Israel/Palästina
Das große Schauspiel: Israels „unilateraler Rückzug“ aus dem Gaza-Streifen

von Toufiq Haddad
10/05

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Mitte August hat die israelische Armee 22 [1] Siedlungen im Gaza-Streifen und vier weitere Siedlungen im nördlichen Westjordanland geräumt.

Die Räumungsoperation, die vom israelischen Premierminister Ariel Sharon ausgeheckt worden war, ist unter der Bezeichnung „unilateraler Rückzugsplan“ bekannt geworden und hat Sharon beträchtliches Lob aus den USA – sowohl von republikanischer als auch von demokratischer Seite – eingebracht. Es wurde ihm zu seinen „mutigen Taten von historischer Bedeutung“ (Präsident Bush) und zu seinem „Wagemut“ (DNC-Vorsitzender Howard Dean) gratuliert. Der Plan wurde bereits Ende 2003 bekannt gegeben. Bei dieser Gelegenheit versprach Sharon, „zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung … die wirkungsvollste Sicherheitslinie, die möglich ist zu ziehen“. Seit damals hat die Regierung Sharon selbst unermüdlich die Details des Plans ausgearbeitet, einschließlich der Frage, was mit den 5000 [2] Personen aus den [aufzuhebenden] Siedlungen geschehen solle. Gearbeitet wurde auch daran, innerhalb des israelischen politischen Establishments einen Konsens zu erzielen und breite Zustimmung zum Plan zu erhalten, sowie sich die 2,2 Mrd. Dollar amerikanischer Steuergelder zu sichern, die für die Umsetzung des Plans notwendig waren.

Obschon noch einige wichtige Fragen bezüglich des eigentlichen Rückzugsvorgangs ungeklärt bleiben – sowohl, was die israelischen Siedler als auch was die in Gaza lebenden Palästinenser angeht –, sind diese tatsächlich nur zweitrangig gegenüber den Fragen, die der Rückzugsplan eindeutig schon „beantwortet“ hat. Um die Problematik zu verstehen, ist es unabdingbar, sich die Tatsache bewusst zu machen, dass es beim Rückzugsplan nicht bloß um eine Verlegung von Truppen oder festgelegte Verpflanzung von Siedlungen geht. Der Plan ist vielmehr ein weitaus breiter geschnürtes Maßnahmenpaket, das formal die Periode der Osloer Abkommen ablösen und einseitig und auf Jahre hinaus den Charakter der palästinensisch-israelischen Beziehungen bestimmen wird.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, rasch einige Mythen zu zerstören, die unglücklicherweise in den Diskussionen rund um den genannten Plan herumgeistern.

Nein, die Besetzung des Gaza-Streifens geht nicht zu Ende und sie wird auch nicht weniger streng. Im Gegenteil, weder übergibt Israel die Kontrolle über den Streifen einer souveränen Macht, noch verspricht es, sich in Zukunft davon fernzuhalten. Der Wortlaut des Plans, so wie er in der Knesset verabschiedet wurde, ermächtigt Israel sogar ausdrücklich, die Kontrolle über den Gaza-Streifen „zu Lande, in der Luft und zur See“ zu behalten und „vorbeugende und entgegenwirkende Schritte zu unternehmen, um Gefahren, die aus dem Gaza-Streifen drohen, mit Waffengewalt zu begegnen“. Das kommt im Wesentlichen der Erlaubnis gleich, die Politik der verbrannten Erde und der „gezielten Tötungen“ unbegrenzt fortzusetzen. Israel wandelt damit bloß seine Besetzung des Gaza-Streifens so um, dass die militärische Kontrolle leichter ausgeübt werden kann als bislang, angesichts der Tatsache, dass die alte Methode mit dem Ausbruch der Al Aqsa-Intifada und dem Entstehen eines gut organisierten täglichen Guerilla-Kampfes gegen jüdische Siedler und die israelischen Truppen in Gaza unwirksam wurde.

Weiter zielt die Hauptstoßrichtung des Abzugplans, obwohl er die Blicke so stark nach Gaza lenkte, in Tat und Wahrheit auf die West Bank, insbesondere auf die Konsolidierung der wichtigsten dortigen jüdischen Siedlungseinheiten. Diese zusammenhängenden Territorien, in denen die meisten Israeli leben, liegen beide bei den größten Wasserreserven der ganzen Gegend und zersplittern außerdem das Westjordanland dauerhaft in eine Reihe von Kantonen. Dadurch machen sie die Schaffung eines unabhängigen, territorial zusammenhängenden palästinensischen Staates in dieser Region – die Voraussetzung für die Fortführung des Osloer Friedensprozesses – zu einem bloßen Tagtraum. Auch diese Situation ist im Text des Abzugsplans ausdrücklich vorgesehen, indem festgehalten wird, dass „Israel die zentralen jüdischen Siedlungseinheiten, Städte, Sicherheitszonen und anderen Gebiete, an denen es ein vitales Interesse hat, annektieren werde“. Zum ersten Mal seit der Annexion von Ost-Jerusalem kurz nach [dem Krieg von] 1967, wird die Knesset einem Gesetz zur Annexion von Teilen der besetzten palästinensischen Gebiete durch Israel zustimmen. Auch deswegen kommt die Tatsache, dass sich die Aufmerksamkeit auf Gaza konzentriert, gelegen, um von den massiven Gettos abzulenken, die im Westjordanland in Form von Wällen, Militärbasen und riesigen Kontrollpunkten entstehen, die die Übergänge von diesen Gettos zur Außenwelt bilden.

