Die Entstehungsgeschichte Israels
von 1882-1948

von Nathan Weinstock

10/04

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11. Das britische Weißbuch von 1939 und der 2. Weltkrieg

Zur Kapitelübersicht

Das Jahr 1939 ist Wendepunkt und zugleich Ende einer Epoche. Von nun an tritt der latente Interessenkonflikt des Zionismus und Groß­britanniens offen zutage. Doch die Araber Palästinas scheinen seltsamerweise von der politischen Bühne abgetreten zu sein, ihre Bewe­gung durch die Niederlage des Aufstandes von 1939 und durch die Flucht ihrer Eliten zerstört, während ihre Führer sich durch die leb­hafte Sympathie für die Achsenmächte bloßstellen. Die Araber also verharren in Passivität und Resignation. Während der Kriegsjahre setzen sich plötzlich die Vereinigten Staaten als Nachfolger des zerfal­lenen britischen Empire durch. Endlich erscheint der Kampf des Yi-schuw gegen die englische Herrschaft als Bestätigung einer sich bil­denden hebräischen Nationalität. Indessen zeigen sich 1939 die Veränderungen des politischen Kampf­feldes noch nicht in aller Klarheit. Zudem zwingt der Ausbruch des Krieges Briten wie Zionisten, ihre traditionelle Zusammenarbeit zu verstärken. Aber auf beiden Seiten lassen sich die Führer nicht täu­schen : dieses Zwischenspiel ist nicht dazu bestimmt, lange zu währen. Im Februar 1940 vollendet die Gesetzgebung über Grund und Boden die Wendung der britischen Politik. Jene unterteilt Palästina in drei Regionen, die Zonen A, B und C. In der ersten, die 63,4% der Fläche des Landes umfaßt, ist jegliche Übertragung arabischen Bodens auf Juden untersagt. In der zweiten, 31,6%, werden diese Geschäfte über Grund und Boden der Genehmigung der Regierung unterworfen. Der Küstenbereich und die Peripherie von Jerusalem bilden die Zone C, etwa 5% des palästinensischen Bodens, wo Übertragungen von Grundstücken zugunsten der jüdischen Bevölkerung frei zugelassen sind. In Wirklichkeit ist diese Region von den zionistischen Einwan­derern schon vollständig kolonisiert, so daß diese Klausel keine prak­tische Bedeutung besitzt, [1]

Die neue britische Politik hat aller Wahrscheinlichkeit nach nicht unvermittelt die zionistische Richtung eingenommen. Nach dem Vor­schlag der Teilung des Landes durch die Peel-Kommission hatten sich die zionistischen Siedler bemüht, einige vollendete Tatsachen zu schaffen, die dazu bestimmt waren, weniger in Beziehung auf die Engländer als vielmehr gegen die Araber ihre Position zu verstärken. Der große Schlag gegen den Zionismus wird nach der nationalsoziali­stischen Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei geführt. Die Eroberung Polens steht bevor. Denn in diesen Ländern ist eine jüdische Gemeinschaft von 3300000 Menschen in ihrer Existenz bedroht. Eine unmittelbare Gefahr, die die Juden Palästinas persön­lich berührt: 40% der nach 1918 eingewanderten Juden sind in Polen hören wo sie ihre Verwandten zurückgelassen haben. Was sollte neesichts einer solch bedrängenden Katastrophe unternommen werden?

Alle offenen Türen schließen sich vor den jüdischen Flüchtlingen außer manchmal einer noch vom Glück begünstigten Minderheit, der gelingt, zu entkommen. Kein Land will sie aufnehmen. In dem Maß, wie die Rassenverfolgungen in Deutschland zunehmen, ver­schärfen die angrenzenden Länder ihrerseits die Gesetzgebung, die das Betreten des Territoriums für Ausländer in außergewöhnlichen Situationen regelt. Diese Maßnahmen zielen speziell auf die Flüchtlin­ge des Nazi-Regimes und beschränken insbesondere die Aufenthalts­bedingungen in den Nachbarländern. [2] Das State Department hat überdies im Juni 1940 Maßnahmen getrof­fen, die solchen Überlebenden des besetzten Europa das Betreten des Territoriums der Vereinigten Staaten verboten, deren nahe Verwand­te im Lande wohnten. [3]

Nur das jüdische Gemeinwesen in Palästina verkündet öffentlich seinen Willen, die Zehntausende der Nazi-Hölle Entronnenen aufzu­nehmen, aber gerade dagegen widersetzt sich England . . . Trotz wiederholter Fürsprachen jüdischer Persönlichkeiten bei den englischen und amerikanischen Luftstreitkräften, lehnen diese 1944 ab, die Eisenbahnschienen, die nach Auschwitz führen, zu bombar­dieren. Die zur Rechtfertigung angeführten technischen Hindernisse waren nicht so gravierend, daß sie die Bomber der Alliierten gleich­falls gehindert hätten, die Fabrikationsstätten für Öl und syntheti­schen Kautschuk zu zerstören, die sich in dieser Gegend befanden. [4] Aus den genannten Gründen ist es verständlich, daß sich der Yischuw unter Aufbietung aller Mittel bemüht, die Überweisung der europäi­schen Juden nach Palästina zu organisieren. In kleinem Umfang wa­ren heimliche und illegale Einwanderungen schon vor 1937 in die Wege geleitet worden. Sie werden aber in dieser Zeit hauptsächlich von den Revisionisten durchgeführt, die darüber verärgert sind, daß die jüdische Agentur allein das Monopol über die Ausstellung von Einreisegenehmigungen nach Palästina in Händen hält. 1935 trennen sich die Revisionisten von der Zionistischen Weltorganisation. Seit 1938 setzt die illegale Einwanderung (sogen. Aliya Beth) massiv ein: 16 000 jüdische Flüchtlinge betreten in diesem und im folgenden Jahr heimlich Palästina.

Der Transport und die Unterbringung werden systematisch von der Hagana und der Histadrut organisiert. 

1940-42 gelingt es 7629 Flüchtlingen, die Aufsicht der britischen Marine zu hintergehen und illegal nach Palästina einzuwandern. [5]Im Gegensatz zu dem, wie sie früher verfahren hatten, lehnen die Engländer es ab, den Anteil der heimlichen Einwanderer vom jährlichen Kontingent der offiziellen Einwanderer abzusetzen. Alle von den Behörden wieder Gefaßten werden deportiert. London rechtfertigt dieses Vorgehen mit Argumenten, die nur noch Empörung hervorru­fen können: nämlich der Gefahr einer »Infiltration« feindlicher Agenten. [6] In den Augen des Yischuw vollendet das Weißbuch damit das Werk der Nazihenker. 

