Grundbegriffe an die Begriffsbildungen der newtonschen Mechanik anschließen. Erst als die auf Newton folgende Geschichte der Physik sich dieses fundamentalen Umstands praktisch bewußt wurde, erst als komplexe mechanische Bewegungen überhaupt ins Feld der geschichtlichen Praxis des gesellschaftlichen Menschen traten, erst als es sich dabei als möglich erwies, aufbauend auf Newton solche komplexen Bewegungsvorgänge theoretisch zu analysieren, erst dann hatte sich, mehr als einhundert Jahre nach Newton, die klassische Mechanik wirklich durchgesetzt. Und sie konnte sich nur deshalb durchsetzen, konnte nur deshalb zum grundlegenden Paradigma jeglicher Physik (im angedeuteten Sinne) bis heute werden, weil sie, dialektische Theorie eines grundlegenden Bereichs dialektischer physikalischer Realität ist.

Vielfältigste mechanische Bewegungsformen, wie sie in der Natur und in von Menschen konstruierten technischen Systemen auftreten, lassen sich auf der Grundlage dieser Theorie mathematisch analysieren, und umgekehrt ist die praktische Konstruktion (komplexer) mechanischer Systeme ohne das physikalisch-mathematische Instrumentarium Newtons nicht mehr möglich. Die Theorie ist, gerade auch in ihren mathematischen Formen, mit Newton zur unabdingbaren Voraussetzung physikalisch-technischer Praxis des gesellschaftlichen Menschen geworden.

Grundlagen und Implikationen der newtonschen Dynamik lassen sich hinsichtlich ihres weltanschaulich-philosophischen Gehalts noch genauer fassen. Die Gesetze der Klassischen Mechanik beruhen, wie bereits erwähnt, auf Ortsangaben und Veränderungen des Ortes in bestimmten Zeitintervallen. Kurz gesagt: Mechanische Bewegung ist Veränderung des Ortes mit der Zeit (wobei in Anknüpfung an Engels betont werden muß, daß es sich hierbei nur um elementare Grundformen der Bewegung handelt). Gewöhnlich gehen wir im Alltag sehr unbefangen mit den darin enthaltenen grundlegenden Begriffen um. Den räumlichen Abstand zwischen zwei Orten messen wir mit einem Maßstab, den zeitlichen Abstand zwischen zwei Zeitpunkten mit einer Uhr. Damit setzt man allerdings stillschweigend voraus, daß Orts- und Zeitangaben völlig klare Begriffe sind. Und sie sind es selbstverständlich in unserer Alltagswelt, in der wir uns zu Fuß, in Autos, per Bahn, zu Schiff, allenfalls in Flugzeugen oder Raketen bewegen und mit letzteren die größten uns möglichen Geschwindigkeiten erreichen. Unsere tiefverwurzelten Raum- und Zeitvorstellungen beruhen auf physikalischer und sozialer Erfahrung von Tausenden menschlicher Generationen und werden täglich durch individuelle Erfahrung bestätigt. Dies widerspiegelt die uns geläufige Geometrie, diejenige Abteilung der Mathematik (in der Schule), in der man sich mit Punkten, Geraden und Winkeln, mit Dreiecken, Rechtecken und Kreisen sowie weiteren Objekten entsprechender Art, also mit spezifischen Raumvorstellungen beschäftigt. In dieser Konzeption ist der geometrische Raum überall gleich und Objekte lassen sich darin verschieben, ohne daß sie ihre Formen und Abmessungen verändern; man spricht von Homogenität und Isotropie des Raums. Diese Theorie geht zurück auf Euklid und heißt nach diesem euklidsche Geometrie, die durch sie formulierte Raumvorstellung heißt gemeinhin euklidscher Raum.

Newtons absoluter Raum ist ein euklidscher Raum, in dem es nur eine Zeit gibt, die unter allen Umständen die gleiche ist, die an jedem Ort des Raumes gleich schnell vergeht. Diese bildeten die weltanschaulich-philosophische und theoretische Grundlage der Mechanik seit dem 17. Jahrhundert. Damit war über zweihundert Jahre lang Mechanik, Physik überhaupt möglich und es ist oben bereits angedeutet worden, daß dies das notwendige theoretische Konstrukt zur mathematischen Beschreibung der Dialektik der mechanischen Bewegung ist.

