Malcolm X -
Leben, Kampf und Ideen eines Revolutionärsvon Wolfram Klein
10/02 trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin I. Wie ein Verbrecher produziert wird Am 29. Mai 1925 wurde in Omaha im US-Bundesstaat Nebraska ein Kind geboren. Es war das vierte Kind von Earl und Louise Little. Ursprünglich hätte das Kind nach seinem Großvater John heißen sollen, aber als der Großvater hörte, daß das Kind fast weiß sei, verbat er sich das. So bekam das Kind den Namen Malcolm.
Malcolms Eltern
Seine Mutter war auf der Karibikinsel Grenada aufgewachsen. Ihren schottischen Vater hat sie nie kennengelernt, ihre Mutter starb, als sie sehr jung war. Von ihrer Großmutter und Tante wurde sie sehr autoritär bis brutal "erzogen". Als sie älter wurde, wurde sie von zuhause weggeschickt. Sie fühlte sich leer, einsam und nutzlos.
Schließlich wanderte sie nach Montreal in Kanada aus. Dort lernte sie Earl Little kennen und heiratete ihn bald, am 10. Mai 1919. Daß er schon eine Frau und drei Kinder hatte sitzenlassen, erfuhr sie später. Sie übersiedelten nach Philadelphia und dann nach Omaha. Dort wurde Malcolm geboren. Nach mehreren weiteren Stationen ließen sie sich 1929 in Lansing in der Nähe von Detroit im US-Bundesstaat Michigan nieder.
Die Familie kaufte ein Farmhaus in einer nur von Weißen bewohnten Wohngegend. Earl war immer freundlich zu seinen weißen Nachbarn und schenkte ihnen Gemüse aus seinen Garten. Auch daß er eine sehr hellhäutige Frau geheiratet hatte und seinen hellsten Sohn bevorzugte, paßte schlecht dazu, daß er zugleich ein Aktivist der ersten amerikanischen Schwarzenbewegung -(siehe Kasten nächste Seite) war.
In Omaha war Earl Little Vorsitzender der UNIA-Ortsgruppe gewesen. Malcolm berichtete später, daß die Familie nach einem Angriff des Ku-Klux-Klans auf ihr Haus Omaha verließ.
Kindheit in Lansing
Aber nicht nur politisch war die Familie mit Rassismus konfrontiert. Nach drei Monaten in ihrem Haus erfuhren sie, daß das Grundstück nur an Angehörige der "kaukasischen Rasse" (Weiße) verkauft werden dürfe. Vor Gericht wurde diese Vertragsklausel für gültig erklärt. Earl wollte vor das Oberste Gericht von Michigan gehen, da brannte das Haus eines Nachts ab. Nach Earls Meinung wurde das Haus von Weißen angezündet, die Polizei verhaftete stattdessen ihn wegen Verdachts auf Brandstiftung, doch nach einigen Monaten wurde die Anklage fallengelassen.
Louise Little "erzog" ihre wachsende Zahl von Kindern so, wie sie es selbst erlebt hatte. Earl war noch brutaler, sowohl zu den Kindern als auch zu Louise. Hinzu kam, daß Earl die moralischen Ansprüche, die er stellte, selber nicht erfüllte. Eine enge Wohnung für eine Familie mit schließlich sieben Kindern und ständiger Geldmangel machten das Familienleben nicht erträglicher. Lansing hatte in den Zwanzigern durch die beginnende Autoindustrie geboomt. Durch die Depression seit 1929 wurde es schwer getroffen. Earl schlug sich als Bauarbeiter durch. Daneben betätigte er sich als Laienprediger. Er scheint er sich auch als Kleinkrimineller betätigt zu haben, konnte aber nie überführt werden.
Am 28. September 1931 abends wurde Earl Little von einem Bus überfahren und starb. Offiziell verunglückte er, als er auf den anfahren Bus aufspringen wollte. Manche hielten es für Selbstmord. Louise war fest überzeugt, daß er von Weißen vor den Bus gestoßen worden war. Der kleine Malcolm übernahm diese Version.
Louise war als alleinerziehende Mutter von sieben Kindern überfordert. Malcolm schrieb später, daß sie ihn wegen seiner hellen Hautfarbe, die sie an ihre eigene uneheliche Herkunft erinnert habe, benachteiligt habe. Zumindest verlangte sie von ihm, daß er möglichst viel im Freien spielte, um "nachzudunkeln". Das Verhältnis zu den meisten seiner Geschwister war gespannt. Die materielle Lage war äußerst schlecht. Louise hatte Anspruch auf Unterstützung, empfand das aber als demütigend.
Louise wollte, daß ihre Kinder in der Schule paukten, daß der Kopf raucht. Malcolms Lehrerinnen impften ihm ebenfalls die Angst vor dem Versagen ein und waren fast so hart wie seine Mutter. Auf diese Mischung von Tyrannei und Überforderung reagierte Malcolm durch Verweigerung. Da er durch Stören die Aufmerksamkeit und Zuwendung, die ihm zuhause fehlte, nicht erreichte, rebellierte er nach Kräften gegen die Schule. Als Folge mußte er Oktober 1938 die Schule wechseln. Auch sein häufiges Klauen war vor allem eine Suche nach Aufmerksamkeit.
Louise schloß sich einer religiösen Sekte an. Deren Kargheits-Ideale machte aus dem, was die materielle Not den Littles gebot, eine Tugend. Aber sie brachte Anspruch und Wirklichkeit ebensowenig zusammen wie ihr verstorbener Mann - sie wurde schwanger. Mit dieser zusätzlichen materiellen und psychischen (die "Schande" des unehelichen Kindes) Belastung wurde sie nicht fertig. Die Behörden wußten keine bessere Hilfe für sie, als ihr das Sorgerecht für ihre Kinder zu nehmen, sie (Januar 1939) für verrückt zu erklären und in eine psychiatrische Klinik zu stecken.
Im Sommer 1939 kam Malcolm in ein Jugendheim in Mason, 20 Kilometer südlich von Lansing. Er hatte zum ersten Mal ein eigenes Zimmer und zum ersten Mal das Gefühl, angenommen zu sein. Er blühte auf, wurde sogar zum Klassensprecher gewählt. Aber das Glück währte nicht lange. Sein Lehrer erklärte ihm zu seinem Berufswunsch "Anwalt": "Ein Anwalt -das ist kein realistisches Ziel für einen Nigger. Du mußt an etwas denken, was du sein kannst. Du bist geschickt mit deinen Händen ... Warum planst Du nicht eine Zimmermannslehre?" Nach diesem Vorfall rutschte seine schulische Motivation wieder in den Keller.
Jugend in Boston
Ein einschneidendes Erlebnis für Malcolm war der Besuch bei seiner Halbschwester Ella in Boston. Im 19. Jahrhundert war Boston eines der Zentren der Anti-Sklaverei-Bewegung. Die Schwarzen waren höher geachtet als die irischen EinwandererInnen. Das hatte sich in den folgenden Jahrzehnten wieder geändert, aber Boston war noch wesentlich liberaler als andere Städte. Gemischtrassige Liebespaare gingen Arm in Arm auf der Straße - in Lansing undenkbar.
Im Februar 1941 siedelte er nach Boston über. Bei Ella fühlte er sich endlich wieder angenommen. Er gab sich Mühe, sie nicht zu enttäuschen. Aber ihre Zuneigung war mit der altbekannten Mischung aus Rumkommandiererei und Überforderung verbunden. Malcolm reagierte bald wie früher mit Rebellion.
Der Bostoner Stadtteil Roxbury, in dem sie wohnten, war geteilt. Oben lebten bessergestellte Schwarze zusammen mit einem irischen und jüdischen Bevölkerungsanteil, unten war das Ghetto der armen Schwarzen. Zum Ärger seiner Schwester trieb sich Malcolm lieber im Ghetto herum, weil er sich dort akzeptiert fühlte. Außerdem fand er das Halbwelt-Milieu unten aufregend. Er begann, Marihuana zu rauchen, zu spielen, sich nach der "neuesten Mode" zu kleiden. Er wurde ein "Hipster", eine Karikatur eines Weißen. In einer schmerzhaften Prozedur ließ er sich die Haare entkräuseln, damit sie wie die Haare der Weißen aussehen sollten.
Malcolm wurde Schuhputzer im "Roseland State Ballroom", wo die berühmtesten Bands auftraten, wenn sie in Boston waren. Er lernte schnell. Bald verdiente er mehr Geld damit, seine Schuhputz-Kunden an Prostituierte zu vermitteln, als damit, ihnen die Schuhe zu putzen.
Mit Mädchen hatte sich Malcolm immer etwas schwer getan. Er war sehr darauf bedacht, cool zu wirken und nichts von seinem Inneren herauszulassen und hatte ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber Frauen. Schließlich gelang es ihm aber, sein Outfit als "Hipster" komplett zu machen und sich eine weiße Freundin zuzulegen. Für seine Freundin Bea (Beatrice Caragulian) war ein schwarzer Freund ebenso "schick" wie für ihn eine "weiße Freundin, die keine stadtbekannte Hure war". Liebe spielte bei beiden keine nennenswerte Rolle.
Eine Zeitlang arbeitete Malcolm bei der Eisenbahn, danach hatte er noch mehrere Gelegenheitsjobs. Aber er hielt es ebensowenig wie sein Vater länger bei einer Arbeit aus. Er wollte hoch hinaus und hatte zugleich Angst vor dem Scheitern, das in dieser rassistischen Gesellschaft kaum zu vermeiden war. Schlechte Jobs gab es während dem Krieg genug, aber gute für Schwarze immer noch nicht.
Die New Yorker Unterwelt
Nach mehreren Jobs bei Eisenbahnlinien (zuletzt flog er wohl, weil er mit einer weißen Arbeitskollegin angebandelt hatte) wurde er Kellner in einer Bar in Harlem. Dort bekam er intensiveren Kontakt zur New Yorker Unterwelt. Nachdem er diesen Job auch verloren hatte, versuchte er sich endgültig selber als Kleinkrimineller. Zum Einstieg handelte Malcolm mit Marihuana. Das war eine einträgliche Geldquelle und ermöglichte ihm die Finanzierung seines eigenen Drogenkonsums und seiner Spielleidenschaft. Außerdem flüchtete er noch regelmäßig in die Traumwelt der Hollywood-Filme.
Allmählich war die Polizei hinter ihm her. Aber er war zu vorsichtig, sich auf frischer Tat ertappen zu lassen. Und die Polizei schien es damals vorzuziehen, bei ihren Ermittlungen selbst kriminelle Methoden zu vermeiden, weil das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung sehr angespannt war. Wie schlecht das Verhältnis war, zeigte sich Anfang August 1943: ein Polizist versuchte, eine schwarze Frau wegen "ungebührlichen Benehmens" festzunehmen, es kam zu einer Schießerei. Eine Stunde später zog eine aufgebrachte Menschenmenge randalierend durch Harlem. Am Tag nach dem Aufruhr sahen einige Straßenzüge von Harlem wie ein Schlachtfeld aus.
Im Oktober traten neue Probleme auf: ein Einberufungsbefehl der Armee. Malcolm hatte weder Lust auf den Heldentod noch auf die militärische Unterordnung in einer im Zweiten Weltkrieg noch auf Rassentrennung beruhenden Armee. Malcolm zog eine Show ab, die ihn erst vor den Armeepsychiater und diesen dann zu der Schlußfolgerung brachte, daß Malcolm für den US-Imperialismus nicht brauchbar sei.
Nebenher versuchte er, Bea nach Kräften auf der Tasche zu liegen. Ihr Verhältnis wurde auch nicht durch Beas Heirat gestört. Sie war weiterhin der Ansicht, daß Sex mit einem Schwarzen aufregender sei. Daneben hatte er noch andere Freundinnen, hauptsächlich weiße oder hellhäutige schwarze. Aber Sex schien ihn nur zu interessieren, wenn er die Frauen auch finanziell ausbeuten konnte. Er behandelte sie so, wie er es als Kind bei seinen Eltern erlebt hatte -vor allem, wenn sie was mit anderen Männern hatten, wurde er gewalttätig.
Gelegentlich hatte er auch homosexuelle Kontakte, teilweise auch beruflich (als "Masseur" eines Mannes, der altersmäßig hätte sein Vater sein können). Eine andere Tätigkeit war "angesehener": er brachte reiche Weiße (bedeutende Unternehmer und Politiker) nach Harlem, wo sie in einem Bordell ihren Perversionen nachgingen.
Zum ersten Mal vor dem Richter landete er aus einem eher lächerlichen Anlaß. Er verscherbelte im November 1944 bei einem Abstecher bei seiner Halbschwester Ella in Boston den Pelzmantel einer Tante für fünf Dollar. Er bekam drei Monate auf Bewährung. Daneben betätigt er sich als Einbrecher mit mehr oder weniger Erfolg. Einmal hatte er das Pech, daß die Frau, mit deren Brieftasche er sich beschäftigte, nicht nur aufwachte, sondern sich auch noch als Ringerin entpuppte. Von diesem Abenteuer trug er eine lebenslange Narbe am Schienbein davon.
Im Dezember 1945 gründete er mit einem Freund, Bea, ihrer Schwester und einer Freundin eine Einbrecherbande. Obwohl sie längst nicht so professionell waren wie Malcolm später behauptete, ging bei den Einbrüchen alles glatt. Nur das Verkaufen der Ware war schwierig. Als Malcolm bei einem Uhrmacher eine gestohlene Uhr reparieren lassen wollte, kam ihm die Polizei auf die Spur. Am 12. Januar 1946 wurde er verhaftet.