Die gemäßigten Führer der jüdischen Agentur, des Waad Leumi und der Histadrut hüten sich allerdings, die Kolonialmacht vor den Kopf zu stoßen. Ihre Opposition nimmt den Weg des geringsten Widerstan­des: heimliche Einwanderung, Gründung von Siedlungen ohne offizi­elle Genehmigung (acht Ansiedlungen werden allein innerhalb des Monats Mai 1939 - in dessen Verlauf das Weißbuch veröffentlicht wurde - heimlich geschaffen), Protestkundgebungen, Pressekommu­niques, Proteststreiks von 24 Stunden Dauer. [7] Wäre der 2. Weltkrieg nicht zu diesem Zeitpunkt ausgebrochen, so hätte sicherlich schon 1939 der Aufstand des Yischuw gegen die Briten begonnen. Der Ausbruch der Feindseligkeiten verhindert diese Entwicklung. Der Krieg zwischen dem britischen Imperialismus und Nazi-Deutschland gestattet es dem arabischen Nationalismus, das Bündnis mit den Achsenmächten zu suchen. Eine solche Orientierung ist den palästinensischen Juden unbegreiflich. Infolgedessen stellen sie ihre Meinungsverschiedenheiten hintenan und suchen die Aussöh­nung mit den Behörden. In seiner Erklärung vom 3. September 1939 versichert der zionistische ExekutivratEngland seine Unterstützung im Krieg gegen Deutschland und fügt hinzu: »Unser Widerstand gegen das Weißbuch hat sich indessen nur gegen Großbritannien als Briti­sches Empire gerichtet.« [8] 

Einheiten der Hagana werden von den Briten ausgebildet und unter­nehmen Vorstöße gegen das Vichy Regime in Syrien. Um einer mögli­chen deutschen Invasion oder einem arabischen Aufstand oder beidem widerstehen zu können, werden 1941 mit Hilfe der Briten Stoßtrupps gebildet (Palmach, das Acronym von Plugot Machaz). Unter ihnen befinden sich die fähigsten Kämpfer der Hagana. Auch der Irgun verbündet sich wieder mit Großbritannien. Tatsäch­lich kollaboriert diese Organisation schon seit 1940 mit der engli­schen Polizei, denunziert zionistische Rivalen, die Hagana, die Kom­munisten, später schließlich Andersgläubige aus den eigenen Reihen, um dafür Hafterleichterungen für ihre gefangenen Mitglieder zu erreichen.

Diese Politik läßt sich von der alten Überzeugung Jabotinskys leiten, daß der wichtigste Gegner des Zionismus der Araber, nicht der Eng­länder sei. Ein Teil der Basis indessen widersetzt sich der Forderung, die Kolonialmacht als Verbündeten zu betrachten und provoziert, indem sie das heimliche Einverständnis mit den Briten aufdeckt, innerhalb der militärischen Organisation eine Spaltung. Unter der Führung Abraham Sterns fordert und verfolgt die Minder­heit weiter den Kampf gegen England und bricht infolgedessen alle Beziehungen mit der revisionistischen Partei ab. Sie zögert ebenfalls nicht, die Ordnungskräfte und das britische Militär oder jüdische Polizisten im Dienst anzugreifen. Die »Gruppe Stern« besitzt jedoch keine finanziellen Quellen, ganz im Gegensatz zur Hagana, die von der Jewish Agency finanziert wird, und der Irgun, die von palästinensi­schen jüdischen Kapitalisten und amerikanischen Juden Unterstüt­zung erhält. Die Gruppe löst sich provisorisch auf, um sich, wie wir noch sehen werden, auf ganz anderen Grundlagen neu zu organisieren. [9] 

Stern hatte 1939 in Polen mit Unterstützung der polnischen Behörden militärische Ausbildungslager organisiert, mit dem äußerst phantasti­schen Ziel, von Italien aus Palästina zu besetzen. Stern war außerdem einer der Verantwortlichen der revisionistischen Politik der » Repressa­lien« gegen die arabische Zivilbevölkerung. Aufgabe dieser Politik sollte sein die Schaffung eines jüdischen Palästina, das sich zwischen Euphrat und Nil erstreckte. Stern scheint 1941 versucht zu haben, mit den Achsenmächten in Kontakt zu treten. [10] Ende 1942 stehen fast 43000 palästinensische Juden, Männer und Frauen, als Freiwillige unter Waffen - Kampfeinheiten, weibliche Helfer, Polizeistreitkräfte unter militärischer Führung, Palmach usw. Praktisch werden diese Streitkräfte von der Hagana politisch kontrol­liert, deren Truppen so eine militärische Ausbildung erhalten, die sich später noch auszahlen wird. Nachdem durch Waffenlos die deutsche Bedrohung in Ägypten und im Nahen Osten abgewehrt war, fürchten die Engländer nun die militärische Macht des Yischuw, in dem sie den Feind von morgen spüren. 

1940 gewährt England die Gründung einer palästinensischen jüdischen Brigade. 

Infolge des Weltkrieges findet eine neue Trennung der Einflußberei­che im Mittleren Osten statt. Die strategische Bedeutung dieses Gebie­tes - das den Suezkanal und die Indien-Route umfaßt und so das Verbindungsstück zwischen Europa, Afrika und Asien bildet- kann keinesfalls unterschätzt werden. Obwohl die Wichtigkeit der Zuge­ständnisse in Palästina nicht außer acht gelassen werden sollte, so unterstreicht doch die Höhe der Kapitalinvestitionen in diesem Teil der Welt, besonders in Ägypten, das Interesse des Imperialismus gegenüber dem Nahen Osten, der ja außerdem einen beträchtlichen Exportmarkt darstellt. 