Nicht weniger bedeutsam – wenn auch allzu oft übersehen – ist die Wirkung, die der Plan auf die palästinensischen Israeli haben wird. Große Anteile der amerikanischen „Hilfsgelder“ zur Umsetzung des Abzugs [aus dem Gaza-Streifen] werden der Ansiedlung von jüdischen Israeli im Negev und in Galiläa zugute kommen, den Hauptsiedlungsgebieten der palästinensischen Israeli. Israel hat diese Bevölkerungsgruppe stets diskriminiert und unterdrückt, seitdem sie sich 1948 nach der Enteignung eines Großteils der palästinensischen Gebiete plötzlich als Nicht-Juden im jüdischen Staat wiederfanden. Doch nach dem Einsetzen der Al Aqsa-Intifada ist diese Unterdrückung drastisch eskaliert, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass Israel jetzt sogar Schritte unternimmt, die politische Vertretung der palästinensischen Israeli im Parlament zu verbieten, große Häuserzerstörungskampagnen durchzuführen und die exklusiv jüdischen Siedlungen in und um ihre Dörfer zu verdichten. Damit werden genau die gleichen Methoden angewandt, wie sie die staatlichen israelischen Planungsagenturen und die Armee in den 1967 besetzten Gebieten anwenden.

Letztlich geht es beim erwähnten Plan darum, sich der Logik und den Erwartungen hinsichtlich des Osloer „Friedensprozesses“ zu entledigen, der aus zionistischer Perspektive gründlich gescheitert ist. Das heißt, dass die Annahme, dass es möglich sei, mit Hilfe von palästinensischen Partnern von palästinensischer Seite die Zustimmung zu den kolonialen Ambitionen Israels zu erreichen (was natürlich nichts mit dem Anstreben eines dauerhaften und gerechten Friedens zu tun hat), nun definitiv verworfen wurde. Um es in den Worten von Sharons persönlichem Berater zu sagen: „Der Rückzug [aus dem Gaza-Streifen] ist eigentlich nichts als Formaldehyd (Konservierungsmittel für Leichen). Er liefert die Menge an Formaldehyd, die notwendig ist, um einem politischen Verhandlungsweg mit den Palästinensern auszuweichen“, und er ermöglicht es Israel „in einer Interims-Situation zu verbleiben, die uns so weit weg wie möglich von politischem Druck hält“.

Nach Abschluss des Rückzugs – der innerhalb Israels mit voller Absicht so inszeniert wird, als wäre er eine traumatische Erfahrung, deren Wiederholung in der Zukunft niemand „mit gesundem Menschenverstand“ von Israel verlangen könnte – wird eine neue Ära anbrechen. Sie wird geprägt sein von einer gefestigten geopolitischen Situation mit palästinensischen Gettos, die von stetig anwachsenden jüdischen Siedlungen auf beiden Seiten der Grünen Linie umgeben sind, und von starker Repression durch Israel, die jedes Mal einsetzen wird, wenn sich auf palästinensischer Seite Widerstand regt. An diesem Punkt wird auch die „Road Map“ ins Spiel gebracht werden. Sie wird den Rechtfertigungsgrund für alle israelischen Maßnahmen liefern, indem sie eine praktisch endlose Reihe von „politischen, sozialen und Antiterror-Reformen“ fordert. Die Einleitung dieser neuen Phase wird eine weitaus größere Tragweite haben als der Gaza-Plan selbst. Diese beinhaltet nämlich ein Langzeit-Szenario von permanentem Krieg, dessen Ziel nichts weniger als das Unterdrücken der palästinensischen Nationalbewegung und des palästinensischen Volkes ist, und der mit der Zeit sogar in dessen vollständige Vertreibung münden könnte.

Die amerikanische Anti-Kriegs- und Solidaritätsbewegung hat eine außerordentlich große Rolle dabei zu übernehmen, dass die Wahrheit über den Rückzugsplan und die „Formaldehyd-Epoche“ ans Licht kommt, von denen Israel verspricht, dass es sie gemäß der „Road Map“ durchführen werde. Der beste Weg, die Zukunft abzuwenden, die uns diese Politik zu bringen droht, ist der Aufbau einer breit abgestützten Bewegung, die den Kampf um einen palästinensischen Staat mit der Anti-Irak-Kriegsbewegung und dem inneramerikanischen Widerstand gegen die Verwendung von Steuergeldern für diese kolonialistischen Abenteuer verbindet.

Übersetzung: Hans Peter Frey

Anmerkungen

[1] Die Tageszeitungen reden von 21 Siedlungen. [Anm. d. Übers.]
[2] Andere Quellen sprechen von 8000. [Anm. d. Übers.]

Editorische Anmerkungen

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 406/407 (September/Oktober 2005).