Gerichtsprozeß und Knast
Die drei weißen Frauen wurden gegen Kaution wieder freigelassen und durften beim Prozeß, der Ende Februar begann, auf der Anklagebank Platz nehmen. Für die beiden schwarzen Männer wurde eine Kautionssumme von 10.000 Dollar festgesetzt, die sie natürlich nicht auftreiben konnten. Deshalb wurden sie beim Prozeß in einen Käfig im Gerichtssaal gesperrt.
Die drei Frauen sagten aus, daß sie zum Mitmachen gezwungen worden seien und in beständiger Angst vor Malcolm gelebt hätten. Der Richter betrachtete als Hauptanklagepunkt nicht die Einbrüche, sondern "Sex mit weißen Frauen" und verurteilte Malcolm und seinen Freund zu je acht bis zehn Jahren Zwangsarbeit. Bea bekam fünf Jahre, war aber nach sieben Monaten wieder draußen, die beiden anderen Weißen kamen auf Bewährung frei.
Malcolm kam in das Charlestown-Gefängnis südwestlich von Boston. Es war um 1800 erbaut worden und so sah es auch aus. Die Zellen waren wenig über zwei Meter lang und hatten weder fließendes Wasser noch Toiletten, dafür umso mehr Ungeziefer.
In Charlestown suchte Malcolm erst die Nähe seiner weißen Mithäftlinge, dann beeindruckte ihn der schwarze "Gefängnisguru" Bembry immer mehr. Zum ersten Mal lernte Malcolm einen Menschen kennen, der durch Reden Aufmerksamkeit und Achtung erweckte. Sie freundeten sich an. Er fragte Bembry nach allem aus und fing an, Bücher zu lesen -von Äsops Fabeln bis "Moby Dick".
Im Januar 1947 wurde er in ein anderes Gefängnis verlegt. Dort erhielt er Post von seinem Bruder, daß er die "natürliche Religion" für Schwarze entdeckt habe: er und drei Geschwister seien der "Nation des Islam" (Nation of Islam) beigetreten: Das Jüngste Gericht, der Endkampf zwischen Guten und Bösen, das heißt zwischen Schwarzen und Weißen, stehe bevor. Malcolm wollte aber mit religiöser Erleuchtung in Ruhe gelassen werden.
Beitritt zur "Nation des Islam"
Im März 1948 wurde Malcolm nach Norfolk verlegt, das wegen seines liberalen Strafvollzugs als Paradies galt. Dort besuchte ihn sein Bruder Reginald, um ihn weiter zu agitieren. Er eröffnet ihm, alle Weißen seien Teufel. Malcolm dachte lange darüber nach, ging die Weißen, die er kennengelernt hatte, im Geist durch. Bei Reginalds nächstem Besuch war er aufnahmebereit. Reginald erklärte, daß durch die Sklaverei die Schwarzen ihre kulturellen Wurzeln beraubt worden und deshalb "geistig tot" seien.
Malcolm schrieb einen Brief an den Sektenführer Elijah Muhammed. Als Antwort erhielt er Geld und einen Brief in dem ihm erklärt wurde, daß nicht er, sondern die weiße Gesellschaft kriminell sei. Mit großer Mühe rang sich Malcolm zur "Unterwerfung unter Allah" durch. Es kostete ihn eine Woche, bevor er es über sich brachte, niederzuknien und um Vergebung zu beten. Am 10. März 1949 trat er der "Nation des Islam" bei.
Karl Marx schrieb 1844: "Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks." Für Malcolm, den die kapitalistische und rassistische Gesellschaft der USA so tief in die Gosse gestoßen hatte, war die "Unterwerfung unter Allah" notwendig, um sich der Gesellschaft gegenüber wieder aufrichten zu können. Sie war für ihn eine Krücke mit der er selbständig gehen und Vertrauen zu sich zu gewinnen lernte - bis sie zu einer Fessel wurde. Aber zunächst gab der Islam (oder vielmehr Elijah Muhammads Karikatur des Islam) Malcolm die Kraft, sein Leben völlig umzustellen.
Er nahm jetzt die Sonnenbäder, die ihm schon seine Mutter verordnet hatte, um dunkler zu werden, ließ sich den Kopf kahlscheren und las mit noch mehr Eifer als vorher. Er beschäftigte sich mit Geschichte, vor allem mit der Geschichte der Sklaverei, und Philosophie. Was er las, gab er allen weiter, die ihm zuhören wollten. Um seinen Wirkungsradius zu vergrößern, schrieb er Briefe. Er beteiligte sich am Debattierclub des Gefängnisses, um öffentliches Reden zu lernen.
Durch diese Tätigkeiten kam er zu der Schlußfolgerung, daß er sein ganzes Leben in einem Gefängnis verbracht habe, und jetzt im Gefängnis durch den Islam befreit wurde. Eine erste Belastungsprobe erlebte seine religiöse Unterwerfung, als Reginald wegen "Sex außerhalb der Ehe" aus der "Nation des Islam" ausgeschlossen wurde. Auf Befehl von Elijah Muhammed brach die Familie den Kontakt mit Reginald ab. Der brach zusammen wie seine Mutter Jahre vorher. Die folgenden Jahr verbrachte er teils innerhalb, teils außerhalb von Irrenhäusern.
Die letzten Jahre im Gefängnis
Im März 1950 wurde Malcolm nach Charlestown zurückverlegt. Dort kämpfte er dafür, im Gefängnis dem Koran gemäß leben zu können (nach Mekka gerichtete Zelle, Essen ohne Schweinefleisch etc.), aber nur teilweise mit Erfolg. Einige Köche tauchten sogar extra Malcolms Eßgefäße vor dem Essensausteilen in Schweinefett. Deshalb ernährte er sich zeitweise nur von Brot und Käse.
Im Juli 1952, kurz bevor Malcolm entlassen werden sollte, gab es noch einen Zwischenfall: In der Wäscherei, in der er arbeitete, gab es einen Streik, weil die Häftlinge Kleidung für ihre Wärter waschen sollten. Der Konflikt eskalierte, zwei Wärter wurden als Geiseln genommen. Malcolm war nicht daran beteiligt, gemäß Elijah Muhammads Lehre, daß man Autoritäten (einschließlich "weißen Teufeln") gehorchen muß, wenn ihre Anordnungen nicht direkt seinen Lehren widersprechen.
Im August wurde er freigelassen. Aber einige Monate später wäre er beinahe wieder in den Knast gekommen wegen Kriegsdienstverweigerung. 1950 hatte der Koreakrieg angefangen und Muhammad verbot seinen Anhängern den Kriegsdienst. Schließlich wurde er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Dem in diesem Fall fälligen Ersatzdienst entging er auf gewohnte Art: Der Psychiater attestierte ihm eine "asoziale Persönlichkeit mit paranoiden Tendenzen". Malcolm ließ sich in Detroit nieder.
II. Agitator der Schwarzen Moslems
Wie sah das Land aus, in das Malcolm entlassen worden war? 1952 war die Lage der amerikanischen Schwarzen alles andere als rosig. Sie hatten eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, das Jahreseinkommen war etwa 40% niedriger, die Kindersterblichkeit um über 75% höher. Der Analphabetismus betrug 10%, bei Weißen 1,8%. Der Staat Mississippi gab für Schulbildung eines weißen Kindes mehr als dreimal so viel aus wie für die eines schwarzen. In Florida mußten sie zum Teil verschiedene Schulbücher benutzen. In sieben Staaten wurden Tuberkulose-PatientInnen nach Rassen getrennt, in elf Staaten die Schulkinder in Blindenschulen.
Geschichte der Schwarzen Moslems
Die Detroiter Moschee der "Nation des Islam" hieß Tempel Nummer Eins, weil sie die erste Gründung von Elijah Muhammads Bewegung war. Muhammads AnhängerInnen wurden Schwarze Moslems genannt, obwohl sie selbst sich als normale Moslems verstanden. Tatsächlich waren viele ihrer Lehren mit dem orthodoxen Islam unvereinbar. Muhammad behauptete steif und fest, daß es keine weißen Moslems gebe. Er behandelte seine Anhänger als seine Kinder, im kleinen Kreis bezeichnete er sie als Babys.
Elijah Muhammed hieß ursprünglich Robert Poole. In den Zwanzigern war er wie Earl Little Aktivist in Garveys UNIA. Um 1930 begegnete er dem Regenmantel- und Seiden- (und Drogen-) händler Wallace Dodd Ford, der ihm erklärte, alle Weißen seien Teufel. Ford bezeichnete sich selbst mal als hellhäutigen Schwarzen, mal als Araber, mal als Halb-Polynesier, gegenüber Weißen auch als Weißen. Ford, der sich später Wallace Delaney Fard nannte, behauptete aus Mekka zu kommen und ein Bote Allahs zu sein. Gegen eine Gebühr änderte er die Nachnamen seiner Anhänger in "X", zum Zeichen, daß ihr früherer Name ein Sklavenname und ihr eigentlicher Name unbekannt sei. Wenn ein Vorname mehrfach auftauchte wurde durchgezählt ("2X", "3X"...). So wurde auch aus Malcolm Little Malcolm X. Später wurde das X oft durch arabische Namen ersetzt.
1933 wurde Ford mehrmals verhaftet, Muhammad wurde sein Stellvertreter. 1934 verschwand Ford auf mysteriöse Weise, Muhammad stellte sich an die Spitze der Bewegung, übersiedelte aber nach Chicago, weil in Detroit Fords Anhänger zu stark waren. Er brachte sie erst allmählich unter seine Kontrolle. Er lehrte, bis 1936 würden alle Weißen aussterben, dafür würden die älteren Schwarzen wieder jung und potent werden. Außerdem erklärte er, Ford sei Allah selbst gewesen und damit er (und nicht Ford) Allahs Botschafter. Nach Fords Verschwinden bekam Muhammad zunehmend Angst, ermordet zu werden. Er reiste von Ort zu Ort und ließ sich von seinen Anhängern aushalten. Seine Frau und acht Kinder mußten jahrelang ohne ihn auskommen.
Malcolm wird Muhammads Vertrauter
Im Herbst 1952 lernte Malcolm Elijah Muhammad zum erstenmal persönlich kennen. In den folgenden Monaten versuchte er unermüdlich, neue Mitglieder für die "Nation of Islam" zu gewinnen. Im Juni 1953 wurde er einer der Assistenten des Detroiter Priesters der Schwarzen Moslems. Muhammad wird für ihn eine Art Ersatzvater, der liebende Vater, den er nie hatte (nach einiger Zeit erwies er sich aber als genauso tyrannisch wie sein richtiger Vater). Nachdem Malcolms Bewährungsfrist abgelaufen war und er sich wieder frei bewegen konnte, wurde er nach Boston geschickt, um dort eine Moschee zu eröffnen.
Die "Nation des Islam" forderte von ihren Mitgliedern einen asketischen Lebensstil: kein Alkohol, keine anderen Drogen (auch nicht Zigaretten), kein Glücksspiel, keine Form von Kriminalität, harte Arbeit mit wenig Urlaub, wenig Schlaf, möglichst kein Besuch von Sportveranstaltungen und Kinos, kein Fernsehen (später als Malcolm selbst häufig im Fernsehen war, waren derartige Sendungen erlaubt), kein Tanzen, keine Kosmetik bei Frauen. Die Mitglieder sollten auf Sauberkeit achten und möglichst nur einmal am Tag essen.
Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen waren noch strenger geregelt: In der Moschee mußten sie getrennt sitzen, "um die Aufmerksamkeit nicht abzulenken". Sie dürften nicht zusammen Schwimmen gehen, private Verabredungen waren verpönt, Sex außerhalb der Ehe streng verboten. Diese Lebensweise hat zumindest gründlich das Märchen widerlegt, daß Schwarze von Natur aus geile, faule, sportverrückte und kriminelle Suffköpfe seien.
Malcolm war unter solchen Moralaposteln, wie es seine Eltern gewesen waren -nur daß jetzt die Moralvorschriften auch eingehalten wurden. Malcolm unterwarf sich der starren Disziplin der "Nation des Islam" aus Angst, sonst in seine alte Lebensweise zurückzufallen.
Leiter des Tempel Sieben in Harlem
Im März wurde Malcolm Priester in Philadelphia, um die dortige Organisation auf Vordermann zu bringen. Nach getaner Arbeit wurde er Priester in New York City. New York und vor allem Harlem war einer wichtigsten Plätze für die Schwarzen Moslems.
Harlem war einige Jahrzehnte vorher noch ein Nobelviertel gewesen. Aber die Überbevölkerung und der Zustrom von Schwarzen führte zu einer panikartigen Flucht der feinen weißen Herren. Die Grundstückspreise purzelten, Immobilienspekulanten kauften billig große Flächen und verkauften und vermieteten sie dann zu Wucherpreisen und -mieten an Schwarze (oder an Weiße, die um jeden Preis ihren Häuserblock "reinrassig" halten wollten). In den Zwanzigern verkam Harlem.
Nicht nur die Häuser, auch die Infrastruktur war verheerend. Es gab ín ganz Harlem nur zwei Spielplätze, wo die Kinder am Sandkasten schlangestehen mußten, bis sie drankamen. Als dann In den Dreißigern in New York 255 neue Kinderspielplätze gebaut wurden, lag nur einer davon in Harlem. Auch sonst wurde Harlem (und die anderen Schwarzen-Ghettos) von den Behörden systematisch benachteiligt.