Aber die arabische Welt ist natürlich eine außergewöhnliche Vorrats­quelle für Rohstoffe, im besonderen Erdöl. Diese Bodenschätze, schon seit Beginn des 20. Jahrhundert begehrtes Objekt der Groß­mächte, erhalten während des 2. Weltkrieges verstärkte Bedeutung. )ie weitere Entdeckung von Erdöllagern zwischen den beiden Welt-Siegen läßt den Nahen Osten eine wachsende Rolle innerhalb der Erdölproduktion der Welt einnehmen. [11]

 

 

Freilich handelt es sich hier um einen winzigen Teil des gesamten Vorkommens, dessen Ausmaß auf 70,6% des Weltvorrats geschätzt wird. Die Gegend ist mit Ölleitungen durchzogen: Kirkuk - Tripolis; Kirkuk - Baniyas; Kirkuk - Haifa usw. Fügen wir hinzu, daß die Weltkartelle zugunsten des aus dem Golf von Mexiko entnommenen Erdöls Verkaufspreise über den Tarif fordern, während der Gestehungspreis des arabischen Erdöls weit unter diesem liegt. [12] 

Die tägliche Produktionsleistung beträgt 5143 Tonnen im Mittleren Osten gegen 200 Tonnen in Venezuela und 11 Tonnen in den Vereinig­ten Staaten. [13] Unter den niedrigen Erfordernissen an fixem Kapi­tal, den vorteilhaften Produktionsbedingungen: geringer Lebensstan­dard der Arbeitskraft, Transport und Versorgungsmonopol über Kraftstoff, sind die großen Erdölgesellschaften in der Lage, ihren Willen und ihre Bedingungen zu diktieren und stecken dadurch riesige Gewinne ein. So beträgt der Selbstkostenpreis einer Tonne in Bahrein, der Ertragsanteil für den Scheich miteinbegriffen, nur 25 Cents! [14] Seit 1928 haben sich die amerikanischen Firmen Machtpositionen im Irak, in Kuweit, Bahrein und Saudi-Arabien verschafft mit der Hoff­nung, ihre britischen Konkurrenten verdrängen zu können. Während des Krieges vermehren die Vereinigten Staaten aus strategischen Gründen ihre Militärstützpunkte, Flugplätze und Nachschublager in der Region. Die Regierung Roosevelt unterstützt offen die Interessen der Arabian American OH Company (Aramco) in Saudi-Arabien. Von jetzt an wird das arabische Erdöl als unerläßlich für die Verteidi­gung der USA erachtet. Nach der Verdrängung Frankreichs aus dem Nahen Osten, 1943, scheint der britische Einfluß dort scheinbar wieder gesichert. Tatsächlich wird im Laufe der Jahre die Auflösung des britischen Empire immer offensichtlicher, währenddessen die Amerikaner fortschreitend den Platz der Engländer einnehmen. [15] Die politischen Führer des Zionismus nehmen schon bald die neuen Veränderungen wahr und stellen sich darauf ein, den Beschützer zu wechseln. David Ben Gurion hat versichert: [16] »Ich für mein Teil zweifelte nicht mehr daran, daß sich der Schwerpunkt unsrer politi­schen Arbeit von Großbritannien nach Amerika verlagert hatte, das sich den ersten Platz als Großmacht in der Welt erworben hatte, und wo die zahl- und einflußreichsten der Diaspora versammelt waren«. (Erklärung vom März 1944). [17]

Die Verhältnisse im Yischuw werden durch neue ökonomische und politische Faktoren, die aus dem Krieg entstehen, erschüttert. Für Palästina gilt der Krieg als Signal für eine Expansion ohne Bei­spiel. Das Land wird ein wichtiger britischer Schutzpunkt, was eine beträchtliche wirtschaftliche Tätigkeit hervorruft. Man schätzt die reinen Militärausgaben der Streitkräfte in Palästina während der Periode von 1939 bis 1944 auf 113000000 Pfund. [18] Nach der Unterbrechung des traditionellen Handelsverkehrs unterstützt Eng­land die Entwicklung der einheimischen Produktion. Folge davon ist eine quasi unbegrenzte Nachfrage, die einen plötzlichen Aufschwung der Industrie hervorruft. Die öffentlichen und militärischen Dienste absorbieren Tausende von Arbeitern und beseitigen radikal die arabische Arbeitslosigkeit.

Es ist dennoch vor allem der jüdische Wirtschaftssektor, der, da er mit einer modernen Organisation ausgestattet ist und über wesentliche Reserven an qualifizierten Arbeitskräften verfügt, den Hauptnutzen aus der Expansion zieht. [19] Die jüdische berufstätige Bevölkerung wird auf 237500 geschätzt, erreicht damit gegenüber dem Bezugsjahr 1938 (= 100) den Index 229. [20] Das investierte jüdische Kapital beläuft sich zwischen 1940 und 1944 auf 6000000 palästinensische Pfund, die während der gleichen Periode importierte industrielle Aus­rüstung steigt auf 1101 000 Pfund. [21] Die Industrieproduktion des jüdischen Sektors wächst von 9000000 palästinensische Pfund im Jahre 1937 auf 20500000. Die Gesamtproduktion (Güter und Dienste) steigt zwischen 1939 und 1943 um ein Drittel. [22] Auch der Export von Industriegütern (Erdölprodukte nicht eingeschlossen) hat einen solchen schwindelerregenden Anstieg zu verzeichnen: von 983000 palästinensische Pfund im Jahre 1940 auf 4496000 1944, davon sind 60% für Länder des Mittleren Ostens bestimmt, das ist das Sechsfache von dem, was 193 9 in dieses Gebiet exportiert worden war. Die elektrische Energie-Produktion verdoppelt sich im Zeitraum von 5 Jahren (1939 bis 1944), während die Kaliproduktion zwischen 1937 und 1945 sich verdreifacht hat. [22a]  

Einen beträchtlichen Fortschritt weist gleichermaßen die Landwirt­schaft auf. Das Steigen der Lebenshaltungskosten und die Vollbe­schäftigung verursachen eine Erhöhung der Nominallöhne, ohne daß doch das Ungleichgewicht zwischen der Entlohnung der jüdischen und arabischen Arbeitskraft sich nennenswert geändert hätte. [23] Während dieser Periode steigt der allgemeine Lohnindex in der Indu­strie von 100 auf 272,4 für den arabischen Arbeiter und von 100 auf 251,5 für den jüdischen. Der Abstand bleibt also in etwa unverändert. »Als der Krieg beendet war, verringerte sich das industrielle Wachstum sofort, und die Importe aus Großbritannien bedrohten aufs neue die einheimische Wirtschaft: aber jetzt hatte das während des Krieges stattgefundene Wachstum den jüdischen Wirtschaftssektor in eine Kraft verwandelt, mit der zu rechnen war. Man wünschte nicht mehr unter britischer Herrschaft wie vor dem Kriege zu geraten, auch hatte jetzt ein noch wichtiger Teil der jüdischen Bevölkerung Interesse an der Aufrechterhaltung der industriellen Expansion. Diese neue Situa­tion hat den politischen Unabhängigkeitsforderungen des jüdischen Gemeinwesens nach dem Kriege ökonomische Impulse gegeben. Im Gegensatz zu den Arabern hatte das jüdische Gemeinwesen vor dem 2. Weltkrieg ähnliche Forderungen nicht formuliert, da es einsichtig schien, daß ein unabhängiges Palästina arabisch sei. Die neuartige dominierende Stellung der jüdischen Wirtschaft war einer der wesent­lichsten Faktoren für die veränderte Politik.« [24] Der Mangel an Arbeitskräften, der die jüdische Industrie auszeichnet, gestattet das zionistische humanitäre Verlangen nach Förderung der jüdischen Einwanderung durch ökonomische Argumente zu rechtfertigen. [25]

