Bewegungen, Parlamente und Wahlalternativen

von Helge Meves
10/04

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Eingangsstatement beim Workshop "Movement and Parliament" mit Fabio Amato, Rifondazione, Italien, John Rees, Respect, England, Joao, P-Sol, Brasilien und Helge Meves, Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit, am 15.10.2004 beim Europäischen Sozialforum in London

Im März dieses Jahres traten in der Bundesrepublik neue Akteure auf die politische Bühne. In Berlin sammelte sich unter dem Namen "Wahlalternative" ein Kreis von Interessenten aus verschiedenen Gewerkschaften und sozialen sowie globalisierungskritischen Bewegungen sowie aktuelle und frühere Mitglieder aus den traditionell linken Bundestagsparteien, der PDS, der SPD, den Grünen. Sie hatten mit diesen etablierten Parteien gebrochen und eröffneten mit dem Treffen und einem ersten Vorschlag [1] die Diskussion über eine neue wahlpolitische Alternative für die Bundestagswahl.

Ein paar Tage später veröffentlichten im süddeutschen Städtchen Fürth sieben Mitglieder der IG Metall und der SPD einen Aufruf unter dem Titel "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" mit derselben Intention. Der SPD- Generalsekretär Olaf Scholz rief mit einem Schreiben [2] an die Parteifunktionäre zur Jagd auf diese Ketzer auf: "Den Medien sind Berichte über Parteibildungsaktivitäten zu entnehmen, die sich gegen die SPD richten. ... Solche Bestrebungen hat es schon viele gegeben, sie sind alle gescheitert. Trotzdem bitten wir euch, uns darüber zu informieren, falls sich in euren Unterbezirken und Kreisverbänden solche Initiativen bilden sollten. Klar ist: Wer sich an diesen Aktivitäten beteiligt, schließt sich selbst aus der SPD aus." Danach reagierte die SPD panisch mit Parteiausschlüssen gegen die Initiatoren aus der Metallarbeitergewerkschaft. Die Medien überschlugen sich in der Berichterstattung, kaum daß wir ein Grundsatzpapier veröffentlicht oder ein eigenes Büro oder Fax hatten.

In den folgenden Wochen gingen die Initiatoren beider Initiativen aufeinander zu. Im Juli gründeten sie gemeinsam den Verein Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit [3], der die beabsichtigte Parteigründung vorbereitet. Seitdem hat unser Verein über 5.000 Mitglieder gewonnen; bei einigen Wahlumfragen für den Bundestag wurden wir zwischenzeitlich auf bis zu 11 % der Wählerstimmen geschätzt. Bei unserer ersten Bundeskonferenz am 20./21. November in Nürnberg werden die Delegierten entscheiden, ob unsere Mitglieder durch eine Urabstimmung eine Partei gründen werden. Wir gehen davon aus, daß wir Anfang nächsten Jahres die neue Partei gründen werden und bei der nächsten Bundestagswahl in Deutschland 2006 gegen alle etablierten Parteien antreten.

Woher der Enthusiasmus der Menschen für diese neue Partei kommt und warum sie lieber viel Zeit und Kraft in eine neue Partei investieren anstatt die bestehenden Parteien zu verändern, kann mit einem Blick auf europäische Erfahrungen deutlicher werden.

Respect

Im letzten Jahr erschien ein Kommentar des Filmemachers Ken Loach, der mich aufmerken ließ: "Es gibt keine demokratische Vertretung für arbeitende Menschen mehr. Diese Labour-Regierung hat einen illegalen Krieg und Privatisierungen durchgeführt, die Rechte von Asylbewerbern mißachtet und sie ist zu einer Vertreterin der großen Konzerne geworden. Wir müssen eine lebensfähige Alternative zu New Labour aufbauen." Wenn in diesem Kommentar nicht explizit die Rede von New Labour gewesen wäre, hätte ich ihn als einen Kommentar zur deutschen Politik verstanden. Diese Nähe sollte nicht verwundern. Gerhard Schröder und Toni Blair legten vor fünf Jahren ihr Manifest vor, mit dem sie sich gemeinsam von der Idee einer solidarischen Gesellschaft verabschiedeten.

In Großbritanien war dann der Irak-Krieg der Anlaß dafür, daß neue politische Akteure auftraten und die politischen Verhältnisse neu gemischt werden. Mit der Antikriegsbewegung entstanden neue Koalitionen, die politisch über den Anlaß hinausgingen. Kritisiert wird von Respect [4] genauso die wachsende Ungleichheit, die Islamophobie der Außen- und Innenpolitik und die Privatisierungen öffentlicher Güter; wie etwa der mit dem Film "The Navigators" vom eingangs zitierten Ken Loach ein Denkmal gesetzten Privatisierung der britischen Eisenbahn.

Rifondazione

Wer diese neuen Akteure [5] sind, konnte man auch auf dem ersten europäischen Sozialforum in Florenz mit erleben. Das Sozialforum in Florenz vor zwei Jahren endete damals mit einem Aufruf für den europaweiten Aktionstag gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 und einer mich sehr beeindruckenden Demonstration von ungefähr einer Million Menschen. Die Vielfalt der teilnehmenden Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Parteien sowie ihr gemeinsames Agieren, die geradezu fröhliche Atmosphäre ließen wohl keinen kalt, der im November 2002 in Florenz mit dabei war. Die italienische Sozialbewegung ergab auf dieser Demonstration ein Bild, daß außer von den bekannten Parteien besonders von der globalisierungskritischen Bewegung, einer wiedererstarkten Gewerkschaftsbewegung und bürgerrechtlichen Netzwerken, der sogenannten Girotondi, geprägt war. Mittendrin und über ihre Netzwerke überall präsent war dabei die Rifondazione [6].