Als Malcolm im Juni 1954 in New York ankam, war die Lage noch verschärft durch eine Wirtschaftskrise. Der New Yorker Tempel Sieben war damals unbedeutend und fast unbekannt. Malcolm begann eine Propagandakampagne. Dabei führte er den New Yorker und die anderen Tempel autoritär (etwas anderes hatte er nirgends erlebt): wer widersprach, flog.
Er war unermüdlich, auch das notwendige Geld für die Organisation (und das Wohlleben von Elijah Muhammad, der ein Haus mit 18 Zimmern bewohnte) aufzutreiben. Er war nicht nur Muhammads Hauptpriester und Feuerwehr, wenn es irgendwo in der Organisation Schwierigkeiten gab, sondern auch oberster Geldeintreiber. In den sieben Jahren nach Malcolms Entlassung aus dem Gefängnis stieg die Mitgliedschaft von ein paar hundert zu Zehntausenden.
Im April 1957 gab es ein Ereignis, das die Schwarzen Moslems weithin bekannt machte. Ein Schwarzer wurde bei einem Streit mit der Polizei brutal zusammengeschlagen. Es sammelte sich eine empörte Menschenmenge an, darunter auch das Nation-Mitglied Hinton. Als Hinton gehen wollte, wurde er grundlos angegriffen, nach einem Gerangel verhaftet, zur Polizeiwache gebracht und dort weiter mißhandelt. Vor der Polizei versammelten sich einige Schwarze Moslems, denen sich andere zugesellten. Schließlich waren Tausende da, die Malcolms Forderung, Hinton in ein Krankenhaus zu bringen, Nachdruck verliehen.
Das Ergebnis der Angelegenheit war, daß Hinton 70.000 Dollar Schmerzensgeld erhielt (die höchste Summe, die ein Opfer von Polizeigewalt in New York je erhalten hatte) und viele Weiße entsetzt waren, welche Autorität Malcolm bei den Harlemer Schwarzen hatte.
1959 lief im Fernsehen ein Dokumentarfilm über die Schwarzen Moslems, in dem Malcolm als der prominenteste Vertreter der "Nation des Islam" dargestellt wurde. Der Film löste in der weißen Gesellschaft einen Schock aus. Zeitschriften berichteten daraufhin über die Schwarzen Moslems. In vier Jahren erschienen drei Bücher über die "Nation des Islam". Malcolm wurde ein gefragter Redner. Er konnte sich auf sein jeweiliges Publikum einstellen, ob es Leute aus dem Ghetto waren oder StudentInnen.
Malcolm und die Frauen
Malcolm teilte die frauenfeindliche Ideologie der "Nation des Islam". Frauen sollten sich von Männern beschützen lassen und ansonsten wenig zu sehen sein. Er schrieb ihnen alle möglich schlechten Eigenschaften und schädlichen Einflüsse auf die schwarzen Männer zu. Ansonsten war er so arbeitssüchtig, daß er sowieso keine Zeit für Frauen zu haben schien.
Trotzdem fand er eines Tages Zeit, sich mit einer Glaubensgenossin im Naturgeschichtlichen Museum zu verabreden, um ihr dort Elijah Muhammads Theorie zu erklären, wonach Schweine große Nagetiere seien. Obwohl er auch dieser Frau gegenüber Angst hatte, Distanz zu verlieren, fragte er sie nach einigen Monaten (vorsichtshalber am Telefon), ob sie heiraten wolle. So heirateten sie am nächsten Tag. Geliebt hat er sie damals nicht gerade.
Anders als sein Vater seine Mutter oder er seine Freundinnen früher hat er sie nicht geschlagen, aber das war wohl der einzige Fortschritt, den er gemacht hat. Tyrannisiert und rumkommandiert hat er sie ständig. Auf seinen vielen Reisen nahm er sie nie mit. Seine Frau zu umarmen oder zu küssen hielt er für Hollywood-Unsinn und Ausdruck von weißer Gehirnwäsche. Sie gab sich größte Mühe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, eine gute Hausfrau zu sein und glückliche Familie zu spielen.
Es scheint, daß Malcolm dringender als eine Frau einen Sohn haben wollte. Aber das klappte nicht so recht. Stattdessen benannte er seine Töchter nach "großen" Männern, nach Attilla dem Hunnen (Attallah), Kublai Khan (Qubilah), Elijah Muhammad (Ilyasah) und dem kongolesischen Revolutionär Lumumba (Gamilah Lamumbah). Er nahm er sich kaum Zeit für sie. So fiel ihm nach vielen Jahren plötzlich auf, daß er nie ein Spielzeug für seine Kinder gekauft hatte. Wenn er doch mal mit seinen Kinder zusammen war, war er sehr aufmerksam ihnen gegenüber. Aber seine Frau ermahnte er, noch strenger zu sein, als sie es ohnehin war.
Die Haltung Malcolms gegenüber Frauen war weniger persönliche Unzulänglichkeit als die Folge jahrhundertelanger Unterdrückung: In der Sklaverei hatten Frauen in der Regel dieselbe harte Arbeit auf den Zuckerrohr- und Baumwollfeldern machen müssen wie die Männer. Sie wurden genauso mißhandelt, gegen die Nachstellungen und Vergewaltigungsversuche ihrer Herren konnten ihre Väter oder Brüder oder Männer sie nicht schützen, höchstens sie selber.
Die Sklavin, die nach dem Tod ihrer Herrin zum Sarg schlich, um sie endlich einmal ohrfeigen zu können, war die Realität, nicht die Kitschfiguren aus "Onkel Toms Hütte" oder "Vom Winde verweht". Schwarze Frauen beteiligten sich an Sklavenaufständen oder flohen. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei hatten viele schwarze Frauen noch eine riesige Verantwortung, als Arbeiterinnen (1910 waren 54% der schwarzen, aber nur 19% der weißen Frauen lohnabhängig), als alleinerziehende Mütter usw. Sie konnten vor ihr fliehen, unter ihr zusammenbrechen (wie Malcolms Mutter), aber auch großes Selbstvertrauen daraus gewinnen. Amerikanische Sozial"wissenschaftler" haben noch vor wenigen Jahrzehnten ernsthaft behauptet, die Schwierigkeiten der Schwarzen in der US-Gesellschaft lägen daran, daß ihre Frauen zu wenig unterdrückt seien.
Tatsächlich paßte die Realität vieler schwarzer Familien wenig zu der Familienideologie der weißen kleinbürgerlichen Amerika, die erst in den letzten Jahrzehnten durch die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen ins Wanken geraten ist. Schwarze Männer konnten entweder die Gleichberechtigung der Frauen akzeptieren und die Unterdrückung der schwarzen und weißen Frauen bekämpfen (wie es etwa im vorigen Jahrhundert der bedeutendste Führer der Anti-Sklaverei-Bewegung Frederick Douglass tat) oder die Machtverhältnisse der weißen Gesellschaft mit Gewalt "importieren". Malcolm hatte nur die zweite Variante kennengelernt.
Ideologie der Schwarzen Moslems
Eine der Hauptforderungen der "Nation des Islam" war wie schon bei Garvey ein eigenständiger Staat. Er sollte entweder in Afrika oder in einem aus den USA herausgeschnittenen Gebiet entstehen. Der Versuch, sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren, sei zum Scheitern verurteilt. Eine Vermischung der Rassen sei schädlich. Prominente Schwarze, die weiße Frauen heirateten, wurden scharf angegriffen.
Es ist falsch, den Schwarzen Nationalismus mit dem Nationalismus und Chauvinismus weißer Amerikaner auf eine Stufe zu stellen. Trotzki bezeichnete einmal den Nationalismus unterdrückter Nationen "als Hülle eines unreifen Bolschewismus". Der Nationalismus von Unterdrückernationen ist immer reaktionär. Der Nationalismus unterdrückter Nationen hat auch reaktionäre, aber auch überaus revolutionäre Seiten. Den einen Nationalismus bekämpfen wir mit aller Kraft, beim anderen versuchen wir durch solidarische Kritik den revolutionären Kern zu entwickeln und von der reaktionären Hülle zu trennen.
Paradebeispiel, daß der eigenständige Staat möglich sei, war für Malcolm die Gründung des Staats Israel 1948. Und das, obwohl Malcolm bei anderen Gelegenheiten sich nicht scheute, antisemitische Vorurteile für seine Propaganda auszunutzen.
Lenin und Trotzki waren der Ansicht, daß nach dem Sturz des Kapitalismus Juden, die das gerne wollen, das Recht haben sollen, unter sich zu sein - und nach der Oktoberrevolution wurde auch eine jiddische Sowjetrepublik geschaffen. Aber einen jüdischen Staat im Kapitalismus wäre eine reaktionäre Utopie.
Und was ist aus Israel tatsächlich geworden: ein Brückenkopf des US-Imperialismus, in dem die PalästinenserInnen brutal unterdrückt werden, in dem aber auch die jüdische Bevölkerung mit Massenarbeitslosigkeit, Wohnungskatastrophe und Angst vor dem Terror bis aufs Blut gereizter palästinensischer Jugendlicher leben muß. Israel ist das beste Argument gegen und nicht für die Möglichkeit eines Schwarzen-Staats
Vorwürfen, die Forderung nach Abtrennung würde eine Art Apartheid bedeuten, hielt Malcolm entgegen, daß die freiwillige Abtrennung etwas anderes sei, als die erzwungene Rassentrennung, bei der die Kontrolle über die Schwarzen bei den Weißen bleibt. Trotzki hatte in den Dreißiger Jahren seinen amerikanischen GenossInnen geraten, Forderungen nach einem unabhängigen Schwarzen-Staat in den USA zu unterstützen, wenn sie von den Schwarzen selbst erhoben würden. Damals gab es aber noch mehrere US-Bundesstaaten mit schwarzer Bevölkerungsmehrheit.
Durch die Mechanisierung der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verloren Millionen schwarze Landarbeiter und Kleinpächter ihre Arbeit. Viele wanderten in die großen Industriezentren des Nordens ab. Von 1870 bis 1939 gingen 2,2 Millionen Schwarze nach Norden, von 1940-1959 2,4 Millionen. Damit wurde die Forderung nach einem eigenen Staat immer undurchführbarer. Von den Schwarzen im Norden lebten 1960 95% in Großstädten. Wie könnte ein lebensfähiger Staat aus den Schwarzen-Ghettos der Großstädte bestehen?
Gegen solche Argumente machte sich die "Nation des Islam" unempfindlich mit ihrem religiösen Katastrophenglauben: Bald kommt das Jüngste Gericht, Allah wird die Weißen Teufel strafen und vernichten und dann gehört die Welt wieder den Schwarzen, den eigentlichen Menschen.
Dieser Glaube an die Erlösung durch Allah wurde gezielt geschürt und benutzt, um die AktivistInnen der Schwarzen Moslems von politischen Aktivitäten abzuhalten. Die Mitglieder mußten alle Gesetze, soweit sie nicht den Lehren Elijah Muhammads direkt widersprachen (wie das die Wehrpflichtgesetze taten), gehorchen. Im Frühjahr 1962 kam es vor dem Tempel von Los Angeles zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit der Polizei, nachdem zwei Polizisten zwei Schwarze Moslems provoziert hatten. Dabei erschoß ein Polizist den Priester der Schwarzen Moslems von Los Angeles, obwohl er wußte, daß der unbewaffnet war. Aber Muhammad befahl seinen Anhängern, ihre Sektenzeitung intensiver zu verkaufen und auf die Strafe Allahs für die Weißen Teufel zu warten. Malcolm fuhr nach Los Angeles und versprach den ungeduldigen Anhängern eine Zunahme der Autounfälle und Flugzeugabstürze.
Später erkannte Malcolm selbst: "Die Bewegung der Schwarzen Moslems war so organisiert, daß sie die militantesten, die kompromißlosesten, die furchtlosesten und jüngsten des Schwarzen Volkes in den Vereinigten Staaten anzog. (...) Aber all diese Kämpfer der vordersten Front wurden in Schach gehalten von einer Organisation, die sich an nichts aktiv beteiligte." (Rede im Audubon-Ballsaal in Harlem, am 15. Februar 1965)
Deshalb, weil sie wie ein Schwamm die radikalsten schwarzen Jugendlichen aufsaugte und aus dem Verkehr zog, war die "Nation des Islam" für die Herrschenden in den USA überaus nützlich. Deshalb schritt die Regierung nicht gegen sie ein, obwohl sie genug Möglichkeiten dafür gehabt hätte.
Korruption
Je mehr die "Nation des Islam" wuchs, desto mehr Geld war aus ihr herauszupressen. Muhammad und sein Familienclan widmeten sich dieser Tätigkeit mit immer größerer Leidenschaft. Sie betrieben Läden auf eigene Rechnung und nötigten ihre Mitglieder, in ihnen einzukaufen. Auch die vielen von der Organisation betriebenen Läden, Restaurants etc. arbeiteten weitgehend für den Luxus des Muhammad-Clans. Sie gehörten nur formell der "Nation des Islam", um die Steuervorteile, die für religiöse Einrichtungen galten, zu nutzen. Nur die Einrichtungen unter Malcolms Aufsicht kamen dem Aufbau der Organisation zugute. Muhammad lud regelmäßig "Weiße Teufel" zum Essen ein, um mit ihnen über die Geschäfte zu reden.