Dem ökonomischen Boom gelingt es gleichzeitig, das palästinensische Judentum mit einem ökonomischen Substrat auszustatten. Mit seiner Industrie, seiner Landwirtschaft und Sprache, seinen sozialen und kulturellen Institutionen, seiner Miliz und seiner Quasi-Regierung besitzt der Yischuw von nun an offensichtliche nationale und staatli­che Merkmale. [26] Die militärischen Erfahrungen, die sich die Juden in Palästina im Laufe des Krieges vermehrt angeeignet haben, begei­stert ihr Nationalbewußtsein und verstärkt ihr Selbstbewußtsein. Künftig wird die britische Bevormundung nur mehr als Joch verspürt: das hebräische Gemeinwesen in Palästina tritt in Konflikt mit seinem einstigen Beschützer. Diese nationale Bewußtwerdung bildet die Grundlage für die Wendung der zionistischen Politik. Da die zionistische Organisation die wachsende Rolle der USA im Nahen Osten ahnt, bildet sie im April 1941 das American Palestine Commitee, eine gigantische Pressure-Group aus 700 Persönlichkei­ten, darunter 6 Senatoren und 143 Abgeordneten. [27] Im Mai 1942, während einer außerordentlichen politischen Konfe­renz im New Yorker Biltmore-Hotel, die europäische zionistische Delegierte und Vertreter des Yischuw vereinigt, nehmen die amerika­nischen Zionisten eine politische Plattform an, die einige Monate später vom beschränkten Ausschuß des Generalrates der Zionisti­schen Organisation in Jerusalem gebilligt wird. Dieses Programm -»von Biltmore« genannt - fordert die unbeschränkte jüdische Ein­wanderung nach Palästina unter Kontrolle der Jewish Agency, die Errichtung eines jüdischen Staates auf dem gesamten Territorium des Landes und die Bildung einer jüdischen Armee. [28] Indem sie auf Betreiben Ben Gurions dieses Programm übernehmen, geben die Zionisten jegliche Bemühungen in Hinblick einer arabisch­jüdischen Annäherung auf und schließen sich damit fast den Ansich­ten der extrem-rechten Revisionisten an (die Differenz ist dermaßen klein, daß die letzteren schließlich einen Staat beiderseits des Jordan fordern). 

Indessen bietet auch die zionistische Linke keine reelle Alternative an. nie Jüdisch-Arabische Liga für Annäherung und Zusammenarbeit, J.g auf selten einiger hervorragender Persönlichkeiten der zionisti­schen Welt die Poale-Zion und den Haschomer Hatzair vereinigt, spricht sich für einen binationalen Staat aus, innerhalb dessen das jüdische Gemeinwesen, wie schon unterstrichen, solange wachsen könne, bis seine Bevölkerung die Mehrheit bilde. Daher »fördert die Haschomer Hatzair Partei die freie jüdische Einwanderung unter einziger Kontrolle der jüdischen Agentur. Dieser wäre die Entwick­lung der natürlichen Ressourcen des Staates anvertraut. Wäre die Einwanderung frei von aller Beschränkung, könnten die Juden eines Tages die Mehrheit im Lande werden und so einen jüdischen Staat bilden.» [29]

Nun erscheint es wenig einsichtig, daß die Araber sich davon überzeu­gen lassen, in ihrem eigenen Lande eine Minderheit zu werden. Doch Professor J. Magnes und die Förderer für den Binationalismus der Gruppe Ichud (Union) verteidigen ähnliche Gedanken. D. h., daß im Grunde alle Zionisten einig sind in ihrer Forderung, daß Palästina ein jüdischer Staat werde, oder zumindest einer mit jüdischer Mehrheit, aber daß die zionistische Linke dennoch hofft, dessen Beginn so lange verzögern zu können, bis die jüdische Bevölkerung tatsächlich Mehrheit geworden ist. 

Die Gruppe Stern nimmt, durch die kämpferische Einstellung des Yischuw zu neuem Mut erwacht, ihre Aktivitäten 1943 wieder auf. Aber in vielerlei Hinsicht hat diese Organisation eine grundlegende Veränderung durchgemacht. Sie rekrutiert ihre Mitglieder nicht mehr nur aus den Reihen der Revisionisten, sondern auch aus der zionisti­schen Linken. Präsentierte sie sich ehemals als abgespaltene Fraktion der Irgun, so nimmt sie jetzt den Namen Kämpfer für die Freiheit Israels an, besser bekannt unter der Bezeichnung Lechi, Akronym ihres hebräischen Namens. 