Newtons theoretisches Fundament deckt allerdings noch weit mehr auf. Welches sind eigentlich die Ursprünge der euklid-newtonschen - und, wohlgemerkt, auch unserer alltäglichen - Vorstellungen von Raum und Zeit? Infolge der wechselseitigen Massenanziehung, der Gravitation, fallen irgendwelche Gegenstände stets "nach unten". Diese Aussage ist nicht nur eine physikalische, sondern auch eine geometrische, "nach unten" zeichnet eine Richtung im Raum aus. Auf Grundlage des Trägheitssatzes bewegt sich ein Körper, auf den keine äußeren Kräfte wirken, entlang einer Geraden. Licht breitet sich geradlinig, gleichermaßen in alle Richtungen des (leeren) Raumes und stets mit der gleichen Geschwindigkeit aus. Es ist also, in Übereinstimmung mit der materialistisch-dialektischen Widerspiegelungstheorie, offenkundig, daß eine Geometrie der Geraden, der Isotropie und Homogenität des Raumes, daß also die euklidsche Geometrie eine unbestrittene Dominanz in menschlichen Raumvorstellungen gewinnen mußte, weil sie Widerspiegelung realer menschlicher physikalischer Erfahrung ist. Kurz könnte man sagen: Die Physik bringt diese Geometrie hervor, was durchaus dahingehend erweitert werden darf, daß in materialistisch-dialektischer Konsequenz eine "andere Physik" eine "andere Geometrie" hervorbringen sollte.

Newton war selbstverständlich die unendliche Mannigfaltigkeit objektiv-realer Bewegungen bekannt. Er hat sich mit Gesetzen der Lichtausbreitung ebenso beschäftigt wie mit der Bewegung der Planeten, darunter auch der Erde; er kannte selbstredend auch Pferdewagen, die Bewegungen von Schiffen, Fallbewegungen, Pendelbewegungen und so weiter. Newton und vor ihm schon Galilei und vielen anderen war bekannt, daß man über Orte (räumliche Distanzen), Geschwindigkeiten, Beschleunigungen usw. prinzipiell nur sprechen kann, wenn man das Bezugssystem angibt, in dem Ort und Zeit jeweils gemessen werden. Newtons absoluter Raum und absolute Zeit schließen also die wissenschaftliche Analyse mannigfaltiger Bewegungen in zahllosen verschiedenen Bezugssystemen nicht aus, diese sind hingegen ohne das newtonsche theoretische Instrumentarium überhaupt nicht beschreibbar gewesen.

Einstein und Newton
Man kann heute nicht über Newton sprechen, ohne wenigstens einige Bemerkungen zu Einstein anzufügen, über dessen Raumzeit-Vorstellungen im Rahmen dieses Beitrags nur kurz folgendes angemerkt werden soll. Wir wissen heute, daß die newtonsche Dynamik bei weitem nicht die Gesamtheit bislang bekannter physikalischer Gesetzmäßigkeiten trägt. Insbesondere die Mitte des vergangenen Jahrhunderts entwickelte Elektrodynamik und die mit ihr forcierte Suche nach Newtons absolutem Raum als physikalischer Realität führte zu wesentlichen experimentellen und theoretischen Widersprüchen mit der newtonschen_Mechanik.

Um deren bekanntesten zu erwähnen: Licht müßte sich nach Newton mit einer anderen Geschwindigkeit als 300 000 Kilometer pro Sekunde bewegen, wenn die Lichtquelle rasch bewegt wird. Dies folgt aus dem galilei-newtonschen Relativitätsprinzip. Dieses besagt u.a.: Bewegt sich ein Mensch in Fahrtrichtung in einem Zug, der sich seinerseits relativ zu einem Bahnsteig bewegt, so mißt man vom Bahnsteig aus eine Geschwindigkeit des Menschen, die die Summe von dessen Geschwindigkeit im Zug und der Zuggeschwindigkeit gegenüber dem Bahnsteig ist. Gleiches sollte nach Newton auch für das Licht feststellbar sein. Tatsächlich jedoch haben selbst die scharfsinnigsten Experimente seit rund einhundert Jahren eindeutig ergeben: Die Lichtgeschwindigkeit (im Vakuum) ist unter allen Bedingungen-konstant.