Aber nicht nur mit normalen weißen Kapitalisten machte Muhammad Geschäfte, auch mit den rassistischen Terroristen des Ku-Klux-Klan und der American Nazi Party (Amerikanische Nazi-Partei, später in "Nationalsozialistische Partei des Weißen Volkes" umbenannt) versuchte er ins Geschäft zu kommen.
Malcolm führte damals für ihn die Verhandlungen mit dem Klan. Kurz vor seinem Tod enthüllte er: "Im Dezember 1960 war ich in der Wohnung von Jeremiah, dem Priester [der "Nation des Islam"] in Atlanta, Georgia. Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich werde Euch jetzt die Wahrheit sagen. Ich saß selbst mit den Spitzen des Ku-Klux-Klans am Tisch, die damals mit Elijah Muhammad zu verhandeln versuchten, damit sie ihm ein großes Landgebiet in Georgia - oder ich glaube, es war South Carolina- zur Verfügung zu stellen. Sie hatten einige sehr verantwortliche Personen in der Regierung, die darin verwickelt waren und das unterstützen wollten. Sie wollten ihm dieses Land zur Verfügung stellen, damit sein Programm der Abtrennung den Negern machbarer erscheinen sollte, und deshalb den Druck der Anhänger der Integration [der Schwarzen] auf den weißen Mann verringern sollte. (...) Von diesem Tag an kam der Klan nie der Bewegung der Schwarzen Moslems im Süden in die Quere" (Ebenfalls Rede vom 15.2.1965)
Ein weiterer Hammer war, daß Elijah Muhammad den Sex außerhalb der Ehe, den er bei anderen verdammte, selbst ausgiebig praktizierte. Er sagte einer jungen Mitarbeiterin einfach, daß es Allahs Wille sei, daß sie mit ihm schlafe. Damit sie den Mund hielten, bekamen die Frauen und die sich häufenden unehelichen Kinder schöne Wohnungen auf Kosten der enthaltsamen Gläubigen. Unter den Opfern des brünftigen Greises befanden sich auch minderjährige Mädchen und Weiße.
Malcolm versuchte lange vergeblich, die Wahrheit aus seinem Kopf zu verdrängen. Als das nicht mehr ging, tröstete er sich damit, daß man an einen Boten Gottes halt andere Maßstäbe anlegen müsse als an einen Normalsterblichen.
Malcolm versuchte so lange es ging, der Einsicht zu entgehen, daß er einem Scharlatan und Gangster auf den Leim gegangen war. Er wollte die Bewegung, die ihm selbst so viel gegeben hatte und in die er so viel Kraft gesteckt hatte, nicht verloren geben. Genausowenig wollte er, daß Tausende, die sich wie er mit Hilfe der "Nation des Islam" aus der Gosse emporgearbeitet hatten, verzweifelten und sich wieder fallen ließen. Außerdem würde er selbst bei einem Bruch mit der "Nation des Islam" vor dem Nichts stehen.
Also diente er Muhammad so treu wie bisher weiter. Aber gerade seine Selbstlosigkeit machte ihn dem Muhammad-Klan verdächtig und bedrohlich. Allmählich entwickelte sich ein immer deutlicherer Machtkampf, bei dem Malcolm auch Zweifel an der Nation-Ideologie durchblicken ließ. 1959 war Malcolm erstmals im Nahen Osten gewesen. Öffentlich versicherte er danach zwar, daß es keine weißen Moslems gebe, aber gelegentlich deutete er an, daß er es besser wußte. Auch die Lehre, daß ein gewisser Yakub vor einigen tausend Jahren ein tiefes Loch gegraben, es mit Sprengstoff gefüllt und so den Mond von der Erde abgesprengt hatte, vertrat er nicht mehr mit Feuereifer. Überhaupt begann er in Reden so viele Sätze mit "der Ehrwürdige Elijah Muhammad lehrt...", daß er bald in den Verdacht geriet, er wolle sich dadurch von seinen eigenen Aussagen distanzieren.
Allmählich drängte sich aber ein Konfliktpunkt in den Vordergrund, der indirekt auch mit der Korruption zu tun hatte. Denn einer der Gründe, warum Muhammad jede politische Betätigung ablehnte, war, daß er Sorge hatte, sonst die Steuervorteile, die die "Nation des Islam" als Religionsgemeinschaft hatte, zu verlieren. Diese antipolitische Haltung wurde aber immer untragbarer, je mehr die Bürgerrechtsbewegung an Gewicht gewann.
Die "Nation des Islam", die den Anspruch hatte, den Schwarzen zu helfen, boykottierte die Bürgerrechtsbewegung vollständig. Diese Haltung konnte Malcolm keinesfalls auf Dauer mittragen. 1963 hatte sich die Bürgerrechtsbewegung Birmingham in Alabama als Schwerpunkt ausgesucht. Die Stadt galt als Hochburg der Rassentrennung. In ihr war sogar ein Buch ausdrücklich verboten, in dem gezeigt wurde, wie sich schwarze und weiße Kaninchen vermischen. Diesmal schloß der weiße Terror sogar Bombenanschläge ein. Die dadurch provozierten Unruhen gaben den Vorwand für verschärften Polizeiterror. In dieser Situation kündigte der örtliche Priester der Schwarzen Moslems an, Malcolm werde kommen und mehrere Veranstaltungen abhalten. Malcolm ließ das kurz danach dementieren. Es entstand das Gerücht, Elijah habe die Reise verboten.
Im August, als mit dem Marsch auf Washington die Bürgerrechtsbewegung ihrem Höhepunkt entgegenging, hatte Malcolm nur Hohn und Spott dafür übrig. Damit erfüllte er einerseits Muhammads direktiven, andererseits konnte man seine Angriffe auch als radikale politische Kritik an der "Farce von Washington" lesen.
1959 hatte Malcolm versucht, die Linie zu ändern. Er versuchte, die Genehmigung von Muhammad zu erhalten, den Harlemer Tempel bei einem Boykott von Läden zu beteiligen, die keine Schwarzen einstellten. Er organisierte eine Demonstration in Newark und mußte sich dafür auf Muhammads Befehl öffentlich entschuldigen. Später gab es neue Vorstöße Malcolms. Unter anderem unterstützte er öffentlich die Bestrebungen, die Beschäftigten der New Yorker Krankenhäuser gewerkschaftlich zu organisieren. Er besuchte einige Monate später, im Juli 1963, auch streikende Bauarbeiter. Daneben versuchte er, die Beziehungen zu linken Gruppierungen und zur Bürgerrechtsbewegung zu verbessern.
Als die Differenzen immer mehr durchsickerten, versuchte Malcolm den Konflikt in "Sklavensprache" zu erklären: "Der Bote [Muhammad] hat Gott gesehen. Er war mit Allah und hat göttliche Geduld erhalten. (...) Er ist willens darauf zu warten, daß Allah sich mit diesem Teufel befaßt. Aber, mein Herr, der Rest von uns Schwarzem Moslems hat Gott nicht gesehen. Wir haben nicht die Gabe göttlicher Geduld mit dem Teufel. Die jüngeren Schwarzen Moslems wollen etwas Action sehen!"
Der Bruch
Muhammad fühlte sich durch Malcolms ständige politische Erklärungen provoziert. Ein Ereignis aber brachte das Faß zum Überlaufen, nämlich die Ermordung Präsident Kennedys im November 1963. Malcolm hatte für Kennedy nichts übrig. Er hatte ihn gelegentlich als Gefängnisdirektor des Gefängnisses USA tituliert. 1960 im Wahlkampf hatte Kennedy versprochen, daß er nach der Wahl die Rassendiskriminierung bei staatlich gefördertem Wohnraum verbieten werde. Er erklärte, dazu bedürfe es nur eines Federstrichs. Nach der Wahl brauchte er dann fast zwei Jahre, bis er seine Schreibfeder fand und den Strich tat. Malcolm warf Kennedy vor, lieber die Berliner Mauer als die "Alabama-Mauer" der Rassentrennung zu bekämpfen.
Muhammad hatte strikte Order gegeben, das Attentat nicht zu kommentieren. Wegen seiner eigenen Angst vor Attentaten war er in dieser Sache wohl besonders empfindlich. Malcolm hielt sich über eine Woche lang an die Anweisung. Am 1. Dezember hielt er einen Vortrag. Es war fast unvermeidlich, daß bei der Fragerunde danach jemand das Attentat ansprechen werde und es geschah. Malcolm wies auf die Beihilfe der Kennedy-Regierung bei der Ermordung des revolutionären kongolesischen Regierungschefs Lumumba und andere Militärputsche mit Todesfolge hin und machte klar, daß er kein Mitgefühl für Kennedy verspürte. Am nächsten Tag verbot Muhammad Malcolm bis auf weiteres, öffentliche Erklärungen abzugeben. Das galt auch für seine allwöchentlichen Predigten.
Malcolm legte das Redeverbot etwas eigenwillig aus. Er telefonierte munter mit Journalisten und erklärte, daß das Verbot in spätestens drei Monaten wieder aufgehoben würde. Auch sonst sorgte er dafür, daß die Medien ihn nicht vergaßen.
Ein Zufall kam ihm dabei zur Hilfe: der Boxer Cassius Clay, der sich gerade auf den Box-Weltmeisterschaftskampf gegen den amtierenden Schwergewichtsweltmeister Liston vorbereitete, lud ihn in sein Trainingslager. Das verschaffte ihm wieder eine Weile Medienpräsenz, ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte. Daneben stärkte er Clay (der sich nach seinem Sieg zum Islam bekannte und seinen Namen in Muhammad Ali änderte) psychologisch den Rücken, indem er den Kampf zum Kampf zwischen Islam und Christentum erklärte und Clay die Hilfe Allahs versprach.
So sehr Clay vor seinem Sieg Malcolm nützlich war, so sehr schadete er ihm durch den Sieg. Jetzt war er der Held und das Idol der schwarzen Jugendlichen. Jetzt hatte die "Nation des Islam" ein neues Aushängeschild ohne Malcolms bedrohliche Intelligenz und seinen politischen Ehrgeiz. Malcolms Chancen, seine alten Funktionen wiederzuerlangen, waren im Keller. Im März 1964 zog er daraus die Konsequenzen. Am 12. März hielt er eine Pressekonferenz ab, in der er erklärte, daß er gezwungenermaßen die "Nation des Islam" verlasse und jetzt das Beste daraus machen wolle.
III. Revolutionär und Internationalist
Malcolms Lage nach dem Verlassen der "Nation des Islam" war keineswegs einfach. Es waren ihm nur wenige AnhängerInnen gefolgt und er selbst erklärte, keine Konkurrenzorganisation aufbauen zu wollen und riet, in der "Nation des Islam" zu bleiben. Vielleicht hoffte er, daß die Organisation, für die er sich so lange aufgeopfert hatte, doch reformierbar sei. Vielleicht dachte er, es sei besser, Muhammad nicht zu sehr zu provozieren. Außerdem hatte er als Papagei Muhammads so lange den Gläubigen Dinge erzählt, an die er nicht mehr glaubte, daß er jetzt die Kurve kriegen mußte, um nicht völlig unglaubwürdig zu werden. Zum dritten stimmten seine AnhängerInnen noch im Wesentlichen mit Muhammads Ideologie überein, wenn auch nicht mit seinem Lebenswandel, und es war schwierig, neue Leute zu gewinnen, ohne die alten auch noch zu verlieren.
Auf seiner Pressekonferenz kündigte er an, daß Muhammads Doktrin der Abtrennung langfristig richtig bleibe, aber kurzfristig etwas getan werden müsse für bessere Ernährung, Kleidung, Wohnungen, Ausbildung und Arbeitsplätze. Er bot den anderen Schwarzenorganisationen dabei Zusammenarbeit an. Er bekannte sich zum Schwarzen Nationalismus, interpretierte ihn aber neu: Ziel sei die Kontrolle über die Politik und die Politiker der schwarzen Wohngemeinde durch die Schwarzen selber und nicht durch die Weißen und ihre Marionetten.
Er kündigte die Gründung einer Muslim Mosque, Inc. (Muslimische Moschee e.V.) an, da er Moslem bleiben wollte. Allerdings dürften sich bei den nichtreligiösen Aktivitäten der Moschee auch Nichtmoslems beteiligen. Er erklärte die Offenheit der Organisation für Hilfe und Unterstützung von allen Seiten, auch von Weißen (die aber nicht beitreten durften).
Zum Schluß der Pressekonferenz betonte er die Notwendigkeit der Selbstverteidigung.
"Reisen bildet"
Seine Schwierigkeit, von seinen alten Positionen loszukommen, versuchte er mit einer Pilgerfahrt nach Mekka, der heiligen Stadt des Islam, zu lösen. Nach einigen finanziellen und religionsrechtlichen Schwierigkeiten (er mußte behördlich als Moslem anerkannt werden, um nach Mekka einreisen zu können) kam er in Mekka an. Von Saudi-Arabien aus schrieb er einen Brief an seine Anhänger in Harlem, in dem er mitteilte, daß es jede Menge weiße Moslems gab und die überhaupt nicht rassistisch seien. Er habe bei ihnen eine Brüderlichkeit erlebt, die er nicht für möglich gehalten habe. Von nun an verkündete er, daß der Islam die Religion der Brüderlichkeit aller Menschen unabhängig von der Hautfarbe sei, und daß ein Moslem zu allen Menschen brüderlich sein müsse, die es zu ihm auch sind.