Mich überraschten besonders die etwa 20.000 Arbeiter, die mit der italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM aus den FIAT-Werken gekommen waren. Wie diese politisierten Gewerkschafter die Globalisierungskritik an der neoliberalen Standortideologie mit der Verteidigung ihrer Arbeitnehmerrechte verbanden, hatte ich vorher und zumal mit meiner attac-Brille, in Deutschland nicht gesehen. Es war so, als wenn man von einer Seite aus einen Berg angebohrt hätte und in der Mitte überrascht die von der anderen Seite bohrenden Gewerkschafter getroffen hätte. Diese Erfahrung kann man jetzt auch in Deutschland machen.

Wahlalternative

Im deutschen Bundestag gibt es keine wirkliche Opposition mehr. Rot-Grün hat zusammen mit der konservativen und wirtschaftliberalen Opposition die sogenannte Agenda 2010 beschlossen, mit der sich nicht nur vom Sozialstaat sondern auch von sozialstaatlichen Vorstellungen verabschiedet [7] wird. Die daraus folgende Umverteilung von unten nach oben führte zu breiten Debatten und Protesten, aus denen auch unsere Initiative entstanden ist.
Verstärkend wirkt bei unseren Anfängen die Krise aller deutschen Bundestagsparteien, die sowohl Mitglieder als auch Wähler verlieren. So richtig sollte das niemand überraschen: in einer regelmäßig erhobenen Jugendstudie etwa geben die Jugendlichen seit Jahren an, daß sie selbst der Bundeswehr, der Polizei oder Unternehmerverbänden mehr vertrauen als Parteien. Ein Sonderfall in jeder Hinsicht ist dabei die sozialdemokratische Partei, die mit ihrer neoliberalen Politik das Band zu den Gewerkschaften durchschnitten hat und in der Folge etwa 10 % ihrer Mitglieder durch Austritte verlor.

Statt in Parteien engagieren sich die Leute mehr in sozialen und globalisierungskritischen Bewegungen und Bürgerinitiativen. In den letzte Monaten äußerte sich die tiefe Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit in spontanen Montagsdemonstrationen, die wöchentlich über 100.000 Menschen zu Protesten auf die Straße brachten. All dieses politische Engagement findet aber keinen Anschluß an die Entscheidungen in den Parlamenten. Im Gegenteil: die Gewerkschaften, sozialen und globalisierungskritischen Bewegungen werden in der parlamentarischen Politik nicht mal mehr angehört. Jetzt haben die deutschen Gewerkschaften erstmals erklärt, daß sie bei den nächsten Bundestagswahlen nicht mehr zur Wahl der Sozialdemokratischen Partei aufrufen werden.

Unterwegs

Ob ich auf Italien schaue, auf Großbritanien oder Deutschland. Die neuen Gegenbewegungen politisieren die gesellschaftliche Debatte und holen neue oder verdrängte Themen [8] und Gruppen von Menschen in die Politik hinein. Diese sammeln sich um die neue gesellschaftliche Konfliktlinie Neoliberalismus oder kein Neoliberalismus. Wie die globalisierungskritischen Bewegungen sind auch die Parteien, um es im Diskurs der Globalisierungskritik mit Wallerstein, Hardt/Negri oder Callinicos zu formulieren, antisystemisch und darum in einer neoliberalen Welt per se antikapitalistisch, ohne dazu eine volle Klarheit über ihre letzten politischen Ziele haben zu müssen oder zu können.

Entstanden aus den sozialen und globalisierungskritischen Protesten verstehen sich diese neuen politischen Akteure im Spannungsfeld von Partei und Bewegung. Darum wollen wir nicht nur andere Ergebnisse der Politik, sondern wir wollen Politik auch anders machen, den Menschen die Möglichkeit geben, Politik selbst zu machen und ihr Leben zu gestalten. Und wir wollen neue Bündnisse und Koalitionen schaffen, um dann als ein Teil dieser nicht-parlamentarischen Bewegungen im Bundestag neue gesellschaftliche Mehrheiten für eine solidarische und emanzipatorische Gesellschaft zu schaffen.


Links:

[1] Für eine wahlpolitische Alternative 2006 15.03.2004 URL: http://www.wahlalternative.de/downloads/Wahlalternative.pdf  
[2] Neue Linkspartei. Scholz droht Abweichlern mit Rausschmiss SpiegelOnline vom 13.03.2004 URL: http://spiegel.de/politik//deutschland/0,1518,290457,00.html  
[3] Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit URL: http://www.wahlalternative-asg.de/
[4] Respect URL: http://www.respectcoalition.org/
[5] Mimmo Porcaro Experiences of the European Left. A contribution to the workshop ‚Novos desfios da esquerda na América do sul' S. Paulo 24-26 nov. 2003 Rosa Luxemburg Foundation URL: http://left-parties.liquidbytes.net
[6] Rifondazione URL: http://www.rifondazione.it/  
[7] Helge Meves Die politische Anti-Politik des Neoliberalismus Telepolis. Magazin für Netzkultur vom 01.05.2003 URL: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/14697/1.html
[8] Rainer Rilling Die Welt, die wir verändern wollen - über starke Ökonomie und starke Politik. Zentrale gesellschaftliche Konfliktfelder der Gegenwart Rio de Janeiro Juni/Juli 2004 URL: http://www.rainer-rilling.de/texte/brazil.pdf  
 

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 5.10.2004 zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Er ist am 4.10.04 bei Telepolis erschienen.