Nach der Flucht von etwa zwanzig ihrer Mitglieder aus dem Gefan­genenlager von Latrun, bildet sich die Gruppe von neuem. Sie gibt veränderte Richtlinien aus, die vom Schicksal ihres Gründers geprägt sind: »keine Übergabe« und propagiert den schrankenlosen Terroris­mus gegen die Engländer unter der Parole: »verjagen wir die Briten aus den jüdischen Städten«. Praktisch schießen ihre Mitglieder auf jeden britischen Soldaten in Sichtweite. Die Lechi, die 1944 etwa 300 Mitglieder zählt, ernennt sich zur Avantgarde der geheimen jüdischen Armee und erklärt der britischen Besatzungsmacht den Krieg. [30] Der unversöhnlich geführte Kampf der Gruppe gegen die britische Anwesenheit — der sich stark absetzt von der schlauen und vorsichti­gen Diplomatie der zionistischen Führung - hält die Vorstellung in Bann. Anscheinend hat ein Teil der Mitglieder der Gruppe - nach Brenner die Mehrheit [31] - die logischen Konsequenzen aus ihrer Kritik an dem heimlichen Einverständnis der zionistischen Führer und der Kolonialbehörden gezogen. Innerhalb der Organisation entwik­kelt sich undeutlich die Idee, daß die jungen Juden von Palästina in erster Linie Hebräer seien, d. h. Palästinenser. Wenn es auch wahr ist daß die Gruppe Stern am Ende für den jüdischen Staat kämpft, und es auch stimmt, daß zahlreiche Dokumente der Bewegung die Befreiung Palästinas (ja sogar die Trans-Jordaniens) allein zugunsten der Juden fordert, so erscheint doch zuerst in ihren Reihen die Idee des Semiti­schen Blocks: ein von imperialistischer Bevormundung befreiter Na­her Osten, innerhalb dessen sich die hebräische Nation einfügen wür­de. Die Terroristen, die vor keiner noch so kühnen Tat zurückschrecken, versuchen zweimal, den britischen Hohen Kommissar zu töten. Es gelingt ihnen nicht. Aber am 6. November 1944 töten zwei Mit­glieder der Gruppe Stern, Eliahu Hakim und Eliahu Bet-Zuri, den britischen Ministerpräsidenten im Mittleren Osten, Lord Moyne. Während des Prozesses in Kairo im Januar 1945 gibt Bet-Zuri die folgende Erklärung ab: »Es ist ein Irrtum anzunehmen, wir repräsen­tieren den Zionismus. In Wirklichkeit repräsentieren und sind wir die wahren Eigentümer Palästinas, und in dieser Eigenschaft haben wir uns einem Kampf verpflichtet für die Befreiung unsres Landes von einer Fremdherrschaft, die davon Besitz ergriffen hat.« [32] Diese mutigen Äußerungen und vor allem der palästinensische Inhalt, den die beiden Angeklagten ihrer Handlung geben, verschafft ihnen die Unterstützung der ägyptischen Studenten, die sich im Kampf mit dem britischen Kolonialismus befinden. Beide haben gezeigt, daß ein antiimperialistisches Bündnis von Juden und Arabern möglich ist unter der Bedingung, die palästinensischen Juden emanzipierten sich von der zionistischen Ideologie. Diese Einsicht ist der Mühe wert, nicht vergessen zu werden.

Im Januar 1945 finden in Kairo Studentendemonstrationen statt mit dem Ruf: »Befreien wir die Mörder von Lord Moyne.« [33] Ihrerseits nimmt der Irgun, unter der Führung von Begin, seine Terror­aktionen im Februar 1944 gleichfalls wieder auf; da sie aber nicht wünscht, alle Verbindungen mit den Engländern abzubrechen, legt sie besonderen Wert darauf, nur die offiziellen Gebäude zu zerstören und vermeidet sorgfältig jegliches Blutvergießen. Ihre effektive Stärke wird auf 1300 Kämpfer geschätzt. Die Ermordung Lord Moynes sprengt zeitweise das Bündnis der zionistischen Führer mit der Kolonialmacht. Doch nachdem Chur­chill im Unterhaus erklärt hatte, daß der Terrorismus ihn dazu führen könnte, »seine Haltung« gegenüber den Zionisten »neu zu überden­ken«, beeilt sich die zionistische Quasi-Regierung, sich in den Dienst der englischen Polizei zu stellen. Sie denunziert alle ihr bekannten terroristischen Kämpfer, während die Freiwilligen des Palmach etwa hundert Mitglieder des Irguns entführen, foltern und schließlich den Engländern ausliefern. Selbst die revisionistische Presse fällt in den Chor ein und verurteilt das Attentat. 

Gemäß Begin jedoch soll die Gruppe Stern mit Golomb, dem Führer der Hagana, vereinbart haben, den Kampf gegen die Briten zu unter­brechen. Diese Aussage aber erscheint zweifelhaft. Tatsächlich er­wähnt G. Frank die Unterredung von Friedmann-Yalin mit Eliahu Golomb, unterstreicht aber, daß dieses Treffen aber allein zum Ziele hatte, den Bruderkrieg zwischen den beiden Organisationen zu vermeiden.

Die offene Kollaboration des Mufti mit den Achsenmächten bringt den arabischen Nationalismus in Verruf und entmutigt seine Anhänger. Der Groß-Mufti, der sich mit Eichmann verbunden hatte, j rekrutierte für Hitler arabische Legionen aus der mohammedanischen  Bevölkerung des Balkans. [34] Dennoch bemühen sich die Briten, auf  die Husseini und die Person des Mufti Rücksicht zu nehmen. Von der [zunehmenden Stärke des arabischen Freiheitskampfes aufge- schreckt, beschließen sie, sich von jetzt an als Verteidiger der erneuer- ten arabischen Einheit auszugeben, um damit die Bewegung in eine  ihren Interessen günstigen Richtung zu lenken. Sowohl das Weißbuch  als auch die Bildung der arabischen Liga lassen sich innerhalb des l Rahmens einer Neuorientierung der englischen Politik interpretieren.  Doch der palästinensische arabische Nationalismus erholt sich nur l mühsam von seiner Niederlage. Die Istiklal versucht das Interesse der  Massen zu gewinnen, aber ihre Aktionen werden durch Meinungsverschiedenheiten zwischen den rivalisierenden Clans gelähmt. Dennoch  zeigt sich ein Anwachsen der politischen Aktivität seit November  1943 (französische Intervention im Libanon) und vor allem seit 1944,  als die britische Regierung wieder arabische öffentliche Demonstrationen erlaubt. 

