»...eine große Erleichterung«
Ulrike Heider über die ersten Hausbesetzungen im Frankfurt (Main) der 70er Jahre, über Utopie und Wirklichkeit 
10/05

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Ulrike Heider wohnte in den 70er Jahren in den ersten besetzten Häusern Frankfurts. Sie lebt als Schriftstellerin in New York City und Berlin und veröffentlichte mehrere Bücher. Zuletzt erschien der autobiografische Roman über Studentenbewegung und Spontiszene: »Keine Ruhe nach dem Sturm«, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 228 Seiten, 16,85 Euro.
Über ihre Zeit als Hausbesetzerin sprach Gerhard Hanloser mit ihr.

ND: Im September 1970 wurde in Frankfurt am Main das erste Haus besetzt. Einige Gruppen und Einzelpersonen aus dem zerfallenen Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS wurden von diesen besetzten Häusern angezogen und mischten in der Bewegung mit. Können Sie die Situation in Frankfurt schildern, in der es zu den Hausbesetzungen kam?

Heider: In Frankfurt herrschte chronische Wohnungsnot. Am schlimmsten betroffen waren gleich nach den ausländischen Arbeitern die Studenten. Seit der politischen Revolte von 1968 und der moralerschütternden Kunde von den Berliner Sexkommunen hatten sie einen extrem schlechten Ruf. Langhaarige oder bärtige Studenten und Studentinnen in Jeans mit T-Shirt ohne Büstenhalter galten als ungewaschene Barbaren, die in ihren Kommunen wie im Heerlager hausen und jede Nacht Orgien im großen Gemeinschaftsbett feiern. Auch war das Zusammenleben nicht verheirateter Menschen – anders als in Ländern wie England und Amerika – in der BRD noch unbekannt. Nur Wenigen gelang es unter diesen Umständen, Wohngemeinschaften zu gründen. Man könnte also meinen, Studenten hätten aus purer Not angefangen, Häuser zu besetzten. Das war aber nicht der Fall. Der Frankfurter »Häuserkampf« begann viel mehr mit der Kritik gegen Wohnraumzerstörung durch eine liberale und keineswegs jugendliche Bürgerinitiative, deren Protest von links aufgegriffen und radikalisiert wurde.

Und wann wurde dann das erste Haus besetzt?

Die erste Hausbesetzung fand meines Wissens ohne größere Strategiediskussion am 19. September 1970 statt. Eine Gruppe von Studenten, Arbeitsimmigranten, Sozialarbeitern und ehemaligen Heimzöglingen besetzten ein zum Abriss bestimmtes Haus, verbarrikadierten Türen und Fenster und schmückten die Fassade mit Parolen in verschiedenen Sprachen. Erst danach machte der »Revolutionäre Kampf«, jene »Betriebsgruppe«, der auch Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit angehörten, die Idee zu der ihren. Bei den folgenden Besetzungen waren RK-Mitglieder beteiligt, die mit italienischen Arbeitsimmigranten und der von diesen gegründeten Mieterorganisation »Unione Inquilini« zusammenarbeiteten. Die Hausbesetzungen waren als politische Projekte gedacht. Man wollte nicht nur der kapitalistischen Städteplanung entgegenarbeiten, sondern hoffte auch, ausländische und junge Arbeiter sozialrevolutionär zu beeinflussen. Ein RK-Papier von 1972 bezieht sich darüber hinaus auf die »weltweite Jugendrevolte« und das Bedürfnis der Jugendlichen, in Kommunen zu leben. Das entsprach dem kulturrevolutionären Erbe aus der Studentenrevolte, der ursprünglich frühsozialistisch-anarchistischen Vorstellung von der Antizipation einer besseren Gesellschaft in der eigenen Organisation.

»Eine Genossin sagte: ›Ich  will in dem Haus leben, nur leben so wie es mir  gefällt, sonst gar nichts.‹«

Etwas später kam dann im RK die Rede vom »Subjektivismus als Methode« und vom »eigenen Lebenszusammenhang« auf. Ich erinnere mich an das Statement einer Genossin, die immer am Trend vorne dran war. »Ich will in dem Haus leben, nur leben so wie es mir gefällt, sonst gar nichts.« Im Umfeld des RK jedenfalls entstand dieses »Spontimilieu«, der lose Zusammenhang linksradikal oder auch anarchistisch identifizierter junger Leute, deren Identität sich mehr und mehr aus ihrem antibürgerlichen Lebensstil als aus politischer Arbeit ableitete. Damit war der Weg zu jener späteren Sponti-Existenzialphilosophie geebnet, in der das Selbst an Stelle der Gesellschaft trat.

