Proletarität aufheben.
Zum negatorischen Cosmopolitismus der situationistischen Klassentheorie.

von Biene Baumeister & Zwi Negator
10/05

trend
onlinezeitung


”Wir erleben in unserer Epoche mit, wie die Karten im Klassenkampf neu ausgegeben
werden – was sicherlich weder dessen Abschaffung noch dessen genaue Fortsetzung nachdem alten Schema bedeutet. Gleichfalls erleben wir statt der Abschaffung der Nationen einen ‚new deal’ des Nationalismus im Rahmen einer über die Nationen hinausgreifenden Gliederung”. (SI, 1963)

Der Klassifizierung entlang den gesellschaftlichen Teilungen der Arbeit scheinen sich die Situationistinnen durch ihre Lebensweise selbst wie keine andere historische Gruppierung des Westlichen Communismus entzogen zu haben, steht ihr Bild doch für extremen Individualismus à la "Künstler-Bohème" und "lumpenproletarischen" Lebensstil unter der Devise "NE TRAVAILLEZ JAMAIS". So hiess es in ihren "Basisbanalitäten" (The Totality for Kids. 1963), "dass das neue Proletariat dahin tendiert, sich negativ als eine
'Front gegen die Zwangsarbeit' zu definieren, in der alle zusammenkommen, die gegen die Rekuperation durchdie Macht Widerstand leisten. Dadurch wird unser Wirkungskreis bestimmt (...), indem wir auf den Arbeiter (den Metallarbeiter oder den Künstler) setzen, der – bewusst oder unbewusst – die organisierte Arbeit und das organisierte Leben ablehnt", wobei sich ihre kritische Theoriebildung keineswegs gegen Organisation
schlechthin sondern gezielt gegen die kapitalistische, fremdbestimmte Produktionsgesellschaftlichkeit richtete.

Sie warfen vielmehr mit neuartiger Kompromisslosigkeit die Frage des individuellen Lebens innerhalb einer  Zwangsgesellschaftlichkeit auf, die es durch neue Formen der Assoziation zur Klasse der Lohnabhängigen gegen  die Lohnarbeit, die Staatlichkeit und ihre alles präformierenden Normen selbst zu sprengen gelte. Während  kritische Theoretiker_innen wie Adorno je länger je mehr den unverdinglichten Rest von Individualität, vor allem im Gehäuse der Kunst, akzentuierten, setzten die Situationist_innen auf Konstitution von  Klassenbewusstsein durch Entfaltung moderner Individualität im alltäglichen Klassenkonflikt – durch  Aufhebung der Kunst, wenngleich mit allem aufzubietenden Potenzial der sinnlichen Erkenntnis (aisthesis).

"Situationen konstruieren" als communistische "Theoretiker- und Experimentatorengruppe" sollte zwischen individueller "Lebenssituation" der einzelnen Lohnabhängigen und anzustrebender revolutionärer Situation in  der aufbrechenden Klassenkonfrontation für alle "Zivilisierten" aus dem Hier und Jetzt "die Nordwestpassage der Revolution" (SI) erschliessen. In dieser immer wieder neu historisch konfigurierten Spannung werden die Situationistinnen als "sicherlich die extremistischste und am besten informierte politische Gruppe, die es  damals auf der Welt gab" (Debord 1972), üblicherweise nur noch in der Rolle einer bloßen Künstlerinnen-Avantgarde der Sixties dargestellt, die vor allem ihren emphatischen Bezug auf das moderne Proletariat vergessen lässt. Doch die zunehmend über Frankreich, Italien, GB und die USA hinaus rezipierte situationistische Theorie der "Gesellschaft des Spektakels" ist ohne die Klassentheorie, auf der sie beruht, partout nicht zu haben. Und genau die Kategorie "Proletariat" blieb für diese angeblichen Prä-Post-Modernistinnen communistischer Art als der eine "Zentralpunkt übrig, bei dem wir uns schmeicheln, verbissen eine 'Gesinnung des 19. Jahrhunderts' zu behalten. Die Geschichte ist noch jung, und das proletarische Projekt einer klassenlosen  Gesellschaft, obwohl es einen schlechten Anfang hatte, ist immer noch eine radikal neuere Fremdheit als alle  Erfindungen (...), als die Milliarden Ereignisse, die am laufenden Band vom Spektakel fabriziert werden. Trotz  unseres ganzen 'Avantgardismus' und ihm zum Dank ist das die einzige Bewegung, deren Rückkehr wir wünschen." (1967)