Gleichfalls in den Verlauf des 2. Weltkrieges fällt das verzögerte  Erscheinen der arabischen Arbeiterbewegung. Die erstaunliche ökonomische Expansion, hervorgerufen durch das Colonial Office im Rahmen seiner Appelle für Kriegsanstrengungen, kommt auch dem  arabischen Sektor zugute und ruft eine Nachfrage nach Arbeitskräften hervor wie nie zuvor. »In wachsender Zahl werden Fellachen in die Reihen der städtischen Arbeiter aufgenommen, um die dringenden  Bedürfnisse der Streitkräfte der Regierung und der sich ausdehnenden Industrie zu befriedigen. Ende 1942 schätzt man, daß  85 000-100000 Araber mit Handarbeit und 30000 mit nicht-manueller Arbeit beschäftigt sind, während die Zahl der Handarbeiter, die  fortwährend verstädtert werden, wahrscheinlich 3 5 000-3 7 000 nicht  überstiegen hat. Fügen wir hinzu, daß die kommunistische Gewerk- schaftsbewegung toleriert wird nach dem Kriegseintritt der Sowjet- Union. Im Rahmen der Entwicklung der Kriegswirtschaft fordert die  britische Regierung ebenfalls den arabischen Syndikalismus. 1 Unter den Eisenbahnern, den Beschäftigten der Tabakindustrie und  den städtischen Arbeitern herrscht die Palestine Arab Workers Society, eine im Jahre 1925 gegründete Gewerkschaft. Unter der Basis in Haifa, der Erdölindustrie, den Werften und dem Transportwesen entwickelt sich seit 1942 die Föderation of Arab Trade Unions and Labours Societies, die unter kommunistischer Führung etwa 1600 angeschlossene Mitglieder zählt, deren Einfluß aber sich auf 3000 Arbeiter ausdehnt. Der gewerkschaftliche arabische Flügel der Histadrut, der fast vollständig aufgehört hatte zu existieren, wird 1943 wieder zu neuem Leben erweckt, macht diesmal aber Platz für einen nationalistischen Syndikalismus. Die zionistische Zentrale nutzt dies­bezüglich alle Vorteile aus, die sich ihr auf Grund der abgeschlossenen Militärverträge bieten. Insgesamt sind 1942 12000 arabische Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Die Zahl steigt im Laufe der folgenden Jahre und erreicht 1945 zwischen 15 000 und 20 000 eingeschrie­bene Mitglieder, das sind etwa ein Fünftel der arabischen Arbeitermassen. [35] 

Die Verminderung der nationalistischen Aktivitäten und die Fortschritte der Gewerkschaftsbewegung führen zu Bedingungen, die sich günstig auf Maßnahmen zur Durchsetzung einheitlicher Forderungen auswirken. So finden während der Kriegsjahre mehrere jüdisch-arabische Streiks statt, darunter 1942 der Personalstreik in den Militärla­gern. [36] 

Die kommunistische Partei Palästinas steht 1940 einer größeren Krise gegenüber: die »jüdische Sektion«, die scharf die während der Jahre 1936-1939 eingenommene Haltung der Partei kritisiert, trennt sich von dieser bis 1942. 1939 folgen die palästinensischen Kommunisten den Richtlinien des Kremls, wie der Krieg zu interpretieren sei: wohl nehmen sie Stellung gegen den imperialistischen Krieg, doch in ihrem blinden Eifer »stecken« sie davon auch wieder etwas zurück. Da sie engstirnig der stalinschen Linie folgt, hegt die PKP die fantas­tischsten Illusionen über die schwache, im übrigen pronazistische Bewegung Raschid Alis im Irak. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wird dem britischen Regime in Palästina vom hebräischen Organ der PKP versichert, »daß es einen wichtigen Freundeskreis im Mittleren Osten besitze«, ob­wohl dieses Regime von der gleichen Zeitung noch im Juli 1940 wegen seiner gewohnten maßlosen Reaktion als ein »mit dem von Hitler oder Mussolini identisches System« bezeichnet worden war, »mit denen die englischen und französischen Imperialisten im Kampf für das Monopol über die Ausbeutung des Proletariats in den kapitali­stischen Ländern und der unterdrückten Völker der Kolonien stehen«. [37] 

Plötzlich zeigen die palästinensischen Kommunisten Begeisterung für die Rekrutierung von Freiwilligen. Dank dieser Politik darf die Partei zum ersten Mal in der Geschichte ihre Propaganda im Rahmen der Legalität führen (seit 1942). Arabische kommunistische Gruppen werden in Jerusalem und Haifa gegründet. Nun, da sie leidenschaftli­che Partisanen des Kampfes für die Demokratie geworden sind, nähern sich die kommunistischen Juden deutlich der zionistischen Be­wegung. Diese Wendung führt nach der Auflösung der Komintern im lahre 1943 zu einer erneuten Spannung innerhalb der Partei. Diese Spaltung spiegelt das tiefe Eindringen des bourgeoisen Nationalismus unter dem Schutz einer rechten Politik der »nationalen Einheit« wi­der Der Kommunismus in Palästina spaltet sich auf in einen jüdischen Flügel (dem kein arabisches Mitglied angehört), der weiterhin den Namen der Kommunistischen Partei Palästinas trägt, und in eine arabische Fraktion, der Nationalen Befreiungsliga (N.B.L.), die ihrem Statut nach rein arabisch ist. Ein wichtiger Teil der jüdischen PKP überläßt sich der Einheitspolitik mit den Zionisten. [38]  

Von ihrem früheren Antizionismus abgekommen und verdorben durch den stalinistischen Bürokratismus trachten die jüdischen Kommunisten von jetzt an nach Anerkennung.  

Die N.B.L. (1944 gegründet), erwirbt sich schnell eine substantielle Basis unter den arabischen Arbeitern. Die Gewerkschaften kommunistischer Prägung (Föderation of Arab Trade Unions) zählen 1945 4000-5000 Mitglieder. Sie vereinigen sich mit dem linken Flügel der Palestine Arab Worker Society zum Arab Workers Congress. Die Liga schmeichelt fleißig dem Mufti von Jerusalem und der Istiklal, d. h. real den Parteien unter feudaler Führung, und widersetzt sich sowohl der zionistischen Einwanderung wie auch dem Verkauf von Grund und Boden an Juden. Kurz sei vermerkt, daß die Liga die wirklich einzige arabische Partei in Palästina ist, da die anderen politischen Organisationen, wie wir schon gesehen haben, Erbteil der großen Familien sind. 

Die Spaltung der palästinensischen Kommunisten in zwei nationale Fraktionen im Schlepptau der beiderseits chauvinistischen Bourgeoi­sien ist das logische Ergebnis ihrer Praxis der »nationalen Front« und der Aufgabe des Internationalismus der Arbeiterschaft. Sie symboli­siert das Scheitern der stalinistischen Linie in Palästina. Am Ende des Weltkrieges stellt sich das Palästinaproblem in neuer Weise. Die Weltöffentlichkeit ist erschüttert durch das Ausmaß des von den Nazis betriebenen Völkermordes: 6 000 000 ermordete europäische Juden. 

Aber wieviel Waisen, einzig Überlebende einer Familie, wieviel Flüchtlinge, wieviel durch Leiden und Folter zerstörte Leben haben die Nazis gleichfalls auf dem Gewissen? 