Ein solcher Widerspruch (in die Literatur eingegangen als eine der großen "Krisen der Physik" Ende des 19. Jahrhunderts) mußte gelöst werden. Berühmt und als einziger theoretisch tragfähig wurde Einsteins diesbezüglicher Ansatz: Während einige andere Physiker zwecks Lösung des Widerspruchs u. a. die Aufgabe des Relativitätsprinzips vorschlugen, ging er aus empirischen Gründen von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aus, forderte er die Beibehaltung des Relativitätsprinzips und unterzog stattdessen die euklidschen Raum- und newtonschen Raum-Zeitvorstellungen einer fundamentalen Revision. Diese läßt sich in ihren Ergebnissen knapp zusammenfassen:

  • Die (Vakuum-)Lichtgeschwindigkeit ist in allen Bezugssystemen gleich, nämlich etwa 300.000 Kilometer pro Sekunde, und sie ist Grenzgeschwindigkeit, die von keinem materiellen (Austausch-) Prozeß überschritten werden kann.
  • Das Konzept einer absoluten Zeit muß aufgegeben werden. Ereignisse, die in einem System gleichzeitig auftreten, werden aus einem relativ dazu bewegten System als nicht gleichzeitig gemessen (Relativität der Gleichzeitigkeit). Jedes Bezugssystem besitzt seine Eigenzeit (Systemzeit).
  • Das Konzept eines absoluten Raums muß aufgegeben werden. Räumliche Entfernungen in einem System sind nicht gleich, wenn sie aus einem relativ dazu bewegten Sytem heraus gemessen werden (Relativität der Längenmessung).
  • Auch die Masse eines Qbjekts ist keine konstante Größe, sie ist abhängig vom Bezugssystem (Relativität der Masse). Bewegt sich ein Objekt, so nimmt seine Masse zu, gemessen von einem anderen System aus.
  • Energie und Masse sind äquivalente physikalische Größen. Eine Masse besitzt in einem System, in dem sie ruht, eine Ruheenergie, die sich aus der berühmtesten Formel der theoretischen Physik, E = mc² ergibt.
  • Das Verhalten von Maßstäben und Uhren (anders: von Raum und Zeit) ist unter Berücksichtigung der Einwirkung von Gravitationsfelder zu interpretieren und letztere wiederum sind eine Eigenschaft der Materie, genauer gesagt der Masse in einem bestimmten Gebiet.

Auf dieser Grundlage ließen sich die oben genannten Widersprüche beseitigen, Experiment und Theorie konnten in Übereinstimmung gebracht werden, das Relativitätsprinzip wie auch die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit waren Ausgangspunkte und logisch widerspruchsfreie Resultate der einsteinschen Konzeption. Das Aufregende an der Relativitätstheorie (die hier in fast unerlaubter Kürze komprimiert wurde) sind einige ihrer zentralen Konsequenzen. Die womöglich wichtigste in weltanschaulicher Hinsicht: Physikalischer Raum und physikalische Zeit sind keine "an sich" gegebenen Wesenheiten, sondern entspringen der Masse materieller Objekte, deren Konfiguration und deren Bewegungen, also wesentlihen Struktureigenschaften der Materie. Der absolute Raum und die absolute Zeit Newtons wurden damit ebenso dialektisch überwunden wie bestimmte "a priori"-Vorstellungen von Raum und Zeit, wie sie zahlreichen philosophischen Denkrichtungen eigen sind. Wie oben in anderem Zusammenhang bereits bemerkt, erfordert die neue Physik eine neue Geometrie.

Euklids Raum erwies sich als unzureiched. Benötigt wurde eine Geometrie, in der nicht mehr eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist, sondern in bestimmter Weise gekrümmte Kurven. Euklids Geometrie wurde für den physikalischen Bereich der Allgemeinen Relativitätstheorie abgelöst durch den riemannschen Raum, der eben diese Eigenschaften mathematisch zu beschreiben gestattet. Physikalische Bewegungen (eines bestimmten Strukturniveaus) erfolgen in gekrümmten Räumen. Für Laien scheint das eine schier unerträgliche Folgerung zu sein. Die Tatsache, daß die Relativität der Zeit, der Entfernung und der Masse unserem Alltagsdenken so fremd sind wie gekrümmte Raumzeiten in Gravitationsfeldern, hat offenkundig damit zu tun, daß relativistische Effekte in Bereichen auftreten, in denen sich die Dinge mit Geschwindigkeiten bewegen, die mit der Lichtgeschwindigkeit vergleichbar sind. Und kein Mensch bewegt sich üblicherweise in solchen Bereichen. (Zur Beruhigung sei angemerkt, daß euklidsche Raumvorstellungen für unsere alltägliche Orientierung in unseren physikalischen Lebensverhältnissen nach wie vor ausreichend sind.)

