Antisemitismus und Sozialabbau
Nachama sieht gesellschaftlichen Paradigmawechsel

Von Max Brym
10/04

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Im Monatsmagazin der VVN-BDA ( Oktober/ Novemberausgabe) ist ein Gespräch mit dem Direktor der Berliner Stiftung "Topographie des Terrors", Dr. Andreas Nachama, abgedruckt. In dem Interview findet Herr Nachama deutliche Worte zur gesellschaftlichen und politischen Situation in Deutschland.

"Gesamtgesellschaftlicher Paradigmawechsel"


Dr. Andreas Nachama sieht auf Grund aktueller innenpolitischer Ereignisse einen "gesamtgesellschaftlichen Paradigmawechsel" und größer werdende Herausforderungen, "wenn es nicht gelingt, die Indifferenz der Gesellschaft zu überwinden". Konkret geht Nachama auf die neue Qualität des Antisemitismus, die Gefährdung der Demokratie und den rasanten Sozialabbau ein. Der Antisemitismus ist laut Nachama in der alten Bundesrepublik "nie weg gewesen, jetzt trete er nur etwas anders auf, weil er in den Medien und in der Öffentlichkeit gesellschaftsfähig gemacht werde." Dieser Antisemitismus ist auch an Stellen zu finden, "wo Politik gemacht werde". Es wird billigend in Kauf genommen, "dass jüdische Gemeindezentren in Hochsicherheitstrakte verwandelt werden müssen". In der Tat, es gibt kein breites gesellschafts- relevantes Engagement um ein normales jüdisches Leben in Deutschland zu ermöglichen. Zudem ermöglichte das Bundesverfassungsgericht im Juni dieses Jahres erstmals nach 1945 einen Aufmarsch der nazistischen NPD gegen den Neubau einer Synagoge in Bochum. Diese Tatsache bezeichnet Nachama in dem Interview als "Tabubruch". Der organisierte Antisemitismus wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts legitimiert. Zu dieser Realität erklärte Nachama: "Antisemitismus ist keine Meinung, Antisemitismus ist ein Verbrechen, er ist in seiner Konsequenz immer Aufruf zum Mord". Durch die Legalisierung antisemitischer Mord und Pogromhetze durch das Verfassungsgericht, stellt sich die "Demokratie selbst in Frage".

"Gefährdete Demokratie"

Die bürgerliche Demokratie sieht Dr. Nachama in dem Gespräch als gefährdet an. Er betrachtet den Prozeß des sozialen Kahlschlages in Deutschland, die "Normalität" antisemitischer Gesinnung, als zwei Seiten einer Medaille. In dem Gespräch führt er dazu folgendes aus: "Die Grundlagen, auf denen die Bundesrepublik nach 1945 mit den Lehren aus der Vergangenheit errichtet wurde, auch eine soziale Gesellschaft sein zu wollen, werden im Rahmen einer gigantischen Umverteilung plötzlich in Frage gestellt". Nachama beklagt, "dass es zur offensiven Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung" eines "gesellschaftlichen Konsens bedürfe". Dieser Konsens des sozialen Kompromisses wurde durch das Großbürgertum in Deutschland aufgekündigt. Es gibt gegenwärtig den Fakt, dass die Besitzenden immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Das private Geldvermögen der Deutschen hat die Höhe von 3,9 Billionen Euro erreicht. Rund zwei Drittel dieses Vermögens befinden sich in der Hand von 775.000 Personen. Die schmale Schicht der Millionäre und Milliardäre drückt der gesamten Gesellschaft ihren Willen auf. Um Rund 20% wächst jährlich das Vermögen der Kapitalbesitzer. Durch die neuerliche Senkung des Spitzensteuersatzes zum 1. Januar 05 erhoffen sich die Großverdiener einen zusätzlichen Vermögenszuwachs von 4 Milliarden Euro. Gleichzeitig soll durch Hartz IV der Bundeshaushalt um etwas mehr als 4 Milliarden Euro entlastet werden. Im Produktionsbereich und im Handel sind Massenentlassungen, Lohnverzicht sowie unbezahlte Mehrarbeit angesagt. Die Meinungsproduzenten in der BRD beschäftigen sich nur noch mit der Frage, aufkommenden sozialen Protest zu denunzieren. Der Kampf gegen den Antisemitismus beschäftigt das bürgerliche Establishment nicht. Höchstens in der perfiden Form, sozialen Protest mit Nazismus und Antisemitismus in Verbindung zu bringen. Grundsätzlich entwickelt sich in der "Mitte der Gesellschaft" Akzeptanz und Toleranz was den Antisemitismus angeht. Nachama erklärt zu neuesten deutschen Entwicklung: "Ein Marsch gegen den Bau einer Synagoge wäre vor 20 Jahren nicht von einem Bundesverfassungsgericht genehmigt worden. Genau so wenig, wie die unsozialen Maßnahmen, die es heute gibt, vor zwanzig Jahren Bestand gehabt hätten".


Anmerkungen

VVN/BDA Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschisten. Zahlenmaterial ISW München -Bilanz 2003
 

Editorische Anmerkungen

Max Brym stellte uns diesen Artikel am 17.10.2004 zur Veröffentlichung zur Verfügung. Er lebt als freier Journalist in München.