1945 werden 98000 Überlebende der KZ in Flüchtlingslagern in Deutschland und Österreich untergebracht. Ihre Zahl erhöht sich unaufhörlich durch die Ankunft polnischer Juden, die aus ihren zerstörten Dörfern flüchten, verjagt durch Pogrome, die zwischen 1945-1946 im Lande ausbrechen. (Als die polnische Regierung den »Kardinal Hlond, einen bekannten Rassisten, bittet, nach dem Pogrom von Kieice 1946 [41 Ermordete] gegen den Antisemitismus Stellung zu beziehen, erklärt dieser, daß »die Quelle der Exzesse nicht im Rassenhaß besteht, sondern in der Politik und [daß] sie [die Exzesse d. Übers.] die Folge der Beteiligung jüdischer Persönlichkeiten in der Regierung sind«.) [39] 

Es werden 1947 nicht weniger als 450000 jüdische Flüchtlinge ge­zählt, darunter Tausende von illegalen Anwärtern auf eine Einwande­rung nach Palästina, die von den britischen Behörden auf der Insel Zypern festgehalten werden. Die Großmächte, die vor dem Brandop­fer der Nazis sich gleichgültig und passiv verhalten haben, die sich taub stellten vor den Rufen, die die Opfer der Verbrennungsöfen erhoben (wer hat den heroischen Aufständischen des Warschauer Ghettos geholfen?), verweigern nun hartnäckig und zynisch den Über­lebenden des Genozids das Betreten ihres Territoriums. Die Entkom­menen der KZ müssen erkennen, daß für sie kein Weg in die Einwan­derungsländer offen steht. Von 1945 bis 1948 wird es nur 25000 Juden gestattet, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen. [40] Diese dramatische Situation muß ständig im Gedächtnis behalten werden, betrachtet man die weitere Entwicklung der Palästina-Frage. Da ihnen jeder Zufluchtsort versperrt wird und kein Land einwilligt, sie aufzunehmen, klammern sich diese »displaced persons« — welch feinfühliger Euphemismus! - an eine letzte Hoffnung: sich in Palästi­na niederzulassen, dem einzigen Ort in der Welt, wo ein Gemeinwesen ihnen anbietet, sie aufzunehmen und zudem ein Ort, der weit entfernt scheint von der allmächtigen Erinnerung der Rassenverfolgung. Die skandalöse Gleichgültigkeit der westeuropäischen Regierungen gegenüber dem Schicksal der Überlebenden des Nationalsozialismus erklärt deren starke Bindung an den Zionismus. Selbst die zionistischen Führer verweigern 1946 die Abreise von tau­send jüdischen Kriegswaisen, die England vorschlägt, aufzunehmen, in andere Länder außer Palästina, und das trotz des Abkommens der Zionistischen Organisation. [41] »Der Zionismus, der sich immer vom Antisemitismus genährt hatte, wurde eine bedeutende politische Tendenz selbst unter den Juden, die niemals persönlich die Absicht hatten, nach Palästina auszuwandern. Noch wichtiger war der Umstand, daß die Großmächte begannen, den Zionismus als Vertretung des gesamten jüdischen Volkes anzu­sehen.« 

»Der Krieg ließ eine große Zahl jüdischer Flüchtlinge in Europa zurück, von denen viele, durch die Zionisten ermutigt, wünschten, in Palästina einzuwandern. Da die palästinensischen Araber in ihrem eigenen Lande nicht eine Minderheit werden wollten, übten sie auf die britische Regierung Druck aus, damit diese die jüdische Einwande­rung stoppe. Daraufhin beginnen die Zionisten in großem Maßstab die illegale Einwanderung zu organisieren. Die Briten suchten nicht nur wegen des arabischen Druckes sie daran zu hindern, sondern auch, weil die Unabhängigkeitsbestrebungen, die sich bei den Juden verstärkten, sie beunruhigten. Die Weltöffentlichkeit, besonders in Europa und den Vereinigten Staaten, schwankte noch unter dem Schock der Entdeckung der von den Nazis begangenen Kriegsverbrechen und sympathisierte so unvermeidlich mit den Flüchtlingen. Die daraus sich ergebende politische Atmosphäre war damit gleicherma­ßen feindlich gegenüber der britischen Regierung wie dem arabischen Nationalismus. Diese gleiche Atmosphäre herrscht noch heute vor und ist einer der Haupttrümpfe des Zionismus.« [42] Mehr als zwei Millionen Juden schließen sich 1946 der Zionistischen Organisation an, das sind fast 20% des Weltjudentums. Die Fläche des jüdischen Bodens wächst um 140000 Dunam von September 1939 bis September 1942. [43] Die Erwerbungen sind fast ausschließlich Sache des Jüdischen Nationalfonds, der ebenfalls den Grund und Boden der jüdischen Privateigentümer wieder aufkauft. Auf diese Weise steigt der Anteil an Boden, der sich im Besitz der Organisation befindet, von 765000 Dunam im Jahre 1935 auf 928000 im Jahre 1947, und repräsentiert grob geschätzt ein Viertel bzw. die Hälfte des jüdischen Bodens. [44] Dieser Anteil entspricht 1947 etwa 7% der Fläche Palästinas. Die zionistische Weltkonferenz von 1945 verlangt, »daß eine soforti­ge Entscheidung getroffen werde, um aus Palästina einen jüdischen Staat zu bilden«, und fordert »daß die jüdische Agentur mit aller nötigen Autorität ausgestattet wird, damit soviel Juden nach Palästi­na gebracht werden können, wie sie für notwendig erachtet«. [45] 

Anmerkungen

1) Hierzu: Summery of Land Transfers Regulations, February 1940, ebd. S. 174 f., und
A Survey ofPalestine, I, S. 261ff.

2) HERMANN BEKAERT, Le stiltut des etrangers en Belgique, Tome I, Brüssel 1940,
S. 430, 449L, 457 und 465. Vgl. JAQUES VERNANT, The Refuges in the Post-War
Wortd, London 1953, S. 299 und 329.

3) ARTHUR D. MORSE, Why Six Million Died, The Torch, (Philad.), Spring 1968, S. 12,
BEKAERT, a. a. 0. S. 295 und 35 8.

4) Appeal from the Doomed, The Observer, 4. 6.1961.

5) HUREWITZ, The Struggle .... S. 140f.; Great Britain and Palestine, S. 132f.; KOESTLER, a. a. 0. S. 75-82.

6) The Political History ..., S. 30 (Nr. 115).

7) Y. BAUER, From Cooperation.. ., S. 189ff.

8) HUREWITZ, The Struggle..., S. 124 f.