Warum fanden die Auseinandersetzungen ausgerechnet im Frankfurter Westend statt, was machte dieses Viertel aus?

Das Frankfurter Westend ist das einstige Bürgerviertel der Stadt. Mit ruhiger Lage, Grünanlagen und Parks hatte es schon in den 50er Jahren Werbeagenturen und andere Bürobetriebe angezogen. Nach 1960, als die Stadt das Westend zum »City-Erweiterungsgebiet« erklärt hatte, wandelte sich der Stadtteil mehr und mehr vom Wohn- zum Büroviertel. Versicherungsgesellschaften, Großbanken und ein paar mit großzügigen Bankkrediten geförderte Privatleute, die sog. Spekulanten, kauften ganze Straßenzüge mit alten Villen und Mietshäusern auf, um dort rentable Bürohochhäuser zu bauen. Da die Abrissgenehmigungen begründet werden mussten, ließen die neuen Besitzer ihre Häuser leer stehen oder vermieteten sie unrenoviert an ausländische Arbeiterfamilien, bis sie so heruntergewohnt waren, dass eine Sanierung unvernünftig schien. Manchmal heuerten die Besitzer sogar Leute an, die in Nacht- und Nebelaktionen Scheiben zerschlugen, Stromleitungen herausrissen und Heizungen demolierten.
Unmut gegen die Frankfurter Wohnungspolitik erhob sich zunächst unter den Privilegierten der von Vertreibung bedrohten Bewohner. 1970, ein paar Wochen vor der ersten Hausbesetzung, erlebte Frankfurt seine erste Mieterdemonstration, organisiert von der Bürgerinitiative »Aktionsgemeinschaft Westend«. Angeführt von ihrem Sprecher, dem angesehenen Architekten Otto Fresenius, zogen wohl situierte Bürger mit Plakaten und Trauerfahnen durchs Westend. Vor einem vom Abriss bedrohten Haus hielt ein liberaler Pfarrer eine Rede gegen die Zerstörung des Stadtteils.

Frankfurt war in dieser Zeit SPD-regiert. Wie sah die Reaktion der Stadt, aber auch der Medien aus?

Die damals regierende SPD bescheinigte der ersten Hausbesetzung ganz offiziell »eine gewisse Legitimität«. Die Polizei schritt nicht ein. Einige linke SPD-Mitglieder waren für Hausbesetzungen, um der Wohnraumzerstörung entgegenzuwirken. Erst nach zwei weiteren Besetzungen änderte die SPD ihre Einstellung und erließ eine Verfügung zur automatischen Räumung besetzter Häuser. Im Herbst 1971 kam es zur ersten Räumung. Die Polizisten prügelten hemmungslos auf Demonstranten ein, sprühten Tränengas und zückten in einigen Fällen sogar die Dienstwaffe. Oberbürgermeister Möller war darüber so entsetzt, dass er seine Räumungsverfügung zurücknahm. Drei Tage später wurde die Bockenheimer Landstraße 111 besetzt, das erste jener vier schönen Häuser im Stil der Neorenaissance, die später den »Block«, das Zentrum der Hausbesetzer, bildeten.
Die Medien waren uns zunächst wohlgesonnen, und in der Bevölkerung gab es mehr Sympathie denn je. Noch 1973 bei der ziemlich militanten Demonstration für das Haus im Kettenhofweg 51, die seine Räumung zunächst verhinderte, kam Beifall von Balkonen und Fenstern. Aus der Kantine des Landesarbeitsamtes wurde Essen, Kaffee und Tee gebracht. Die SPD lavierte eine Zeit lang zwischen Duldung der Besetzungen und harter Linie, bis sie schließlich bei der Räumung des »Blocks« einen paramilitärischen Polizeieinsatz zuließ.

In Ihrem Buch »Keine Ruhe nach dem Sturm« beschreiben Sie auch das Innenleben in den besetzen Häusern. Es ist schwer, die Stimmung der damaligen Zeit nachzuempfinden. Wenn Sie das herausragend Neue der Bewegung angeben sollten, was würde Ihnen da zu allererst einfallen?

