Frankreich:
Linke, Rechte und der antisoziale EU-Verfassungsentwurf


Von Bernhard Schmid, Paris
10/04

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So viel Aufregung herrschte schon lange nicht mehr bei Frankreichs Sozialdemokraten, die seit ihrem Eintritt in die Opposition und vor allem seit den Regional- und Europaparlamentswahlen im Frühjahr vom Erfolge verwöhnt sind. Solide Feindschaften werden derzeit erklärt: Der Parti Socialiste (PS) ist in seiner Haltung zum EU-Verfassungsentwurf, über dessen Annahme oder Ablehnung das französische Wahlvolk voraussichtlich im zweiten Halbjahr 2005 abstimmen soll, gründlich gespalten. Nunmehr sollen die PS-Mitglieder Anfang Dezember dieses Jahres per Urabstimmung entscheiden, welche Position ihre Partei einnehmen soll.  

Die Überraschung kam in der zweiten Septemberwoche von Laurent Fabius: Der derzeitige Vizechef des PS, Premierminister in den Jahren 1984 bis 86 und zu Anfang dieses Jahrzehnts zwei Jahre lang Wirtschaftsminister im Kabinett von Lionel Jospin, sprach sich für die Ablehnung der EU-Verfassungsvorlage aus.  

Nun gibt es für die politische Linke hinreichend gute, ja zwingende Gründe, Nein zu dem Text zu sagen: Dessen Artikel 3-2 schreibt für die Europäische Union einen "einheitlichen Markt, auf dem der Wettbewerb frei und unverzerrt ist", dauerhaft fest. Das wird künftig die öffentliche Intervention in jene Bereichen verbieten, die per EU-Beschluss für die private Konkurrenz geöffnet wurden ­ das Gesundheitswesen etwa, morgen vielleicht das Bildungswesen. Zumal Artikel 5-2 allen Mitgliedsländern verbietet, "die Verwirklichung der in dieser Verfassung enthaltenen Ziele zu gefährden". Artikel 40-3 bestimmt: "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Kapazitäten zunehmend zu verbessern" und "die industrielle und technologische Basis des Verteidigungssektors zu verstärken"; und Artikel 40-7 schreibt eine "enge Kooperation" der EU in Rüstungsfragen mit der NATO vor.  

Nur logisch ist, dass etwa die KP und die radikal-linke LCR "Non" zu dieser "neoliberalen und militaristischen Zwangsjacke" sagen. Dagegen will die eher tradionsmarxistisch-ökonomistische Partei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) sich bisher nicht an einer "Nein"-Front zur Abstimmung über den EU-Verfassungsentwurf beteiligen, sondern zu dem Thema eher passiv bleiben, um keinerlei Gefahr zu laufen, ihre Stimme mit jener bürgerlicher oder nationalistischer Kräfte zu vermischen.  

Bei den Gewerkschaften sind bisher vor allem die linken SUD-Basisgewerkschaften eindeutig gegen den Verfassungsentwurf, während die CGT bisher keine offizielle Position beziehen wollte (um nur ja unter Beweis zu stellen, dass sie "nicht mehr im Schlepptau der KP" befindlich ist). Hingegen ist sozialliberale CFDT, wie ihr zuzutrauen war, tatsächlich für den EU-Verfassungsentwurf, darin der Position des Brüsseler Lobbyverbands namens "Europäischer Gewerkschaftsbund" (EGB) folgend.  

Warum aber das Nein des Laurent Fabius?  

Dennoch hätte man nicht gerade von Laurent Fabius erwartet, dass er aus solchen guten Gründen Non zum Verfassungsentwurf sage. Bisher galt Fabius eher als wirtschaftsliberaler Technokrat, ja in wirtschaftspolitischer Hinsicht als "Blairist", was überzogen sein mag. Und im August 2003 hatte er noch vorgeschlagen, die Rüstungsausgaben der Mitgliedsländer aus der Berechnung der Staatsausgaben auszuklammern, um den EU-Stabilitätspakt zu retten und zugleich den "verteidigungspolitischen Erfordernissen" gerecht zu werden. Dass er nun überraschend Nein sagt, hat einerseits innenpolitische Gründe: Fabius steht bereits in den Startlöchern, um 2007 Präsidentschaftskandidat des PS zu werden. Die ehemalige Ministerriege der Partei und ihre "Staatsmänner und ­frauen" sagen fast geschlossen Ja zur EU-Verfassung, flankiert von den Grünen, die in eine geradezu naive EU-Begeisterung ausbrechen. Daher bietet sich für Fabius eine traumhafte Gelegenheit, sich zu profilieren und seinen Ruf als zynischer Elitenvertreter loszuwerden. Ähnlich, wie die Kritik an der Berliner Regierungspolitik Oskar Lafontaine einen ungerechtfertigten Ruf als "Rebellen" bescherte, nachdem er in den späten 80ern noch die Gewerkschaften als SPD-Neoliberaler verschreckte.  