9) HUREWITZ, a. a.O. S. 164-166; BRENNER, a. a.O. S. 1-6. Eine hiervon abweichende,
aber detaillierte Darstellung des Todes von Stern bietet FRANK, a. a. 0. S. 125 ff.

10) FRANK, a. a.O. S. 92f., 119 und 125.

11) ]. BEAUJEU-GARNIER,L'e'<:o"omied«MoyCT-Orient, Paris 1961, S. 113f.

12) C. ISSAWI und M. JEGANEH, The Economy of Middle Eastern Oil, London 1962,
S. 87f.

13) BENJAMIN SCHWARDRAN, The Middle East Oil and the Great foulers, London 1956,
S.441,Anm.l5.

14) Ebd. S. 441.

15) HUREWITZ, a. a.O. S. 170-181.

16) DAVID BEN GURION, Israel, Annees de Lüttes, Paris 1964, S. 23.

17) HUREWITZ, a. a. 0. S. 178.

18) GRUNWALD und RONALL,a.a.O. S. 261.

19) The Palestine Problem, S. 10.

20) A Survey of Palestine, II, S. 732.

21) Ebd. l, S. 511.

22) Great Britain and Palestine, S. 79.

22) a C. WILSON-BROWN, War Industries ofPalestine, in HOBMAN, a.a.O. S. 200-215;VLADIMIR LWSCHITZ-GARIK, The Electrificaüon of Palestine, ebd. S. 187- M. P
NOVOMEYSKY, The Dead Sea and The Worid Potash Industry, ebd. S. 141. '

23) A Survey of Palestine,ll,S.735U.

24) The Palestine Problem, a. a. 0. S. 10.

25) HUREWITZ,a.a.O.S.133.

26) Vgl. RODiNSON Israel fait colonial S. 55,

27) HUREWITZ, a.a.O. S. 144.

28) Great Britain and Palestine, S. 134; Muhammad Khalil (Hrsg.), The Arab States and
the Arab League. A Documentary Record, Beirut 1962, Bd. 2, S. 506 f.

29) COHEN, Le mouvement sioniste, S. 324.

30) BRENNER, a.a.O. S. 7-11; HUREWITZ, a.a.O. S. 198.

31) BRENNER, a.a.O. S. 13.

32) BRENNER, a. a. 0. S. l lt.

33) FRANK,a.a.O.S.316-326.

34) HUREWITZ a. a. 0. S. 153rf.

35) Ebd. S. 122f.; A Survey of Palestine, II, S. 764.

36) TlBI,a.a.O.S.44.

37) T. CLIFF, Le röle du stalinisme, S. 23.

38) A Survey of Palestine, II, S. 960 f. Anm. d. Hrsg.: Diese Feststellung Weinstocks
dürfte nicht unkontrovers sein.

39) Nach MILO ANSTADT, zit. bei JEAN ROGIER, Vriy Hederland, 10.9.66.

40) JACQUES VERNANT, The Refugee in the Post-War Worid, London 1953, S. 62-65; CROSSMAN, a. a. 0. S. 85 f.

41) Ebd. S. 87; SYKES, Cross Roads..., S. 344.

42) The Palestine Problem S. 11.

43) HUREWITZ, a. a. 0. S. 138f.

44) Vgl. die Broschüre: No longer a Legend, Herausgegeben vom Jüdischen National-
fonds in Tel-Aviv, 1948.

45) I.COHEN, Le mouvement sioniste, S.328.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde von der Red. trend gescannt. Als Vorlage diente "Das Ende Israels?" 1975 Berlin-West, S. 174 - 187. Bei diesem Buch handelte es sich um eine auszugsweise Übersetzung von „Le Sionism contre Israel" (Der Zionismus gegen Israel), dessen frz. Neuherausgabe vom Autor jetzt untersagt wurde.

"Das Ende Israels?" wurde übersetzt und bearbeitet von Eike Geisel und Mario Offenberg und in der Politikreihe (Nr. 61) bei Wagenbach 1975 in Westberlin herausgegeben. Es unterscheidet sich vom Originaltext, der 1969 erschienen, folgendermaßen:

"Zur editorischen Technik dieser Ausgabe sei noch folgendes vermerkt: es erwies sich aus mehreren Gründen als undurchführbar, die umfangreiche französische Originalausgabe ohne größere Kürzungen in deutscher Übersetzung herauszubringen. Der Mühe, sich komplizierte gesellschaftliche Prozesse begrifflich und historisch anzueignen, entsagt, wer einer um sich greifenden Tendenz sich unterwirft, die den Horizont der Aufklärung auf Umfang und Inhalt von Schulungsheften festschreibt. Der fortschreitende politische Analphabetismus, der auch für die hier untersuchten Fragen nur eine Handvoll erstarrter Formeln parat hat, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Wichtige Bücher sind leider oft auch dicke Bücher. Weshalb die deutsche Fassung nun so drastisch ihres ursprünglichen Umfanges beschnitten ist, hat seinen Grund in der Logik des Marktes, gegen die ein progressives Verlagskonzept wenig ausrichtet. Vor der Alternative: Schublade oder Kürzung entschieden wir uns einmal für die vom Autor selbst mit erstellte Zusammenfassung von Teil II (die aus einer spanischen Ausgabe übernommen und mit geringfügigen Korrekturen versehen wurde) und eine kürzende Bearbeitung von Teil I. Die Kürzungen betreffen in der Hauptsache die Auseinandersetzung mit in der Tendenz gleichen, in der Nuancierung aber unterschiedlichen Interpretationen zionistischer Autoren, zum anderen eine ganze Reihe von aufgeführten Belegen. Wir hoffen, daß durch diese Beschränkung der wissenschaftliche Charakter und die Anschaulichkeit der Untersuchung von Weinstock keine entscheidende Einbuße erleiden. Eigennamen, politisch-organisatorische Termini, Institutions- und Ortsbezeichnungen wurden transkribiert aus dem Hebräischen bzw. Arabischen, und - soweit erforderlich - durch von den Herausgebern in Klammem eingefügte Erläuterungen erklärt. Nach Möglichkeit haben wir versucht, Zitate Weinstocks aus deutschen Quellen nach den Originalen zu zitieren, in anderen Fällen aber zugängliche deutsche Ausgaben zu benutzen. Der Anhang des französischen Originals (u.a. über marxistische Theoretiker zur Judenfrage, Grundsatzerklärungen von der I.S.O.-Matzpen) wurde nicht übernommen." (S.26)