Kritiker dieser Position haben Malcolm entgegengehalten, daß ja auch islamische Staaten jahrhundertelang Sklavenjagd in Schwarzafrika praktiziert haben. Tatsächlich haben diese Staaten sowohl Schwarze als auch Weiße versklavt. Aber die Sklaverei erstreckte sich nur auf "Ungläubige", innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft gab es traditionell keinen Rassismus. In diesem Punkt ist der Islam nie so tief gesunken wie das Christentum.
In Saudi-Arabien wurde Malcolm zum Staatsgast erklärt. Aber die Beziehung war schwierig. Die Regierung hätte Malcolm gern als Gegengewicht gegen die amerikanische Israel-Lobby gestärkt, wollte aber dabei ihre guten Beziehungen zum US-Imperialismus nicht zu sehr belasten. Malcolm wollte seine Bewegung gern von den Saudis (mit)finanzieren lassen, ohne dabei erneut zur Marionette zu werden. Dieser Drahtseilakt bereitete beiden Seiten Schwierigkeiten.
Von Saudi-Arabien reiste Malcolm nach Beirut und dann nach Afrika: Ägypten, Nigeria, Ghana und nach ein paar Zwischenstops Algerien. Bei seinen Besuchen, vor allem in Ghana, wurde er bei einer Menge bedeutender Persönlichkeiten herumgereicht. Aber selbst Ghana, dessen Regierung als eine der am radikalsten antiimperialistischen in Afrika galt, wollten die US-Regierung nicht zu sehr brüskieren: Nach Malcolms Abreise erschien vorsichtshalber ein kritischer Artikel über ihn in der Staatszeitung.
Zwischenstop zuhause
Am 21. Mai war Malcolm wieder in New York - für kurze Zeit. Er versuchte, seine Organisation etwas ins Laufen zu bringen: er hatte viele SympathisantInnen, aber wenig Mitglieder. Dieses Problem ließ sich nicht leicht lösen. Im Gegenteil, viele seiner Getreuen hatten große Schwierigkeiten, sich von der Weiße-Teufel-Lehre zu trennen. Auch seine Beziehungen zu nahöstlichen und afrikanischen Staatsmännern ließen Befürchtungen aufkommen, daß er sich vielleicht korrumpieren ließ.
Er sah jetzt auch die Zeit gekommen, Muhammad offen anzugreifen. Am 7. Juni sprach er in einer öffentlichen Rede über den Lebenswandel des "Heiligen Mannes" und seine unehelichen Kinder. Angeblich soll die "Nation des Islam" durch den Konflikt mit Malcolm und seine Enthüllungen die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Die "Nation des Islam" wußte nicht, ob sie Muhammads Exzesse abstreiten oder rechtfertigen solle. Sie wußte nur, daß Malcolm zum Schweigen gebracht werden müsse. Aber so weit, das in die Tat umzusetzen, war Muhammad damals noch nicht.
Stattdessen traf man sich vor Gericht wieder: Malcolm wohnte noch in dem Haus, das ihm die "Nation des Islam" früher unentgeltlich zur Verfügung gestellt hatte. Damals hatte er sich geweigert, das Haus auf seinen Namen überschreiben zu lassen, jetzt bekam er die Quittung für seine Uneigennützigkeit: die "Nation des Islam" versuchte, ihn rauszuklagen. Malcolms Argumente standen auf schwachen Füßen. Er versuchte nur, Zeit zu schinden.
Da Malcolms Moschee nur schleppend Anhänger gewann, beschloß Malcolm zusätzlich eine nicht-religiöse Organisation zu gründen. Am 28. Juni führte die "Organisation für afro-amerikanische Einheit" (Organisation of Afro-American Unity, OAAU) ihre erste öffentliche Veranstaltung durch. Das Ziel der Organisation sollte Schwarzer Nationalismus in seiner neuen Bedeutung als Kontrolle der Schwarzen über ihr Lebensumfeld sein. Dazu sollten sowohl politische Kampagnen als auch soziale Programme durchgeführt werden.
Aber von den weitreichenden Plänen konnte fast nichts verwirklicht werden. Neben dem Mitgliedermangel war der Geldmangel das größte Problem. Weiße Geldgeber waren für die Moschee noch zugelassen gewesen. Jetzt wurden sie aus Gründen der Unabhängigkeit abgelehnt -es wollte sowieso niemand. Das gleiche galt für wohlhabende Schwarze, die ihre guten Beziehungen zur weißen Oberschicht nicht gefährden wollten. Auch die schwarzen Kirchen, die die Bürgerrechtsbewegung unterstützten, ließen lieber ihre Finger von Malcolm.
Und die eigenen Mitglieder wollte Malcolm nicht so stark finanziell beanspruchen, wie es in der "Nation des Islam" Brauch war. Der eigentliche Grund war wohl, daß Malcolm seine Position noch nicht gefunden hatte. Er war noch auf der Suche und deshalb nicht in der Lage, mit so viel Leidenschaft und Selbstsicherheit Menschen und Geld heranzukarren, wie er es als Anhänger Muhammads gekonnt hatte.
Beim Aufbau der Organisation und der politischen Entwicklung seiner MitarbeiterInnen waren Malcolms autoritärer Führungsstil und sein Perfektionismus ein Hindernis. Er wollte am liebsten alles selber machen und ließ so den anderen wenig Raum, sich zu entwickeln. Selbst bei seinen ausgedehnten Reisen durften die anderen nichts wichtiges ohne ihn unternehmen, was die Handlungsfähigkeit der Organisation beeinträchtigte.
Erneute Afrika- und Nahostreise
Im Juli traf sich in Kairo die "Organisation für Afrikanische Einheit" (OAU), der Zusammenschluß der unabhängigen afrikanischen Staaten. Malcolm hatte gehofft, für seine OAAU als offizieller Delegierter teilnehmen zu können. Aber Ägypten und andere afrikanische Staaten wollten dann doch nicht die amerikanische Wirtschaftshilfe gefährden.
Immerhin wurde Malcolm als Beobachter zugelassen und hatte mehr Gesprächsmöglichkeiten als die Vertreter des US-Außenministeriums. Malcolms Hauptanliegen bei diesen Gesprächen war, daß die Frage des Rassismus in den USA in den Vereinten Nationen diskutiert werden sollte.
Neben dem Besuch der OAU-Konferenz sollte die Reise der Propagierung von Malcolms Ideen und dem Auftreiben von Geld dienen. Malcolm blieb bis September in Ägypten und reiste dann nach Saudi-Arabien weiter. Dort bemühte er sich erfolgreich um die Anerkennung seiner Moschee als Teil des orthodoxen Islam. Die nächsten Stationen waren Kuwait, Libanon und eine ganze Latte afrikanischer Länder. Dann reiste er nach Europa, in die Schweiz und nach Frankreich. Anders als in Afrika war er da nicht Gast von Staatsoberhäuptern, sondern hielt nur einen Vortrag in Paris. Nach sechs Tagen in den USA ging es wieder nach Europa. Ein Streitgespräch in der Oxforder Universität wurde sogar vom Fernsehen übertragen.
Die vielen Reisen brachten Malcolm aber nicht nur Bekanntheit ein, sondern auch neue Erkenntnisse. So fing er sogar an, seine feindselige Haltung zu Frauen zu revidieren. In einem Interview beschrieb er, daß in den fortschrittlichen Ländern die Frauen auch fortschrittlich sind und in den unterentwickelten und rückschrittlichen Ländern die Frauen das auch sind. "In den afrikanischen Ländern, wo sie für die Ausbildung der Massen, egal ob männlich oder weiblich, eintreten, dort findet Ihr, daß sie eine festere, eine fortschrittlichere Gesellschaft haben." (Interview 27.12.1964). Er trat jetzt auch für Gleichberechtigung ein und gab auch innerhalb der OAAU Frauen mehr Verantwortung. Auch vom Antisemitismus distanzierte er sich deutlicher.
Die Massen, die in vielen Ländern eine Revolution durchgeführt hatten, um die Unabhängigkeit zu erlangen, mußten erleben, daß die neo-kolonialistische Abhängigkeit durch die Hintertür wieder reinkam. Der proklamierte "afrikanische Sozialismus" (weil der Kapitalismus bei den Massen total diskreditiert war) erwies sich als krampfhafter Versuch, den Kapitalismus zu imitieren. So ist die von Malcolm gefeierte "schwarze Revolution" heute völlig auf den Hund gekommen. Aber das afrikanische Chaos von Korruption, bürokratischer Inkompetenz und Stammesfehden ist nicht die Folge afrikanischer "Unterentwicklung", sondern Folge davon, daß der Kapitalismus weltweit seine Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft hat und in ein Stadium der Überreife und Fäulnis eingetreten ist.
"Kein Kontinent von Kannibalen"
Der zentrale Bezugspunkt für Malcolm in seinem letzten Jahr war Afrika. Für den Sohn eines Aktivisten von Garveys "Zurück nach Afrika"-Bewegung erscheint das naheliegend. Aber dieser Vater hatte ja gleichzeitig seinen Sohn wegen dessen heller Hautfarbe bevorzugt. In diesem grotesken Widerspruch zwischen Theorie und Praxis bei Earl Little zeigte sich, wie tief die jahrhundertelange Gehirnwäsche durch die Weißen Wurzeln geschlagen hatte. Afrika wurde als Inbegriff der Rückständigkeit ausgemalt: Kannibalen, die sich als Schmuck Knochen in die Nase stecken, Elend, Unwissenheit, Primitivität. Diese Propaganda führte dazu, daß viele Schwarze ihre afrikanische Herkunft zu hassen begannen. Und nicht nur ihre Herkunft, auch sich selbst, ihren Körper, der sie an Afrika erinnerte. Sie versuchten, wie Malcolms Vater und Malcolm in seiner Jugend, sich den Weißen an den Hals zu werfen. Sie wollten um jeden Preis von ihnen akzeptiert werden.
Diese Tradition hat Malcolm mit aller Entschiedenheit bekämpft. In vielen Vorträgen versuchte er, seine Zuhörer mit der reichen Kultur und Geschichte des afrikanischen Kontinents bekanntzumachen. Zugleich überschüttete er die anti-afrikanische Propaganda mit beißendem Spott. Z. B. 1964 war Bürgerkrieg im Kongo (dem heutigen Zaire). Die Söldner der imperialistischen Staaten versuchten, mit Terror gegen die Zivilbevölkerung die revolutionäre Regierung im Ostteil des Landes zu stürzen. Die ließ deshalb Weiße als Geiseln auf die Dörfer verteilen. Malcolm begründete das so:
"Sie hielten nur deshalb eine Geisel im Dorf fest, um die Söldner davon abzuhalten, die Bevölkerung dieses Dorfs in Massen umzubringen. Sie hielten sie nicht als Geiseln, weil sie Kannibalen waren; oder weil sie dachten, ihr Fleisch wäre schmackhaft. Einige dieser Missionare sind über vierzig Jahre dort gewesen und nicht aufgefressen worden. Wenn sie sie hätten essen wollen, hätten sie sie gegessen, als sie jung und zart waren. Denn alte Weiße sind so schwer verdaulich wie ein altes Hähnchen." (Rede vom 16. Februar 1965)
Einer der Hauptgründe, daß die Schwarzen in den USA Stolz auf ihre afrikanische Herkunft entwickelten, war die afrikanische Unabhängigkeitsbewegung. Vor allem seit dem Sieg der Revolution in Ghana in Westafrika 1957 mußten die Kolonialmächte ein Land nach dem anderen in Afrika räumen. Die Amerikaner sahen im Fernsehen schwarze Staatsoberhäupter, die in der UNO redeten, offensichtlich keine Kannibalen waren, sondern stattdessen fließend englisch sprachen. Sie hatten jetzt etwas in Afrika, womit sie sich identifizieren konnten.
Ein weiterer Grund für Malcolm, die Verbindung mit Afrika zu betonen, betraf die politische Strategie. Die Schwarzen waren und sind eine Minderheit in den USA. Die Bürgerrechtsbewegung hatte daraus die Folgerung gezogen, daß sie die weißen Liberalen als Verbündete braucht. Um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, hüteten sie sich, radikal aufzutreten und legten sich selbst politisch Fesseln an. Malcolm hielt dem entgegen, daß weltweit gesehen die Weißen eine Minderheit sind. Und deshalb sind die farbigen Völker stark genug, daß sie nicht bei den Weißen um Gleichberechtigung zu betteln brauchen, sondern ihre Rechte fordern und erkämpfen können.
Der Haken an der Sache war, daß Malcolm seinen alten Fehler wiederholte: so wie er früher Elijah Muhammad zum Idol machte und seine Zweifel und Kritik für sich behielt, so verherrlichte er jetzt die afrikanische Revolution, um den Schwarzen in den USA Mut und Selbstbewußtsein zu geben. Es war natürlich ein gewaltiger Fortschritt, daß Malcolm jetzt nicht mehr einen Scharlatan und Gangster verherrlichte, sondern wirkliche Revolutionen. Aber da diese Revolutionen halbherzig blieben und bleiben mußten, war der Katzenjammer vorprogrammiert.