Einige philosophische Konsequenzen
Physik ist Physik und nicht Philosophie! Zahlreiche Mißverständnisse in der Interpretation der newtonschen Physik scheinen von einer Mißachtung oder Unterschätzung dieser an sich selbstverständlichen Aussage herzurühren.

Newton hat unter seinen wissenschaftlich-historischen Bedingungen der philosophischen Auffassung vom Primat der Materie in ihrer unendlichen Bewegung physikalische Begründungen geliefert. Er hat mit seiner Dynamik einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung eines materialistischen (naturwissenschaftlichen) Weltbildes erarbeitet. Dem korrespondiert im übrigen, daß Newton sein diesbezügliches grundlegendes Werk, die "Principia", nicht für ein "Lehrbuch der Mechanik" hielt, sondern für ein (natur-)philosophisches Werk über das Weltganze, und die darin wirkenden, mit dem denkenden Verstand erkennbaren Gesetzmäßigkeiten. Das berühmte "Dritte Buch" in den "Principia" heißt deshalb "Über das Gefüge der Welt".

Zwar ist allgemein anerkannt, daß Newton in Folge von Kepler, Galilei und anderen der erste war, der mit seinem Gravitationsgesetz die "irdische" mit der "himmlischen" Physik vereinte. Doch noch zu wenig wird beachtet, daß er mit ebendiesem Gesetz auch einen qualitativen Schritt in der Erkenntnis bestimmter wesentlicher Strukturebenen der Bewegung der Materie vorbereitet hat, der von Einstein zweihundertfünfzig Jahre später konsequent vollendet wurde.

Zu verweisen ist hier vor allem auf den Inhalt des Gravitationsgesetzes: Zwei Massen ziehen sich danach mit einer Kraft an, die von der Größe der Massen und von ihrem Abstand abhängt. Das hebt, auch wenn es Newton selbst noch nicht hinreichend deutlich gewesen sein sollte, den Ursprung der Gravitationskraft hervor. Nach Newtons Gravitationsgesetz ist dies die Masse, diese wesentliche Eigenschaft der sich selbst bewegenden physikalischen Materie; und ebenso sind nach diesem Gesetz Abstände zwischen Massen, also raumzeitliche Konfigurationen der physikalischen Materie, struktur- und prozeßprägend. Noch ging Newton allerdings davon aus, daß Raum und Zeit voneinander und von bestimmten Seiten der physikalischen Materie (Masse) getrennte Wesenheiten seien; er war insofern noch dem seinerzeit alten Weltbild verhaftet und hat dennoch den großen qualitativen Schritt aus diesem heraus angelegt.

Einstein konnte dann mit der Relativitätstheorie theoretisch nachweisen, daß Raum und Zeit keine "a priori"-Konstrukte sind, sondern objektiv-reale Eigenschaften der Materie; daß Raum und Zeit nicht nur äußerlich, sondern in der objektiven physikalischen Realität eine untrennbare Einheit bildeten; und daß die materielle Ursache dieser "Union" in der Gravitation, in der allgemeinen Weechselwirkung der Materie auf einer bestimmten Strukturebene, der wechselseitigen Massenanziehung liegt. Hier ist nicht der Raum, um der jahrhundertealten Debatte über den "absoluten Raum" im Detail nachzugehen. Wichtig erscheint allerdings der Hinweis, daß Newtons Raum eine theoretische Kategorie ist und zunächst keine direkte Aussage über den Raum zuläßt, wie er unserer Alltagserfahrung entspricht. Dieser Gesichtspunkt in Newtons Theorie, über dessen fundamentale Bedeutung hinsichtlich der Möglichkeit der mathematischen Beschreibung von Bewegung oben einiges angemerkt wurde, wird ja oftmals als Beleg dafür herangezogen, daß Newtons Dynamik angeblich "mechanistisch" angelegt sei. Dies scheint eine grundlegende Verwechslung theoretischer Kategorien der Physik mit ontologischen Kategorien oder gar mit Begrifflichkeiten aus Alltagserfahrungen zu sein. Newtons absoluter Raum ist eine theoretische Idealisierung, die ihm die Bestimmung der Bewegung entsprechend dem Trägheitsprinzip ermöglicht hat, die es bekanntlich unter physikalisch realen Bedingungen überhaupt nicht gibt und die dennoch in ihrem "Schnitt" zur nicht-kräftefreien Bewegung das entscheidende theoretische Instrumentarium zur mathematischen Beschreibung realer Bewegungsprozesse liefert.