Vorige Woche biederte Fabius sich denn auch bei der CGT an: Anlässlich der PS-Parlamentariertagung im bretonischen Lorient Mitte voriger Woche, bei welcher der parteiinterne Streit ausgetragen wurde, ging er bei den CGT-Sektionen zweier streikender Niederlassungen des telekomeigenen Internet-Anbieters Wanadoo (die Erpressungen mit der Drohung von Produktionsauslagerungen ausgesetzt sind) vorbei gucken. Das zwang den derzeitigen PS-Parteivorsitzenden François Hollande (alias Wandelnde Schlaftablette), der die "Ja"-Kampagne der Befürworter des Verfassungsentwurfs anführt, dann seinerseits dazu, den CGT-Streikenden in der Bretagne ebenfalls seine Unterstützung auszusprechen. Wozu so ein innerparteilicher Streit doch gut sein kann...  

Zusammen mit dem Non der Parteilinken könnte jenes von Laurent Fabius eventuell tatsächlich innerparteilich die Waage zugunsten der Ablehnung des Textes kippen lassen. Ferner dürfte aber die Bereitschaft eines Fabius, das Verfassungsprojekt scheitern zu lassen und damit eine Krise der EU in ihrer bisherigen Form heraufzubeschwören, auf die Haltung eines Teils der französischen Bourgeoisie schließen lassen. Aus deren Sicht ist eine "Vertiefung" der EU-Integration durch die Erweiterung auf 25 Mitglieder, mit recht unterschiedlichem Entwicklungsniveau, erst einmal als aussichtsreiche Option vom Tisch. Deswegen zeigen sie sich der Gesamt-EU gegenüber relativ indifferent und wollen sich eher auf den Ausbau eines "Kerneuropa" konzentrieren.  

Die Rechte, der türkische EU-Beitritt und dumpfe Ressentiments  

Auch die politische Rechte hat ihre Probleme. Die konservativ-liberale Rechte steht zwar nahezu geschlossen hinter dem Oui zum Verfassungsentwurf. Aber national-konservative EU-Skeptiker sowie die extreme Rechte scheuen sich bisher nicht, die Frage eines künftigen EU-Beitritts der Türkei zu nutzen, um Ressentiments zu schüren. Fast der gesamte rechte Wahlkampf zu den Europawahlen im Juni war, von der bürgerlichen Präsidentenpartei UMP bis zu Jean-Marie Le Pen, auf die Ablehnung des türkischen Beitritts konzentriert. Dagegen ist man links eher für die Annahme des türkischen Beitrittsgesuchs: Die Grünen fordern sie "so schnell wie möglich", der PS äußert sich zurückhaltend dafür, und auch die LCR befürwortet den türkischen EU-Beitritt unter der Bedingung einer Anerkennung des Armenier-Genozids durch Ankara.  

Die Regierungspartei UMP befand sich dabei in einer delikaten Gleichgewichtsübung, da der ihr angehörende Staatspräsident Jacques Chirac zugleich auf dem diplomatischen Parkett für die Aufnahme der Türkei eintrat. Jetzt aber scheint die Lösung des heiklen Problems gefunden: Man einigte sich rechts auf die Durchführung eines Volksentscheids, der nach dem definitiven Abschluss der Verhandlungen zwischen der EU und Ankara und vor einer Aufnahme der Türkei abgehalten werden soll. Das ist blanke Demagogie. Aber sie soll die ressentimentträchtige Türkeifrage aus dem Abstimmungskampf von 2005 heraushalten, und damit die Ressentimentträger für das rechte "Ja" zur EU-Verfassung mobilisieren.

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel schickte uns der Autor am 3.10. 2004  in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.