Dieses "Verdrängte der modernen Geschichte (- das Proletariat) und die Rückkehr des Verdrängten" (SI) kam in Gestalt der "Bewegung der Besetzungen" im Mai 1968 in Frankreich als historische Bestätigung, dass der  flächendeckende direkte Zugriff des Proletariats auf die Schlüsselzonen der Wirtschaft einer hochentwickelten
westlich-kapitalistischen Gesellschaft, gleichsam aus dem "Nichts" heraus, mit dem bekannteren SI-Appell zusammenging: "das 20.Jahrhundert zu verlassen" anstatt zu regredieren. Damit bewies ein bedeutender Teil des  Weltproletariats, dass "die Klasse" keineswegs per se als "nationaler" Mob agieren muss sondern erneut für den
Communismus einen cosmopolitischen Anlauf nehmen kann. Der Klassencharakter dieses Aufbruchs wurde nach dem staatlich-gewerkschaftlichen Rollback bagatellisiert, verkitscht ("Studentenrevolte", "Die Phantasie an  die Macht" etc.) und dadurch wiederum verdrängt. Mit ihm die Klassentheorie der SI.

Wenn wir uns hier aus Raumgründen auf ihren so wenig bekannten "Zentralpunkt", den Proletariatsbegriff,  beschränken wollen, greifen wir aus seiner Komplexität folgende Fragestellungen heraus:  Allererst: Warum bezog die SI keinerlei "Klassenstandpunkt" sondern setzte auf den Proletariatsprozess als  doppelter Negation? Schließlich: Wie verhielt sich die SI zur Ambivalenz des modernen Proletariats, die im  Zivilisationsbruch und "Revolutionsbruch" bis Mitte des 20.Jahrhunderts resultiert hat, und mit welcher  Konzeption behandelte sie diese Ambivalenz als auflösbar?  Zuvor jedoch wird kurz auf die Genese der "theoretischen Praxis" der SI einzugehen sein.

Eine andere Variante kritischer Theorie

Was Ende der 1940er und 1950er Jahre von Paris, Brüssel, Amsterdam und Skandinavien ausgehend zunächst in  der Lettristischen, später in der Situationistischen Internationalen (1957-1972) Gestalt annahm, ist  hervorgegangen aus den Immigrations-”Kreuzungen” in Paris (1933: Emigration von Walter Benjamin nach  Paris), den Erfahrungen der französischen Résistance und aus der Lettristischen Bewegung, einer antikünstlerischen, rebellischen Initiative (Zeitschrift: Potlatch 1952-1957) von jungen urbanen ”Déraciné(e)s”  (Entwurzelten), sowie seitens erfahrener europäischer Avantgardekünstler_innen der Linken.
Angetreten war die SI zunächst, die getrennten Sphären von Kunst und Politik zu überwinden und die Totalität des entfremdenden kapitalistischen Alltagslebens zu bekämpfen, unter anderem vermittels verschiedenster  Formen von Schrift bis Comix, aber auch (Anti-)Filmen und plastischer Architekturkritik. Ihre experimentellen und spielerischen Techniken bestanden speziell in der Entwendung und Plagiierung vorgefundener Formen der Kulturindustrie wie vor allem der Werbung, aber auch "Zweckentfremdungen der Pop-art", Übermalung  konventioneller Tafelbilder etc. Die SI versuchte v.a. durch Wort und Geste zur Zerstörung der stumpfsinnigen  Alltagsstruktur von Warengesellschaft und Lohnarbeits(über)leben Impulse zu liefern, insbesondere trat sie gegen die architektonische "Konditionierung der Städtebewohner" im kapitalistischen Urbanismus an.. Dazu  entwickelte sie ein experimentelles Stützpunkteprogramm, zu dessen Erschließung die sogenannten ”Dérives”,  das heißt ein Umherschweifen in großen Städten, und das Konzept der ”Psychogeographie” die Schlüsselrolle  spielten, mittels derer die ”kartographische Aufnahme der Felder des (...) proletarischen Bewusstseins” (SI), seiner emanzipatorischen Träume und subversiven "Gesten" ermöglicht und die allseitige ”Konstruktion von  Situationen” durch alle und jede_n angereizt werden sollten. Was Marx einmal als "die Situation , die jede  Umkehr unmöglich macht”, bezeichnete, nämlich die moderne communistisch-proletarische Revolution, inspirierte nicht nur die Namensgebung der SI, sondern stellte den strategischen Bezugspunkt für ihre gesamte  Theorie/Praxis dar.  Insgesamt war die situationistische ”Praxis der Theorie” auf der Suche nach den Möglichkeitsbedingungen der  Revolution. In den westlichen Gesellschaften schien schon damals Revolution unvorstellbar bzw. in mehr oder weniger abstoßenden ”rohen” Formen vermeintlich in den ”Ostblock” und in die anti- und postkolonialen  Nationalstaatsrevolutionen ”der unterentwickelten Länder” ausgewandert zu sein. In der damaligen Windstille  offener Klassenkonflikte in der "Freien Welt" schien Adornos Formel von der ”Unsichtbarkeit der Klassen in der Versteinerung ihres Verhältnisses” endgültig wahr geworden.