Das gibt also, die kurze Andeutung möge genügen, nichts her für die Charakterisierung der newtonschen Theorie als "mechanistisch". Die in der Tat nicht tragfähigen Versuche, nicht nur mechanische, sondern alle physikalischen Phänomene mechanisch zu verstehen, sind zwar, seinen historischen Bedingungen entsprechend, bei Newton angelegt. Doch ausgeführt wurden diese Versuche von (natur-)wissenschaftlichen Generationen nach ihm - und auch diesen ist nur begrenzt ein "Vorwurf" daraus zu machen. Die newtonsche Mechanik war bis ins 19. Jahrhundert die einzige systematisch ausgearbeitete physikalische Theorie. Nach ihr entstandene Theorien wie vor allem die Thermodynamik stützten sich weitgehend und fast unmittelbar auf Newton (auch wenn es gerade bei der Herausbildung der Thermodynamik Versuche einer theoretischen Fundierung unabhängig von Newton gab). Womit also sonst hätte die Elektrodynamik im 19. Jahrhundert theoretisch an die von ihr untersuchten neuen Phänomene herangehen sollen?

Die Entwicklung der Physik war mit den oben erwähnten tiefen Widersprüchen (zwischen Elektrodynamik und klassischer Mechanik) allerdings in eine Krise geraten, aus der Einstein und andere den Ausweg fanden. Dies mag als notwendiger Hinweis auf die Dialektik naturwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung gelesen werden wie auch auf die Fruchtbarkeit von Krisen.

Dialektische Momente finden sich in Newtons Theorie vor allem insofern, als er überhaupt Bewegung und allseitige Wechselwirkung materieller physikalischer Objekte ins Blickfeld nahm. Ob Newton der Begriff Dialektik bekannt oder bedeutsam war oder ob ihm dialektisches Denken als philosophisches Instrumentarium geläufig war, ist zweitrangig. Unstrittig sollte hingegen sein, daß man die Herausarbeitung und theoretische Beschreibung allseitiger Wechselwirkung "auf der Erde und im Himmel" infolge (gravitativer} Kräfte und die sich darin ausdrückende (Selbst-) Bewegung materieller Objekte als dialektisches Denken in der Physik bezeichnen muß. Natürlich in einer Vor-Form, doch darüber mag nur erstaunt sein, wer die Geschichte dialektischen Denkens in Naturwissenschaften und Philosophie nicht hinreichend kennt. Die Relativität mechanischer Bewegungen, also ihr notwendiger Bezug auf jeweils anzugebende Bezugssysteme, war Newton bekannt und auch dieser wesentliche Umstand gibt theoretische und weltanschauliche Strukturelemente der physikalischen Materie vor, die von Einstein qualitativ vertieft und geklärt wurden.

Alle physikalischen Erscheinungen und Prozesse existieren in einem raumzeitlichen Zusammenhang und außerhalb materieller physikalischer Erscheinungen gibt es keine raumzeitlichen Zusammenhänge. Die von Einstein in konsequenter Vertiefung der newtonschen Dynamik geleistete Aufdeckung der realen Existenz unentlich vieler physikalisch gleichberechtigter Bezugssysteme ist eine physikalische, d.h. theoretische und empirische Bestätigung für diese weltanschauliche Verallgemeinerung. Natürlich ist die Feststellung des Primats der sich selbst bewegenden Materie nur eine, wenn auch über Jahrtausende hinweg entstandene weltanschauliche Grundposition. Sie schließt ein, daß die Selbstbewegung der Materie in unendlichen Struktur- und Entwicklungsformen in einem umfassenden Zusammenhang erscheint. Insofern liefern die Raumzeit-Vorstellung Newtons und, in deren Folge, der Relativitätstheorie nur eine naturwissenschaftlich gestützte Klärung dieser philosophischen Position. In diesem Sinne ist der heftige Streit über den Primat der Materie über Jahrhunderte hinweg heute als geklärt zu betrachten.