Neu war an der Hausbesetzerbewegung nichts. Schon die russischen Nihilisten haben in den 80er Jahren des 19. Jahrhundert versucht, in Wohngemeinschaften und Gemeinschaftshäusern radikal anders zusammenzuleben, als sie es in ihren Oberschichtenfamilien gelernt hatten. Lange das Refugium der Anarchisten und einiger Spinner, wurde die kulturrevolutionäre Tradition der Linken von der 68er Studentenbewegung aufgegriffen. Freie Liebe im Sinne unverheirateten Zusammenlebens und auch des Experimentierens mit sexueller Promiskuität feierten in diesem Zusammenhang ein Comeback. In Berlin provozierten »Kommune I« und »Kommune II« den Spießer. Obwohl die »KI« wegen Unernsthaftigkeit aus dem SDS ausgeschlossen wurde, bewahrte sich die antiautoritäre Linke den Anspruch utopischer Antizipation bis hin zu den Spontis.

Was bedeutete das für Sie persönlich?

Positiv habe ich das vor allem in dem Studentenheim erfahren, das wir 1971 nach einem Mietstreik für besetzt erklärten. Das legendäre »Kolbheim am Beethovenplatz« war seit Mitte der 60er Jahre eine Hochburg der Neuen Linken. Ich empfand den dort üblichen radikalen Verzicht auf bürgerliche Konventionen und Höflichkeitsrituale, mit denen ich in der Adenauer-Ära aufgewachsen war, als große Erleichterung. Begrüßungs- und Abschiedsrituale, in meiner Kindheit noch mit Knicks und Diener verbunden, reduzierten sich auf Andeutungen. Dank sprach man nur aus, wenn man ihn unmittelbar empfand. Gute Wünsche für den Abend, das Wochenende oder die Reise überließ man den »Spießern«. Geburts- und Festtage wurden übergangen, Weihnachten zum heuchlerischen Fest der Familie und des »Konsumzwanges« erklärt.

»Es herrschte eine Hilfsbereitschaft, wie ich sie noch nie erfahren hatte.«

Stattdessen herrschte eine Hilfsbereitschaft, wie ich sie noch nie erfahren hatte. Statt nur dem beim Umzug zu helfen, dem man sich »verpflichtet« fühlte, half man jedem Gleichgesinnten und konnte beim eigenen Umzug mit der Hilfe wieder anderer Gleichgesinnter rechnen. Auch mit der bürgerlichen Verschwiegenheit, die ja auch zum Verschweigen der Nazivergangenheit der Elterngeneration beigetragen hatte, war es vorbei. Wer ein intimes Problem hatte, konnte darüber mit jedem reden, der zufällig in der Küche saß, und mit Verständnis rechnen.
Eine wichtige Erfahrung war für mich auch der Kontakt mit Angehörigen anderer sozialer Schichten. In Wohngemeinschaften, dem erwähnten Studentenheim und in besetzten Häusern lebten auch ein paar junge Arbeiter und ein Teil jener ehemaligen Heimzöglinge, die in einer SDS-Aktion von 1969 aus ihren gefängnisartigen Erziehungsheimen »befreit« worden waren. Obwohl die meisten von ihnen in Kleinkriminalität und Asozialität absackten, hatten Studenten und junge Unterschichtenangehörige doch zeitweilig eine Chance, von einander zu lernen.

Sie beschreiben auch sehr eindrücklich die in den Häusern um sich greifende Verwahrlosung und Verantwortungslosigkeit – ist das eher den politischen oder den persönlichen Unzulänglichkeiten geschuldet?

Das besetze Haus, in dem ich gelebt habe, war eines, in dem fast alles schief ging oder ins Gegenteil dessen umschlug, was man anfänglich wollte. Die Zerfallserscheinungen der Bewegung waren hier deutlicher sichtbar als anderswo. Die äußere Verwahrlosung dieses Hauses entsprach der ideologischen und emotionalen Verwahrlosung seiner Bewohner. Ich glaube, dass sowohl die Isolierung und Kriminalisierung der radikalen Linken seit Mitte der 70er Jahre als auch die Entpolitisierung der Bewegung selbst dazu geführt haben. Ähnlich wie bei den K-Gruppen der »Primat der Politik« führte die verselbstständigte Kulturrevolution der Spontis zu einer ideologischen Rigidität, die Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit mit sich brachte. So entstanden oft neue Normen im Umgang mit einander, die nicht besser waren, als das, was man hinter sich lassen wollte. Nicht nur die neostalinistische Minipartei, sondern auch das besetze Haus waren geeignet, die repressiven Familien der Adenauer-Ära zu reproduzieren. In unserem Haus zum Beispiel entwickelte sich als Alternative zur bürgerlichen Privatheit ein rigoroser Kollektivismus, der jegliche Privatsphäre überhaupt abzuschaffen tendierte. Die Rehabilitierung der Spontanität, um ein anderes Beispiel zu nennen, endete in der egoistischen Feier des eigenen Bedürfnisses ohne Rücksicht auf andere. Praktisch konnte das wie bei Max Stirner im Faustrecht gipfeln.