"Ein Huhn kann kein Enten-Ei legen"
Daß die Probleme der Schwarzen weder in Afrika noch in Amerika vom Kapitalismus gelöst werden können, hatte aber schon Malcolm gesehen. "...die Leute werden erkennen, daß es unmöglich ist für ein Huhn, ein Enten-Ei zu legen (...) Ein Huhn hat es einfach nicht innerhalb seines Systems, ein Enten-Ei zu erzeugen. Es kann es nicht tun. Es kann nur produzieren gemäß dem, zu welcher Produktion dieses bestimmte System konstruiert worden ist. Das System in diesem Land kann nicht Freiheit für einen Afroamerikaner produzieren. Es ist unmöglich für dieses System, dieses Wirtschaftssystem, dieses politische System, dieses Gesellschaftssystem. (...) Und wenn jemals ein Huhn ein Enten-Ei gelegt hat, ich bin ganz sicher, ihr werdet sagen, daß das gewiß ein revolutionäres Huhn war! (...) Es ist unmöglich für eine weiße Person, an den Kapitalismus zu glauben und nicht an den Rassismus zu glauben. Ihr könnt keinen Kapitalismus haben ohne Rassismus." (Rede vom 29. Mai 1964)
Aber sein Gegenkonzept zum Kapitalismus ging nicht viel über moralische Empörung und Illusionen in die Phrasen über "afrikanischen Sozialismus" hinaus: "Ihr könnt kein kapitalistisches System betreiben, wenn Ihr keine Geier seid; Ihr müßt das Blut von jemand anderem saugen, um Kapitalist zu sein. Zeigt mir einen Kapitalist und ich zeige Euch einen Blutsauger. Er kann nichts anderes als ein Blutsauger sein, wenn er Kapitalist ist. (...) Deshalb, wenn wir zum afrikanischen Kontinent schauen, wenn wir auf die Schwierigkeiten schauen, die es zwischen Ost und West gibt, finden wir, daß die Nationen in Afrika sozialistische Systeme entwickeln, um ihre Probleme zu lösen." (Rede am 20. Dezember 1964) Wie eine sozialistische Gesellschaft dann aussehen soll? "Ich weiß es nicht. Aber ich bin flexibel." (29. Mai 1964)
So unkritisch Malcolm auch gegenüber dem "afrikanische Sozialismus" war, gegenüber Sowjetunion war er kritisch. Er erkannte zwar an, daß der Ost-West-Gegensatz den USA ein Stück die Hände band und sie hinderte, ihre gesamte militärische Kraft gegen die revolutionären Bewegungen der "Dritten Welt" einzusetzen. Malcolm stellte den Imperialismus und die Sowjetunion nicht auf die gleiche Stufe, aber zugleich war er strikt gegen die Unterordnung unter die Interessen der Sowjetunion, die seiner Meinung nach Anfang der Sechziger Jahre sowieso fast zu einem Satelliten der USA geworden sei (da war er sehr voreilig).
Wesentlich größer war seine Sympathie für die Revolutionen in China und noch mehr in Kuba. Er versuchte sogar, Ché Guevara als Referent für seine OAAU nach Harlem zu bekommen. Dabei verstand er aber nicht den gewaltigen Unterschied zwischen der chinesischen und kubanischen und der afrikanischen Revolution: daß in Afrika die "sozialistischen" Phrasen nur die kapitalistische Realität verdeckten, während in China und Kuba tatsächlich der Kapitalismus gestürzt worden war und auf der Grundlage von Planwirtschaft und staatlichem Außenhandelsmonopol tatsächlich jahrzehntelang gewaltige Fortschritte möglich waren. Genausowenig verstand er, daß diese Fortschritte ebenso wie in der Sowjetunion früher oder später an Grenzen stoßen mußten, die durch die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie und das Fortbestehen des kapitalistischen Weltmarkts erzeugt wurden.
"Mit allen notwendigen Mitteln"
Eine positive Seite hatten die Revolutionen in Rußland, China, Kuba und Afrika für Malcolm auf alle Fälle. Sie waren die praktischen Beweise, daß Gewalt unter Umständen notwendig und brauchbar war, um gesellschaftliche Fortschritte zu erreichen. Daß Gewaltlosigkeit schön und gut ist, aber nichts taugt bei einem Gegner, der zu jeder Gewalttat bereit ist, war eines der Hauptthemen Malcolms.
"In Gegenden, wo die Regierung sich als entweder nichts willens oder unfähig erwiesen hat, das Leben und das Eigentum der Neger zu verteidigen, ist es Zeit für die Neger, sich selbst zu verteidigen. Der zweite Zusatz der Verfassung gibt Euch und mir das Recht, ein Gewehr oder eine Schrotflinte zu besitzen. Es ist ein verfassungsmäßiges Recht, ein Gewehr oder eine Schrotflinte zu besitzen. Das bedeutet nicht, daß Ihr Gewehre nehmt, Bataillone bildet und auf die Pirsch nach Weißen geht, obwohl Ihr im Recht wärt -ich meine, es wäre gerechtfertigt; aber das wäre illegal und wir tun nichts Illegales. Wenn der weiße Mann nicht will, daß der schwarze Mann Gewehre und Schrotflinten kauft, dann soll die Regierung ihre Pflicht tun. Das ist alles." (Rede in Cleveland am 3. April 1964, "Stimmzettel-oder-Kugel-Rede")
Dabei wußte er aber, daß man nicht warten kann, bis Faschisten und rassistische Terroristen einen selbst angreifen, um sich dann zu wehren. Deshalb schrieb er einen offenen Brief an Rockwell, den Chef der "Amerikanischen Nazi-Partei", daß, wenn es noch weitere Übergriffe gegen Schwarze gebe, "Sie und Ihre Ku-Klux-Klan-Freunde maximale physische Vergeltung erfahren werden von denen, denen nicht durch die entwaffnende Philosophie der Gewaltlosigkeit die Hände gebunden sind, und die an die Ausübung unseres Rechts auf Selbstverteidigung glauben -mit allen notwendigen Mitteln." (24. Januar 1965) "Wir wollen den Klan zerstören. Zersprengt ihn, zerstört ihn, vertilgt ihn vom Erdboden. Und wir können das tun. Ihr seid in der Armee gewesen. Sie haben Euch alle diese Tricks beigebracht. Nun gut, gebraucht sie." (Rede vom 15. Februar 1965)
Er wußte auch, daß die Zerstörung rassistischer Terrororganisationen nicht reicht, daß besonders im Süden der Staatsapparat von brutalen Rassisten durchsetzt ist. "Wenn Ihr zu den Bullen in Alabama hinschaut, dann schaut Ihr zum Klan hin. Die sind der Klan." (15. Februar 1965) Aber trotz seiner radikalen Reden und Aufforderungen, die Kunst des Guerillakrieges zu studieren, riet Malcolm von praktischen Schritten in Richtung Guerilla in den USA ab. Stattdessen unternahm er erste Schritte, um sich aktiv an der Bürgerrechtsbewegung zu beteiligen. Es ging darum, möglichst große Massen in diese Kämpfe hineinzuziehen und ihnen beizubringen, sich dabei gegen Überfälle und Terrorakte der weißen Rassisten zu wehren. Der bewaffnete Schutz friedlicher Massenaktionen war gerade in einem Land wie den USA, wo sich oft auch Streikposten mit Waffen schützen mußten, der einzige Weg, revolutionäres Bewußtsein bei den schwarzen ArbeiterInnen zu entwickeln.
"Es kann keine Arbeiter-Solidarität geben, wenn es nicht erst etwas rassische Solidarität gibt"
Aber auch die größte Massenaktion der Schwarzen in den USA wäre noch die Aktion einer kleinen Minderheit. Deshalb versuchte Malcolm ja, die Bewegung in Amerika mit der "Dritten Welt" zu verbinden: "wir sehen heute die weltweite Rebellion der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter." (Malcolms letzte Rede, am 18. Februar 1965) Aber seitdem haben wir erfahren, daß die revolutionären Massen der "Dritten Welt" zum Scheitern verurteilt sind, wenn die Macht des Imperialismus nicht auch in seinen Zentren gebrochen wird. Aber der Imperialismus hat einen solchen Machtapparat errichtet, daß nur die Masse der Lohnabhängigen organisiert, mit sozialistischem Programm und marxistischer Führung in der Lage ist, ihn aus den Angeln zu heben.
Das Verständnis, daß die westlichen Lohnabhängigen dazu in der Lage sind, ist leider wenig verbreitet. Auch Malcolm hatte es nicht. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen schwarzen und weißen ArbeiterInnen oft genug äußerst gespannt gewesen. Vor dem ersten Weltkrieg hatten Schwarze in der Industrie fast keine Chance. Die Drecksarbeit wurde von den EinwandererInnen aus Europa gemacht. Im ersten Weltkrieg versiegte dieser Einwanderungsstrom fast, danach wurde die Einwanderung stark begrenzt, weil man die EinwandererInnen des Kommunismus verdächtigte. Jetzt mußten die Schwarzen in die Betriebe gelassen werden. Aber die Gewerkschaften organisierten damals fast nur die privilegierten Facharbeiter, die "Arbeiteraristokratie", viele Gewerkschaften verboten ausdrücklich Schwarzen die Mitgliedschaft. Gelegentlich gab es sogar Streiks gegen die Beschäftigung von Schwarzen. Die Unternehmer benutzten diese reaktionäre Haltung vieler Gewerkschaften nach Kräften, um die Schwarzen gegen die gesamte Gewerkschaftsbewegung aufzubringen und sie nach Kräften zum Streikbruch einzusetzen. Das brachte wiederum viele weiße Lohnabhängige gegen ihre schwarzen KollegInnen statt gegen ihre reaktionäre Gewerkschaftsführung auf.
Im Süden der USA war schon seit der Zeit der Sklaverei ein großer Teil der verarmten Weißen von den Sklavenbaronen gegen die Schwarzen aufgehetzt worden. Dieser "weiße Abschaum" (Marx) war auch Jahrzehnte später noch ein williges Werkzeugs des Terrors gegen Schwarze, aber auch gegen linke GewerkschafterInnen oder KommunistInnen. Im Süden war das Lynchen eine Art "Volksbelustigung", so wie man anderswo ins Kino gegangen wäre. Leo Trotzki sagte dazu 1933: "Neunundneunzig Prozent der amerikanischen Arbeiter sind Chauvinisten; in Bezug auf die Neger sind sie Henker, so wie sie es den Chinesen etc. gegenüber sind. (...) Der Neger kann nur zu einem Klassen-Gesichtspunkt entwickelt werden, wenn der weiße Arbeiter erzogen wird." Aber die meiste Zeit hat eine von den Kapitalisten korrumpierte Gewerkschaftsfühurng genau dem entgegengewirkt.
Aber eben nur die meiste Zeit. Es hat immer auch in Phasen der gesellschaftlichen Krise Versuche der ArbeiterInnenklasse gegeben, eine radikale Alternative zu den alten korrupten Gewerkschaften aufzubauen (z.B. Anfang des Jahrhunderts die IWW, in den Dreißiger Jahren die CIO). Und vor allem beim Aufbau und den ersten Kämpfen der CIO haben Schwarze einen großen Beitrag geleistet. Die Krisen des Kapitalismus erlauben es den Bossen nicht, die weißen Lohnabhängigen mit Angriffen zu verschonen. Dadurch haben sie immer wieder den von ihnen selbst sorgfältig geschürten Rassismus überwunden und weiße und schwarze KollegInnen zum gemeinsamen Kampf gezwungen.
Die andere Seite ist der bereits geschilderte Selbsthaß vieler Schwarzer aufgrund der jahrhundertelangen Gehirnwäsche. Das Bedürfnis, vor der eigenen Hautfarbe zu fliehen und sich den Weißen an den Hals zu werfen, wäre alles andere als eine tragfähige Grundlage für den Beitritt in eine sozialistische Organisation. Aber das war wohl nicht häufig, weil ein Schwarzer in den Augen der Weißen sich nur zum doppelten Paria gemacht hätte. Trotzdem steckte wohl hinter Malcolms Ansicht, daß es für die Vereinigung mit Weißen noch zu früh sei:
"Es kann keine schwarz-weiße Einheit geben, wenn es nicht erst schwarze Einheit gibt. Es kann keine Arbeiter-Solidarität geben, wenn es nicht erst etwas rassische Solidarität gibt. Wir können nicht daran denken, uns mit anderen zu vereinigen, wenn wir uns nicht erst untereinander geeinigt haben. Wir können nicht daran denken, für andere annehmbar zu sein, wenn wir uns nicht erst als annehmbar für uns selbst erwiesen haben." (aus der Presseerklärung vom 12. März 1964)
Eine revolutionäre Schwarzenorganisation kann eine sehr positive Rolle spielen, wenn sie Schwarzen hilft, sich von dem von den Weißen eingebläuten Selbsthaß zu befreien. Eine Organisation, die aber nach Art der Schwarzen Moslems umgedrehten Rassismus predigt, ist reaktionär, auch wenn sie noch so kämpferische Phrasen drischt. Eine sozialistische Gesellschaft und damit die Möglichkeit, jede Form von Unterdrückung und Diskriminierung zu beseitigen, kann nur erreicht werden durch den gemeinsamen Klassenkampf von Arbeitern und Jugendlichen unabhängig von Nationalität, Hautfarbe und Geschlecht. Jede Organisation, die in Anspruch nimmt, fortschrittlich zu sein, muß sich daran messen lassen, ob sie eine Brücke zu diesem gemeinsamen Kampf darstellt oder neue Barrieren aufbaut.