Es ist allerdings hier daran zu erinnern, daß es der dialektisch-materialistischen Philosophie fremd ist, bestimmte physikalische Raumzeit-Vorstellungen zu verabsolutieren Auch Einsteins Raumzeit-Konzeption ist ein theoretisches Konstrukt, in diesem Sinne der newtonschen Konzeption analog. Einsteins Raumzeit ist genauso wenig zu dogmatisieren wie Newtons absoluter Raum und absolute Zeit. Es sollte deshalb auch in Zukunft keine wesentliche (philosophische) Überraschung hervorrufen, wenn (etwa im Zusammenhang mit der Untersuchung von Elementarteilchen oder mit modernen, über Newton und Einstein hinausgehenden Gravitationstheorien) möglicherweise neuartige phvsikalischeRaumzeit-Vorstellungen hervorgebracht werden, die ihrerseits qualitativ neue Struktur- und Entwicklungsebenen der materiellen physikalischen Bewegung beschreiben. Es scheint sehr wahrscheinlich, daß dies noch zu unseren Lebzeiten der Fall sein könnte.

Worin bestehen wesentliche Beziehungen, Einheit und Differenz, zwischen der newtonschen un der Einsteinschen Theorie? Die bekannte Kurzfassung für die Antwort auf diese Frage lautet gemeinhin "Mit Einstein war Newton endgültig überwundene". Dies ist, wie der vorliegende Beitrag zu zeigen beabsichtigt, keine zutreffende Charakterisierung. Offenkundig ist zunächst, daß beide Theorien unterschiedliche, jedoch fließend ineinander übergehende physikalische Gegenstandsbereiche erfassen; kurz gesagt: bei Geschwindigkeiten bis etwa 20 Prozent der Lichtgeschwindigkeit gilt Newton, darüber hinaus Einstein. Die Newtonsche Dynamik ist als Grenzfall kleiner Geschwindigkeiten in der Relativitätstheorie enthalten. Das ist allerdings, nimmt man die Inhalte beider Theorien zur Kenntnis, eher trivial.

Kann eine solche, also die newtonsche Theorie damit endgültig überwunden sein? Natürlich nicht, und die oben mehrfach angebrachten Hinweise auf die durch Newton vorbereiteten Schritte hinsichtlich eines tiefer reichenden materialistisch-dialektischen Verständnisses der Bewegung materieller physikalischer Objekte sollten dies andeuten. Endgültig überwunden heißt: in historischer Sicht bedeutungsvoll, aber nun nicht mehr vonnöten, weil der Erkenntnis der physikalischen Realität nicht mehr adäquat.

Das Verhältnis zwischen Newton und Einstein ist jedoch eindeutig ein anderes! Einstein vertieft Newton, revidiert dessen weltanschauliche und theoretische Grundlagen nachhaltig und fuhr ihn auf diese Weise konsequent zu Ende. Einstein deckt neue Momente von Raumzeit, von materieller Struktur der physikalischen Welt und von Bewegung auf und nimmt darin zugleich Newtons grundlegendeErkenntnisse auf. Newton hat das christlich-aristotelische Mittelalter wissenschaftlich entscheidend besiegt und den Weg für weitere revolutionäre Fortschritte der Wissenschaft freigesprengt und erschlossen. Er wird mit Einstein in seiner Bedeutung für eine wirklich wissenschaftliche, also materialistisch-dialektische Analyse der physikalischen Realität neu eingeordnet. In einem Wort: Einsteins Relativitätstheorie ist nicht logische Negation der newtonschen Mechanik. Beide sind Momente in einem dialektischen Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. Daß dieses in historischer Abfolge hervortrat, daß die eine Theorie das Besondere schuf, bevor die andere Theorie zweieinhalb Jahrhunderte später das Allgemeine fand, ist der Logik der Wissenschaftsgeschichte geschuldet, ist so unüblich nicht und ändert nichts am Inhalt der wechselseitigen Beziehungen zwischen beiden Theorien.

