So viel Aufregung herrschte schon lange nicht mehr bei Frankreichs
Sozialdemokraten, die seit ihrem Eintritt in die Opposition und vor allem
seit den Regional- und Europaparlamentswahlen im Frühjahr vom Erfolge
verwöhnt sind. Solide Feindschaften werden derzeit erklärt: Der Parti
Socialiste (PS) ist in seiner Haltung zum EU-Verfassungsentwurf, über dessen
Annahme oder Ablehnung das französische Wahlvolk voraussichtlich im zweiten
Halbjahr 2005 abstimmen soll, gründlich gespalten. Nunmehr sollen die
PS-Mitglieder Anfang Dezember dieses Jahres per Urabstimmung entscheiden,
welche Position ihre Partei einnehmen soll.
Die Überraschung kam in der zweiten Septemberwoche von Laurent Fabius:
Der
derzeitige Vizechef des PS, Premierminister in den Jahren 1984 bis 86 und zu
Anfang dieses Jahrzehnts zwei Jahre lang Wirtschaftsminister im Kabinett von
Lionel Jospin, sprach sich für die Ablehnung der EU-Verfassungsvorlage aus.
Nun gibt es für die politische Linke hinreichend gute, ja zwingende
Gründe,
Nein zu dem Text zu sagen: Dessen Artikel 3-2 schreibt für die Europäische
Union einen "einheitlichen Markt, auf dem der Wettbewerb frei und unverzerrt
ist", dauerhaft fest. Das wird künftig die öffentliche Intervention in jene
Bereichen verbieten, die per EU-Beschluss für die private Konkurrenz
geöffnet wurden das Gesundheitswesen etwa, morgen vielleicht das
Bildungswesen. Zumal Artikel 5-2 allen Mitgliedsländern verbietet, "die
Verwirklichung der in dieser Verfassung enthaltenen Ziele zu gefährden".
Artikel 40-3 bestimmt: "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre
militärischen Kapazitäten zunehmend zu verbessern" und "die industrielle und
technologische Basis des Verteidigungssektors zu verstärken"; und Artikel
40-7 schreibt eine "enge Kooperation" der EU in Rüstungsfragen mit der NATO
vor.
Nur logisch ist, dass etwa die KP und die radikal-linke LCR "Non" zu
dieser
"neoliberalen und militaristischen Zwangsjacke" sagen. Dagegen will die eher
tradionsmarxistisch-ökonomistische Partei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf)
sich bisher nicht an einer "Nein"-Front zur Abstimmung über den
EU-Verfassungsentwurf beteiligen, sondern zu dem Thema eher passiv bleiben,
um keinerlei Gefahr zu laufen, ihre Stimme mit jener bürgerlicher oder
nationalistischer Kräfte zu vermischen.
Bei den Gewerkschaften sind bisher vor allem die linken
SUD-Basisgewerkschaften eindeutig gegen den Verfassungsentwurf, während die
CGT bisher keine offizielle Position beziehen wollte (um nur ja unter Beweis
zu stellen, dass sie "nicht mehr im Schlepptau der KP" befindlich ist).
Hingegen ist sozialliberale CFDT, wie ihr zuzutrauen war, tatsächlich für
den EU-Verfassungsentwurf, darin der Position des Brüsseler Lobbyverbands
namens "Europäischer Gewerkschaftsbund" (EGB) folgend.
Warum aber das Nein des Laurent Fabius?
Dennoch hätte man nicht gerade von Laurent Fabius erwartet, dass er aus
solchen guten Gründen Non zum Verfassungsentwurf sage. Bisher galt Fabius
eher als wirtschaftsliberaler Technokrat, ja in wirtschaftspolitischer
Hinsicht als "Blairist", was überzogen sein mag. Und im August 2003 hatte er
noch vorgeschlagen, die Rüstungsausgaben der Mitgliedsländer aus der
Berechnung der Staatsausgaben auszuklammern, um den EU-Stabilitätspakt zu
retten und zugleich den "verteidigungspolitischen Erfordernissen" gerecht zu
werden. Dass er nun überraschend Nein sagt, hat einerseits innenpolitische
Gründe: Fabius steht bereits in den Startlöchern, um 2007
Präsidentschaftskandidat des PS zu werden. Die ehemalige Ministerriege der
Partei und ihre "Staatsmänner und frauen" sagen fast geschlossen Ja zur
EU-Verfassung, flankiert von den Grünen, die in eine geradezu naive
EU-Begeisterung ausbrechen. Daher bietet sich für Fabius eine traumhafte
Gelegenheit, sich zu profilieren und seinen Ruf als zynischer
Elitenvertreter loszuwerden. Ähnlich, wie die Kritik an der Berliner
Regierungspolitik Oskar Lafontaine einen ungerechtfertigten Ruf als
"Rebellen" bescherte, nachdem er in den späten 80ern noch die Gewerkschaften
als SPD-Neoliberaler verschreckte.