Malcolms Ermordung
Die vielen Reisen, die Malcolm in seinem letzten Jahr unternahm, dienten auch seinem Schutz vor der "Nation des Islam". Viele Leute, die die Organisation verlassen hatten, wurden zusammengeschlagen oder ermordet.
Im Februar reiste Malcolm noch einmal nach Europa. Am 8. war er in London, am nächsten Tag reiste er nach Paris, aber er mußte am Flughafen umkehren. Sein letzter Frankreichbesuch im November 1964 hatte schon dazu geführt, daß die Afro-AmerikanerInnen in Paris eine OAAU-Gruppe gründeten. Das versetzte die französische Regierung offensichtlich in Panik. Also reiste er wieder nach Großbritannien. Am 13. Februar kam er wieder in New York an.
Am nächsten Morgen um halb drei wurde sein Haus mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Malcolm war überzeugt, daß die Attentäter die Aufteilung der Räume gekannt und bewußt eine Brandbombe in das Schlafzimmer seiner Kinder geworfen hatten, die nur durch Zufall abprallte und vor dem Fenster liegen blieb. Am nächsten Tag (dem 15.) beschuldigte er die Schwarzen Moslems, für das Attentat verantwortlich zu sein. Die beschuldigten ihn, den Brand selber gelegt zu haben.
Am 21. Februar führte die OAAU mal wieder eine Veranstaltung in Harlemer Audubon-Ballsaal durch, bei der Malcolm das Aktionsprogramm der OAAU vorstellen wollte. Bevor die Rede begann, gerieten zwei Männer im Publikum in Streit. Die Ordner liefen hin, um zu schlichten und ließen die Rednertribüne ungeschützt. In einem anderen Teil des Raums wurde eine Rauchbombe gezündet, um die Verwirrung noch zu vergrößern. In dem so entstandenen Chaos zog plötzlich jemand eine Schrotflinte hervor und durchsiebte damit Malcolms Brust.
Einer der Attentäter, Talmadge Hayer, wurde angeschossen, noch am Tatort gefaßt und beinahe gelyncht. Er war ein ehemaliges Mitglied der "Nation des Islam". Im Prozeß, der im Januar 1966 stattfand, wurde Hayer beschuldigt, einer der beiden Männer gewesen zu sein, die den "Streit" inszeniert hatten. Der andere "Streiter" und der Mann mit der Schrotflinte sollten zwei bekannte Mitglieder der "Nation des Islam" gewesen sein. Mehr seien nicht beteiligt gewesen. Und die Rauchbombe?
Die beiden Mitangeklagten leugneten, überhaupt am Tatort gewesen zu sein, und hatten auch jede Menge Alibizeugen. Außerdem ist es fraglich, ob zwei bekannte Mitglieder der "Nation des Islam" in den Raum gelassen worden wären. Von zehn Zeugen konnten sich nur drei an alle drei Angeklagten erinnern, von denen widerriefen zwei ihre Aussage und der Dritte erwies sich als psychisch gestört. Hayer sagte aus, er sei nicht von der "Nation des Islam" mit dem Mord beauftragt worden und es seien vier andere beteiligt gewesen.
Diese und andere Unklarheiten verstärkten den Verdacht, daß nicht die Schwarzen Moslems, sondern die FBI den Mord organisiert habe. Und selbst wenn wirklich die "Nation des Islam" den Mord durchgeführt hätte -sie war durch und durch von der Polizei infiltriert. Malcolm sagte kurz vor seiner Ermordung über seine Erfahrungen als "Nation des Islam"-Funktionär: "Ich wußte, daß die Moslem-Bewegung voll von Polizei war. Also glaubt nicht, daß irgend etwas stattfindet, von dem sie nichts wissen. Nur das findet statt, von dem sie wollen, daß es stattfindet, das was nicht stattfinden soll, das findet auch nicht statt." (Rede am 15. Februar 1965) Wenn die "Nation des Islam" den Mord begangen hätte, wären die Vorbereitungen der FBI kaum verborgen geblieben. Und daß Malcolms Tod dem FBI in den Kram paßte, daran kann kein Zweifel bestehen.
Malcolms Tod löste beim Schwarzen Amerika große Betroffenheit aus. Zehntausende besuchten den aufgebahrten Leichnam. Über die Witwe und die Kinder ergoß sich eine Welle von Hilfsbereitschaft. Seine beiden Organisationen aber, die nie wirklich in Fahrt gekommen waren, brachen nach seinem Tod zusammen.
Trotzdem ist Malcolm nicht gescheitert. Der US-Kapitalismus hat ihn wie Millionen Schwarze vor ihm und nach ihm, wie Millionen Angehörige anderer Minderheiten, wie Millionen verelendete weiße ArbeiterInnen in die Gosse gedrückt. Er hat es geschafft, sich aus dieser Gosse hervorzuarbeiten und anderem bei ihrem Kampf für ein menschenwürdigeres Leben zu helfen. Er hat in diesem Kampf die Welt (mit) verändert und auch sich selbst. Gerade in seinem letzten Lebensjahr hat er viel Ballast abgeworfen. Auch wenn er nicht Marxist wurde, er war auf dem Weg dorthin.
Anders als viele Führer der Schwarzenbewegung (oder der ArbeiterInnenbewegung) hat er sich von niemandem korrumpieren lassen, weder von Elijah Muhammad noch von irgendwelchen Ölscheichs, geschweigedenn von den Herrschenden der USA. All das hat ihn für die Herrschenden der USA so gefährlich gemacht, daß er aus dem Weg geräumt werden mußte. Seine Ermordung ist der beste Beweis, daß er auf dem richtigen Weg war.
Aber der tote Malcolm war für die herrschende Klasse fast so gefährlich wie der lebende, weil er zum Idol wurde für ungezählte schwarze Jugendliche, die seine revolutionären Ideen aufgriffen, weiterentwickelten und in die Tat umzusetzen versuchten. Der bedeutendste dieser Versuche wurde von einer Gruppe junger Schwarzer in Oakland in Kalifornien begonnen.
IV. Malcolms Ideen in die Tat umgesetzt - Die Black Panther Party
"Als 1965 Malcolm X getötet worden war, lief ich die Straße hinunter. Ich ging zum Haus meiner Mutter und holte sechs lose rote Ziegelsteine aus dem Garten. Dann lief ich an die Ecke und brach die Dinger mittendurch. Ich wollte so viele Würfe wie möglich haben - an diesem Tag als Malcolm getötet wurde. Jedesmal, wenn ich einen Weißen in seinem Wagen vorbeifahren sah, hob ich einen halben Ziegelstein auf und warf damit nach den Schuften. (...) Ich fand, mehr könnte ich nicht tun. An dem Tag war ich bereit zu sterben. (...) Damals ging eine große Veränderung mit mir vor. Die anderen haben das nie verstanden."
Bobby Seale: "Ergreife die Zeit.
Die Geschichte der Black Panther Party und von Huey P. Newton"Bruch mit dem Kulturnationalismus
Malcolm hatte verstanden, daß es nicht möglich ist, aus der weißen Gesellschaft einen selbstbestimmten schwarzen Freiraum abzutrennen, gleichgültig, ob man ihn als eigenen Staat denkt oder nur als eigene Schulen, Kultureinrichtungen, Betriebe etc. Deshalb trat er am Schluß seines Lebens für eine weltweite Revolution und den Sozialismus ein. Er hatte erkannt, daß auch die Weiße Gesellschaft gründlich verändert werden muß.
Aber viele Schwarze, die vor dem langen, mühsamen Kampf für den Sozialismus zurückschreckten, zogen den scheinbar einfacheren, in Wirklichkeit aber ungangbaren Weg vor. Diese Leute wurden meist "Kulturnationalisten" genannt. Später stützten sie sich auch auf einzelne Ideen von Malcolm, aber ohne seinen Antikapitalismus und ohne die Idee der Selbstverteidigung. Besonders an den Colleges waren diese Ideen stark.
Aber es gab immer wieder Leute, die begriffen, daß ein schwarzer Kapitalist genauso ein Ausbeuter ist wie ein weißer. Auch das Ausweichen vor Konflikten konnte viele Ghetto-Jugendliche, die es hatten lernen müssen, sich ihrer Haut zu wehren und sich mit anderen zu prügeln, nicht auf Dauer überzeugen.
Einer dieser jungen Männer war Huey P. Newton. Wie Malcolm viele Jahre früher war er in der Schule von seinem rassistischen Beratungslehrer nach Kräften demotiviert worden. Er sei fürs College nicht geeignet etc. Aber anders als Malcolm studierte er aus Trotz umso intensive, ohne dabei den Kontakt zu den Ghetto-Jugendlichen zu verlieren, mit denen er groß geworden war. Schon bald war er am Meritt College in Oakland berühmt und berüchtigt, weil er bei politischen Diskussionen die anderen in Grund und Boden redete.
Gründung der Black Panther Party
Ein Mitstudent von ihm namens Bobby Seale stammte ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen. gemeinsam beschäftigten sie sich mit der afrikanischen Revolution der vergangenen Jahre und fanden schließlich, daß sie politisch was machen müßten. So gründeten sie im Oktober 1966 die Black Panther Party (Schwarze-Panther-Partei). Sie stellte in mehreren Punkten einen Fortschritt gegenüber den bisher vorherrschenden Schwarzenorganisationen dar. Einmal weil sie nicht als losen, mehr oder weniger unverbindliches Bündnis konzipiert war, sondern als schlagkräftige Organisation. Seale wurde Vorsitzender, Newton "Verteidigungsminister und Anführer" der Partei.
Außerdem war das Programm von Anfang an sozialistisch ausgerichtet. Die Forderungen knüpften an den unmittelbaren Bedürfnissen der Ghetto-Bevölkerung an (Selbstbestimmung, Vollbeschäftigung, menschenwürdige Wohnungen, Ende der Polizeibrutalität etc.). Es wurde aber dazugesagt, daß, wenn der US-Kapitalismus unfähig ist, sie zu erfüllen, daß dann "die Produktionsmittel den Geschäftsleuten genommen und dem Volk übergeben werden" sollten. Die Black Panther Party hatte also von Anfang an klarere Vorstellungen als Malcolm, wie eine sozialistische Gesellschaft beschaffen sein muß.
Sie sagten, daß der Gegensatz nicht zwischen Schwarzen und Weißen besteht, sondern zwischen dem Volk und den Machthabern, der herrschenden Klasse. Dabei seien die Schwarzen aber "ein Volk innerhalb des Volkes". Den schwarzen Rassismus überließen sie der schwarzen Oberschicht. "Wir bekämpfen den ausbeuterischen Kapitalismus nicht mit einem Kapitalismus der Schwarzen, sondern wir bekämpfen den Kapitalismus wesentlich durch Sozialismus. Wir bekämpfen den Imperialismus nicht mit einem noch größeren Imperialismus, sondern wir bekämpfen den Imperialismus durch proletarischen Internationalismus. (...) Die Menschen aller Farben in der Arbeiterklasse müssen sich gegen die ausbeuterische, bedrückende herrschende Klasse zusammentun. Um es noch einmal zu betonen: Wir meinen, daß unser Kampf ein Klassenkampf ist, aber kein Rassenkampf." (Seale)
Schwarze mit Gewehren
Die Partei hieß ursprünglich "Schwarze-Panter-Partei zur Selbstverteidigung" (Black Panther Party for Self-Defense). Damit ist ein zentraler Punkt ihres Programms und ihrer praktischen Arbeit auch angesprochen. Newton, Seale und ihre zunächst wenigen Anhänger begannen zunächst damit, daß sie einfach in der Öffentlichkeit Gewehre trugen. Ihren verwunderten Mitmenschen erklärten sie dann, daß es jetzt eine neue Partei gibt, daß sie die Interessen der Schwarzen vertritt und dafür kämpft, daß diese Forderungen Realität werden. Diese Haltung imponierte vielen Ghetto-Jugendlichen und sie schlossen sich der Partei an.
Die Polizei versuchte natürlich nach Kräften, die Partei zu behindern. Aber das war schwierig, weil die Panther sich die kalifornischen Waffengesetze reingezogen hatten und sich penibel daran hielten. Was tun die Herrschenden, wenn die Massen beginnen, von ihren Rechten in ihrem eigenen Interesse Gebrauch zu machen? Sie schaffen sie ab. Das versuchte auch das kalifornische Parlament in Sacramento.
Also fuhren am 2. Mai 1967 30 Panther nach Sacramento, 20 davon bewaffnet, um sich die Parlamentsdebatte über die Änderung der Waffengesetze anzuschauen. Das führte zu einigen Tumulten im Parlamentsgebäude, vor allem durch die Journalisten, die bei einer solchen Sensation ganz aus dem Häuschen waren. Dieses Ereignis machte die Partei weltweit bekannt. Die Partei wuchs weiter. Es entstanden Gruppen in anderen Orten, eine Parteizeitung wurde ins Leben gerufen.
Staatlicher Terror
Der Erfolg der Partei führte schon bald zu massiven Unterdrückungsversuchen des Staatsapparats. Am 28. Oktober wurde Huey bei einem Schußwechsel schwer verwundet und verhaftet. Am 6. April 1968 kam es zu einem weiterem Überfall der Polizei auf führende Panther-Aktivisten. Sie wurden erst in ein Haus gedrängt, dann wurde Bobby Hutton, der mit erhobenen Händen aus dem Haus herauskam, kaltblütig von den Polizisten abgeknallt. Insgesamt sind 39 Panther von Polizisten ermordet worden.