Ein allerdings wesentlicher Unterschied in philosophischer Sicht ist darin zu sehen, daß seit Einstein und bislang unwiderlegbar die Lichtgeschwindigkeit den Rang einer universellen Naturkonstante mit Grenzcharakter erhalten hat. Das schränkt Wechselwirkungen in der physikalischen Realität ein. Einfach gesagt, können nur solche Objekte und Prozesse miteinander wechselwirken, zwischen denen das Licht bislang genügend Zeit hatte, eine Verbindung herzustellen. Wir sehen auf der Erde selbstverständlich nur das Licht (allgemein die elektromagnetischen Wellen), welches uns aufgrund der endlichen Lichtgeschwindigkeit bisher erreichen konnte. Damit schränkt die Relativitätstheorie kausale Zusammenhänge ein, die in Newtons Theorie prinzipiell unbeschränkt sind. Dinge und Prozesse können nur in kausaler Wechselwirkung stehen, wenn sie überhaupt miteinander wechselwirken können. Wir wissen seit Einstein; daß die Raumzeit materiell bedingt ist und ihrerseits auf materielle Prozesse prägend einwirkt. Zusammen mit dem Grenzcharakter der Lichtgeschwindigkeit schafft das neue, zuvor unbekannte Beziehungen zwischen Kausalität und materieller Raumzeitstruktur, zumindest in großen Dimensionen unserer physikalischen Realität. Hier liegen zentrale philosophische Differenzen zur newtonschen Theorie und sie fließen vor allem zusammen in Fragen der Kosmologie.

Newton und Einstein haben physikalische Theorien geschaffen, die als Besonderes und Allgemeines miteinander in Beziehung stehen. Beide Theorien waren zu ihrer jeweiligen Zeit heftig umstritten und mußten sich gegen jeweils veraltete Auffassungen in jahrzehntelangem Ringen durchsetzen. Beide enthalten Grundelemente, die originär theoretischer Natur sind, die empirisch nicht nachweisbar sind (wie etwa der Trägheitssatz) oder die im menschlichen Alltagsleben empirisch nicht nachweisbar sind (wie etwa die Relativität der Zeit). Beide zeigen damit, daß wirklich relevante theoretische Systeme nicht aus einer noch so großen Zahl empirischer Einzelfälle zu gewinnen sind, sondern vor allem aus begründeten, systematisch durchdachten weltanschaulichen Positionen heraus, deren theoretische Konsequenz hinsichtlich der materiellen Realität sich dann allerdings, wenn auch oft mit großer Zeitverzögerung in der Praxis zu bestätigen hat. Nicht in jedem Detail, nicht in jedem Satz der Theorie, sondern in ihren zentralen Folgerungen. Beide haben in der theoretischen Praxis gezeigt, daß die Theorie unabdingbar ist, um auch nur die richtigen Fragen stellen zu können. Newtons Dynamik und Einsteins Relativitätstheorie sind auch in diesem Sinne aus der Geschichte der Naturwissenschaften herausragende glänzende Siege des theoretischen Denkens.

Der letzte Absatz darf, nach 1989, durchaus auch nicht-physikalisch gelesen werden.

Kleine Literaturauswahl:

  • K.Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, Thun, Frankfurt am Main 1990 (Für interessierte Nicht-Physiker/innen verständlich);
  • H. Wussing, Isaac Newton, Leipzig (DDR) 1978 (Für interessierte Nicht-Physiker/innen verständlich);
  • Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie (Philosophiae Naturalis Principia Mathematica), Hamburg 1988;
  • K. Hutter (Hrsg.), Die Anfänge der Mechanik, Berlin, Heidelberg, New York 1989;
  • R. P. Feynman, Vom Wesen physikalischer Gesetze, München, Zürich 1990 (Für interessierte Nicht-Physikerinnen verständlich);
  • H. v. Borzeszkowski, R. Wahsner, Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch, Darmstadt 1989;
  • Euklid, Die Elemente, Buch I - XIII, hrsg. von C. Thaer, Dannstadt 1991;
  • A. Einstein, L. Infeld, Die Evolution der Physik, Wien-Hamburg 1950 (Für interessierte Nicht-Physiker/innen verständlich);
  • A. Einstein, Aus meinen späten Jahren, Zürich 1952 (Für interessierte Nicht-Physiker/innen verständlich);
  • A. Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, (23. Auflage), Braunschweig 1988 (Für interessierte Nicht-Physiker/innen in großen Zügen verständlich);
  • H.A. Lorentz, A. Einstein, H. Minkowski, Das Relativitätsprinzip, Eine Sammlung von Abhandlungen, (9. Auflage), Darmstadt o.J. (1974).
  • Für philosophisch interessierte Leser/innen:
  • Friedrich Engels, Dialektik der Natur, in: Marx-Engels-Werke, Band 20, Berlin (DDR) 1968;
  • H. Hörz, Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften, Köln 1974;
  • W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band III, Stuttgart 1987