Es wurde in der Vergangenheit öfter geäußert, dass dem Häuserkampf auch antisemitische Ausfälle beigemischt waren. Die attackierte Figur des »Spekulanten« hätte oft Ähnlichkeiten mit dem antisemitischen Stereotyp des geldgierigen und spekulierenden Juden aufgewiesen. Bestätigen Ihre Erfahrung diesen Vorwurf ?

Die Diffamierung der Studentenbewegung als potenziell faschistische Bewegung kam ursprünglich von rechts. Jürgen Habermas mit seinem »Linksfaschismus«-Vorwurf von 1968, den er später zurücknahm, hatte keineswegs den ersten Stein geworfen. Als Hausbesetzern wurde uns von CDU-Seite, von einigen Besitzern der Häuser und vom damaligen Oberbürgermeister Rudi Arndt der Nazivorwurf gemacht. Letzterer verglich Hausbesetzer mit SA-Männern. Wir fühlten uns über solche Vorwürfe erhaben, zumal eine ganze Reihe von Juden, begonnen mit Daniel Cohn Bendit, zu uns gehörten. Erst gegen Ende der 70er Jahre erhoben sich aus den Reihen der einstigen Neuen Linken selbst Stimmen, die den Häuserkampf als antisemitisch motiviert, als »Strasser-Sozialismus« interpretierten.

»Im Zuge des Populismus der Bewegung haben sich antisemitische Vokabeln eingeschlichen.«

Ich selber habe in meinem Buch bestimmte Vorfälle im besetzten Haus, das ich bewohnte, als Folge eines spontan erwachenden, unbewussten Antisemitismus beschrieben. Trotzdem denke ich noch immer, dass die Besetzung leer stehender Häuser nichts mit Antisemitismus zu tun hatte. Unser Hauptfeind war die Frankfurter SPD, nicht etwa die – zum Teil jüdischen – Besitzer der Häuser. Gleichzeitig sehe ich heute, dass sich im Zuge des Populismus der Bewegung gegen Zerstörung von Wohnraum antisemitische Vokabeln und Bilder der Agitation eingeschlichen haben: Wörter wie »Spekulant« oder Schimpfwörter wie »Spekulantenpack«. Oder das Zerrbild vom fetten Kapitalisten, dem wandelnden Geldsack, das seit den 80er Jahren des 19. Jahrhundert von Antisemiten und Sozialisten benutzt wurde. Für das Fingerzeigen auf eine Hand voll Hauseigentümer mit jüdischen Namen schließlich schäme ich mich heute, obwohl ich die entsprechenden Flugblätter und Plakate nicht persönlich entworfen habe.

In New York lernten Sie auch die Hausbesetzerbewegung kennen. Sind Ihnen spezielle »nationale« Eigenschaften der radikalen Linken bzw. der Hausbesetzerszene aufgefallen?

Die besetzten Häuser des New Yorker East Village aus den 90er Jahren waren sehr unterschiedlich bevölkert und geführt. Es gab »ordentliche« Häuser mit der Perspektive künftiger Eignerschaft der Besetzer. Es gab aber auch heruntergekommene, in denen vor allem fixende Punker und Alkoholiker lebten. In vielen Fällen wurden Obdachlose aufgenommen. Generell empfand ich die Philosophie der East Village-»Squatters« als ähnlich dogmatisch wie die der Berliner Autonomen mit ihrer Parole »Der Kiez gehört uns«, die sich gegen jede Veränderung im eigenen Stadtteil richtet.

Es sieht so aus, als sei die Zeit des Häuserkampf hier zu Lande vorbei – die letzte spektakuläre Häuserbewegung hat sich in Berlin rund um die Mainzerstraße nach der Wiedervereinigung ereignet...

Heute Morgen im Gespräch über den möglichen Niedergang des boomenden Immobilienmarktes von New York sagte eine amerikanische Freundin: »Dann werden die Squatters zurückkommen.« Ich kann mir vorstellen, dass unter verschärften ökonomischen Bedingungen auch in Deutschland wieder Häuser besetzt werden.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel ist einen Spiegelung von
http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=79145&IDC=29&DB=O2P

Gerhard Hanloser empfahl uns, den Artikel zu spiegeln.