Vorige Woche biederte Fabius sich denn auch bei der CGT an: Anlässlich
der
PS-Parlamentariertagung im bretonischen Lorient Mitte voriger Woche, bei
welcher der parteiinterne Streit ausgetragen wurde, ging er bei den
CGT-Sektionen zweier streikender Niederlassungen des telekomeigenen
Internet-Anbieters Wanadoo (die Erpressungen mit der Drohung von
Produktionsauslagerungen ausgesetzt sind) vorbei gucken. Das zwang den
derzeitigen PS-Parteivorsitzenden François Hollande (alias Wandelnde
Schlaftablette), der die "Ja"-Kampagne der Befürworter des
Verfassungsentwurfs anführt, dann seinerseits dazu, den CGT-Streikenden in
der Bretagne ebenfalls seine Unterstützung auszusprechen. Wozu so ein
innerparteilicher Streit doch gut sein kann...
Zusammen mit dem Non der Parteilinken könnte jenes von Laurent Fabius
eventuell tatsächlich innerparteilich die Waage zugunsten der Ablehnung des
Textes kippen lassen. Ferner dürfte aber die Bereitschaft eines Fabius, das
Verfassungsprojekt scheitern zu lassen und damit eine Krise der EU in ihrer
bisherigen Form heraufzubeschwören, auf die Haltung eines Teils der
französischen Bourgeoisie schließen lassen. Aus deren Sicht ist eine
"Vertiefung" der EU-Integration durch die Erweiterung auf 25 Mitglieder, mit
recht unterschiedlichem Entwicklungsniveau, erst einmal als aussichtsreiche
Option vom Tisch. Deswegen zeigen sie sich der Gesamt-EU gegenüber relativ
indifferent und wollen sich eher auf den Ausbau eines "Kerneuropa"
konzentrieren.
Die Rechte, der türkische EU-Beitritt und dumpfe Ressentiments
Auch die politische Rechte hat ihre Probleme. Die konservativ-liberale
Rechte steht zwar nahezu geschlossen hinter dem Oui zum Verfassungsentwurf.
Aber national-konservative EU-Skeptiker sowie die extreme Rechte scheuen
sich bisher nicht, die Frage eines künftigen EU-Beitritts der Türkei zu
nutzen, um Ressentiments zu schüren. Fast der gesamte rechte Wahlkampf zu
den Europawahlen im Juni war, von der bürgerlichen Präsidentenpartei UMP bis
zu Jean-Marie Le Pen, auf die Ablehnung des türkischen Beitritts
konzentriert. Dagegen ist man links eher für die Annahme des türkischen
Beitrittsgesuchs: Die Grünen fordern sie "so schnell wie möglich", der PS
äußert sich zurückhaltend dafür, und auch die LCR befürwortet den türkischen
EU-Beitritt unter der Bedingung einer Anerkennung des Armenier-Genozids
durch Ankara.
Die Regierungspartei UMP befand sich dabei in einer delikaten
Gleichgewichtsübung, da der ihr angehörende Staatspräsident Jacques Chirac
zugleich auf dem diplomatischen Parkett für die Aufnahme der Türkei eintrat.
Jetzt aber scheint die Lösung des heiklen Problems gefunden: Man einigte
sich rechts auf die Durchführung eines Volksentscheids, der nach dem
definitiven Abschluss der Verhandlungen zwischen der EU und Ankara und vor
einer Aufnahme der Türkei abgehalten werden soll. Das ist blanke Demagogie.
Aber sie soll die ressentimentträchtige Türkeifrage aus dem Abstimmungskampf
von 2005 heraushalten, und damit die Ressentimentträger für das rechte "Ja"
zur EU-Verfassung mobilisieren.
Editorische Anmerkungen
Diesen Artikel schickte uns
der Autor am 3.10. 2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.
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