Trotz des Terrors versuchten die Panther, die Bevölkerung der Ghettos von spontanen Aufständen abzuhalten. Das würde nur den sinnlosen Tod von weiteren Dutzenden Schwarzen zur Folge haben. Sie riefen die Leute auf, sich zu organisieren und sich ihrem Kampf anzuschließen.
Aber nicht nur durch Mord versuchte der Staatsapparat die Panther auszuschalten. Hunderte von AktivistInnen wurden in die Gefängnisse geschmissen. In den Gerichtsverhandlungen mußte dann regelmäßig ein Großteil der Anklagen fallengelassen werden. Aber auch das nützte nicht viel. Die Gefangenen wurden Symbolfiguren der Bewegung, politische Märtyrer. die Kampagnen für ihre Freilassung für die Aufbringung ihrer Gerichtskosten etc. wurden zum Hebel, die Panther weiter aufzubauen.
Als Newton ins Gefängnis kam, gab es 75 Panther in zwei Gruppen. Als er 1971 wieder freigelassen werden mußte gab es 45 Gruppen mit 5000 Panthern. Die Parteizeitung kletterte auf eine Auflage von 125.000, es gab Parteizellen unter den Soldaten, die im Vietnamkrieg für das Wohl des US-Imperialismus morden und krepieren durften, es entstanden Parteigruppen in einzelnen Gewerkschaftsgliederungen.
Lohnabhängige oder Lumpenproletariat?
Obwohl die Black Panther Party einen gewaltigen Fortschritt im Befreiungskampf der Schwarzen Amerikas darstellte, hatte sie doch politische Schwächen. Obwohl in der Propaganda der Partei von "Proletariat" und "proletarischem Internationalismus" die Rede war, war sie doch ideologisch stark durch die Bauernrevolutionen in China und Kuba geprägt. In beiden Revolutionen hatten die LohnarbeiterInnen aus bestimmten historischen Gründen eine untergeordnete Rolle gespielt. Der Preis dafür war, daß in beiden Ländern zwar der Kapitalismus beseitigt wurde, aber keine sozialistische Demokratie, sondern eine bürokratische Diktatur nach sowjetischem Vorbild entstand.
Die Panther versuchten gewissermaßen das Prinzip der Bauernguerilla zu imitieren: eine kleine Organisation startet radikale Aktionen und hofft, daß sich die Massen ihnen anschließen. Newton schrieb dazu im Rückblick: "Wir wurden als eine improvisierte militärische Gruppe angesehen, die außerhalb der Struktur der [schwarzen] Wohngemeinde tätig war und zu radikal war, um ein Teil von ihm zu sein. Wir sahen uns als revolutionäre "Avantgarde" und haben nicht voll verstanden, daß nur das Volk die Revolution schaffen kann." Der elitäre Charakter der Organisation zeigte sich auch darin, daß überhaupt nur hauptamtliche ParteimitarbeiterInnen als Mitglieder gezählt wurden.
Folgerichtig orientierten sie sich auf die Schicht, die am ehesten für diese Taktik empfänglich war, das "Lumpenproletariat": entwurzelte Jugendliche, Kleinkriminelle ohne Verbindung zum gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Diese Orientierung wurde gerechtfertigt durch eine falsche Analyse der Klassenverhältnisse in den USA: Die Partei ließ sich durch die in der amerikanischen Geschichte vorherrschende Orientierung der Gewerkschaftsbewegung auf die privilegierten, dauerhaft beschäftigten Facharbeiter dazu verleiten, diese Oberschicht der ArbeiterInnenklasse mit der ganzen Klasse gleichzusetzen. Der Sprachgebrauch der Partei in dieser Frage war nicht eindeutig, aber das war die vorherrschende Tendenz. Deshalb war in der Propaganda auch so oft von "Volk" statt von "Proletariat" die Rede.
Ungelernte ArbeiterInnen, unregelmäßig Beschäftigte, Arbeitslose gehören sehr wohl zum Proletariat, so lange sie nicht so weit aus dem Arbeitsprozeß herausgedrängt sind, daß sie gar nicht mehr richtig arbeiten könnten, selbst wenn sie die Gelegenheit erhielten. Die Folgerung aus der Fehlinterpretation der Klassenbeziehungen war, daß der Klassenkampf hauptsächlich auf der Straße, statt in den Betrieben stattfinden müsse. Eine solche Gegenüberstellung ist mechanisch und falsch.
Ein einfaches Beispiel: wenn qualifizierte FacharbeiterInnen streiken, können sie oft nicht durch Streikbrecher ersetzt werden. Die Gefahr wäre groß, daß die nur die teuren Maschinen schrotten. Anders bei ungelernten ArbeiterInnen. Deshalb brauchen die dringend wirksame Streikposten, wenn sie eine Chance haben wollen. Bei einer solchen Streiktaktik sind aber Konfrontationen mit der Polizei vorprogrammiert, in den USA noch mehr als in der BRD. Ein konsequenter gewerkschaftlicher Kampf muß sich deshalb politisieren, der betriebliche Kampf sich auf die Straße ausdehnen.
Die am meisten unterdrückten Schichten des Proletariats sind oft politisch apathisch oder gar konservativ. Wenn sie aber zu politischem Bewußtsein erwachen, sind sie normalerweise der kämpferischste, revolutionäre Teil der Klasse. Deshalb haben revolutionäre MarxistInnen wie Trotzki immer wieder auf die Bedeutung dieser Schichten hingewiesen. Z. B. 1935 schrieb Trotzki: "Eine wirklich revolutionäre Tendenz, die ihre Zukunft sichern will, darf nie Fragen vernachlässigen, die entweder junge Menschen oder Frauen oder unterdrückte Völker betreffen"
Folgen der falschen Orientierung
Die Panther haben das Menschenmögliche geleistet, um dem Lumpenproletariat politisches Bewußtsein und Disziplin beizubringen. Aber das reichte nicht. Viele kamen in die Partei, weil sie gern mit einem Gewehr rumhantierten, weil sie es schick fanden, in der Parteiuniform rumzulaufen, um mit der Mitgliedschaft anzugeben oder um sich an die weiblichen Mitglieder ranzumachen.
Noch schlimmer waren die, die versuchten, unter dem Mantel der Partei sich als Kriminelle zu betätigen. Der Kampf gegen diese Eindringlinge führte dann zu innerparteilichen Spannungen. Ehrliche, aber eben lumpenproletarische Mitglieder verstanden nicht, daß die Partei für Mitglieder, die nachweislich bei ordinärem Raub gefaßt wurden, keine Kaution bezahlen wollte, um sie freizukriegen.
Auch die Aufstellung von Verhaltensrichtlinien Anfang 1969 und die Ausschlüsse von Leuten, die sie nicht befolgten, und von Polizeispitzeln schuf böses Blut. Außerdem führte es zu einem teilweise etwas despotischen Vorgehen der Parteiführung. 1969 wurde insgesamt etwa 1000 Mitglieder ausgeschlossen, darunter ganze Stadtorganisationen. Einige der Ausgeschlossenen rächten sich, indem sie die Partei nach Kräften mit Dreck bewarfen, in Enthüllungsbüchern, in Gerichtsverfahren oder vor Parlamentsausschüssen.
Die Ausschlüsse waren einer der Gründe, daß es zu wachsenden Spannungen kam. Hauptgegner der kalifornischen Parteiführung waren die New Yorker Parteiorganisation und die Exilleitung in Algier. Sie bestand aus Mitglieder, die wegen des wachsenden staatlichen Terrors emigriert waren. Ihr Leiter war Eldridge Cleaver, früher eine Art "Chefideologe" der Partei, aber durch die Isolation, die das Exil mit sich brachte, geriet er politisch auf Abwege.
Im August 1970 kam Newton aus dem Knast und versuchte, den Laden wieder in Ordnung zu bringen. Das brachte den Konflikt zum Ausbruch. Im Frühjahr kam es zur Spaltung. Der organisatorische Konflikt war begleitet von zunehmenden Meinungsverschiedenheiten über die Strategie. Cleaver bewegte sich Richtung Terrorismus (zumindest in Worten), Newton entdeckte, daß der "schwarze Kapitalismus" doch nicht so negativ sei.
Die Parteiarbeit hatte nie nur aus Waffentragen und Zeitungsverkauf bestanden. Es hatte immer auch soziale Programme in den schwarzen Wohngemeinden gegeben, z.B. ein Frühstücksprogramm für Kinder; später wurden Gesundheitsstationen, Rechtshilfe oder Bekleidungsprogramme begonnen. Diese Programme wurden verwendet, um die Bevölkerung politisch zu mobilisieren. Es wurden dabei z. B. Schritte zur Vergesellschaftung der Kindererziehung und Hausarbeit unternommen, um Frauen eine wirklich gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und an den Aktivitäten der Partei zu ermöglichen. Auf der anderen Seite war aber in der Partei die Ideologie weit verbreitet, daß weibliche Mitglieder mit den Genossen schlafen müssen, die das wollen. Auch wenn einzelne Führungsmitglieder solchen Vorstellungen energisch entgegentraten, herrschte insgesamt in der Partei ein ziemlich sexistisches Klima.
Die negative Seite war von Anfang an, daß die Partei sich bei diesen Programmen von den Spenden der schwarzen Kleinkapitalisten in der schwarzen Wohngemeinde abhängig machte. Auch wenn der Spendenbereitschaft gelegentlich durch Boykottdrohungen nachgeholfen wurde, entstand doch eine Abhängigkeitsbeziehung. Sie führte dazu, daß entgegen den ideologischen Verlautbarungen die schwarzen Kapitalisten in einem immer rosigeren Licht gesehen wurden.
Auch hier wirkten sich die stalinistischen Vorurteile der Parteiführung negativ aus. Nach stalinistischer Ideologie bestehen zwischen Großkonzernen und kleineren Kapitalisten solche Interessengegensätze, daß es für die ArbeiterInnen möglich ist mit den Kleinkapitalisten, dem angeblich fortschrittlichen Teil des Bürgertums, ein Bündnis, eine "Volksfront" zu schließen. Solche Bündnisse haben in gesellschaftlichen Krisen dazu geführt, daß der bürgerliche Bündnispartner das Proletariat am effektiven Kampf für eine sozialistische Gesellschaft gehindert hat, die gesellschaftlichen Probleme sich verschärft haben und das verzweifelte Klein- und Mittelbürgertum sich den Faschisten in die Arme geworfen hat.
Da die kapitalistische Krise auch kleine Kapitalisten ruiniert, können einzelne von ihnen für den Sozialismus gewonnen werden (ebenso wie in der französischen Revolution ruinierte Feudalherren für den Kapitalismus kämpften). Aber das ist nur möglich durch den entschlossenen Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, nicht durch das Bündnis mit Individuen und Personen, die den Kapitalismus retten wollen.
Jetzt wurden Sozialprogramme zu einem der Schwerpunkte der Arbeit. Der andere Schwerpunkt war die Beteiligung an Wahlen. Im April 1973 kandidierte Bobby Seale für den Posten des Bürgermeisters von Oakland. Im ersten Wahlgang kam er auf Platz zwei hinter dem republikanischen Amtsinhaber, in der Stichwahl unterlag er knapp.
Aber die harten Jahre des Kampfes und Gefängnisaufenthalte hatten bei Bobby und Huey ihre Spuren hinterlassen. Beide waren deutlich müde und ausgebrannt. Bobby verabschiedete sich im Sommer 1974 für Jahre von der Politik, Huey bekam Probleme mit Drogen, war in mehrere gewalttätige Zwischenfälle verwickelt und stand plötzlich unter der Anklage, eine Prostituierte ermordet zu haben. Im November 1974 verschwand er, kam 1977 zurück und wurde nach zwei Jahren freigesprochen. Trotzdem fiel er in den Teufelskreis der Selbstzerstörung zurück, der in den Schwarzen-Ghettos heute schlimmer wütet als zu den Zeiten der Black Panther Party. Am 22. August 1989 wurde er von einem Drogenhändler erschossen.
Nach dem Ausscheiden von Newton und Seale wurde Elaine Brown Vorsitzende. Die Entwicklung zu einer Wohlfahrtseinrichtung, die sich gelegentlich an Wahlen beteiligt, setzte sich fort.
Malcolm X. hat erklärt und die Black Panther Party hat gezeigt, daß Schwarze nicht wehrlos den Terror der weißen Rassisten in Ku-Klux-Klan und Polizei zu ertragen brauchen. Bei all ihren Schwächen und Fehlern hat das Millionen Schwarzen bei der Entwicklung eines neuen Selbstbewußtseins und oft auch eines revolutionären Bewußtseins geholfen. In einer Umfrage 1970 bezeichneten sich 9% der befragten Schwarzen (das entspricht über zwei Millionen) als Revolutionäre. 59% hielten gewaltsamen Widerstand als äußerstes Mittel für legitim. 63% glaubten, daß das amerikanische System durch und durch korrupt sei und völlig neu gestaltet werden müsse.
Auch wenn der großartige Kampf der Black Panther Party letztlich versandet ist, ist es umso wichtiger, daß wir aus ihm lernen, aus den Erfolgen ebenso wie aus den Fehlern der Partei. Die wichtigste Lehre ist, daß der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist, wenn es nicht gelingt, die organisierte ArbeiterInnenbewegung für ihn zu gewinnen.
SAV - Sozialistische Alternative, Stadtverband StuttgartEditorische Anmerkung
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