Im Gegensatz zur deutschen Erfahrung, einer völlig versagenden, organisatorisch zerschlagenen und als revolutionäre Kraft abwesenden Arbeiterklasse im Angesicht der Shoah hatte jedoch die SI-Variante der  kritischen Theorie ihre kritische Reibung gerade aus der praktisch-organisatorisch erdrückenden Anwesenheit  eines antifaschistisch kämpfenden Proletariats (erdrückend weil problematisch in den verknöcherten Formen des Stalinismus, Trotzkismus, Linkskommunismus und der "libertären" Minibürokratien) und aus der  Auseinandersetzung mit der bürgerlichen "Volksfront"-Linken bezogen. Auf andere Weise als bei den  ”Frankfurter” kritischen Theoretiker_innen in der US-Emigration, aber ebenfalls theoretisch geprägt durch den  Westlichen Marxismus und in ebenso prägender Wahrnehmung der permanenten Gefahrenkonstellation, hatte auch der mehr oder weniger verdrängte assimilationsjüdische Hintergrund jener knapp der Vernichtung unter der NS-Okkupation entronnenen, sehr jungen Lettrist_innen und Situationist_innen (z.B. Isidore Isou, Michèle  Bernstein -siehe hierzu Mension 2002) eine besondere Traumatisierung bewirkt.

Während die kritische Theorie des späten Adorno zu recht vom historischen "Verhängnis" der Shoah her denkt, hingen Denken und Praxis der situationistischen Kritik ausschließlich an den unabgegoltenen Niederlagen der  proletarischen Revolutionsanläufe bis zum Spanischen Bürgerkrieg und dem Hitler-Stalin-Pakt. Gegen den  Pessimismus eines scheinbaren ”Verschwindens” des revolutionären Proletariats setzten sie auf die proletarische Revolution als ”Wiederkehr des Verdrängten in der modernen Geschichte” (SI). Aber aufgrund der Ausblendung  der Shoah, des modernen Antisemitismus und des eliminatorischen Deutschland rutschten sie doch noch (wider  Willen) auf die andere Seite des Extrems, in eine Art verborgenen linkskommunistischen Geschichtsoptimismus
ab. Damit fielen sie hinter ihren eigenen Anspruch, ”die Niederlage des gesamten revolutionären Projekts (...) unseres Jahrhunderts in ihrem ganzen Ausmaß und ohne irgendeine tröstende Illusion zu erkennen”, (SI) selber  noch zurück.

Indes wurde ihre Prognose einer Wiederkehr der proletarischen Bewegung mit der proletarischen Bemächtigung in der ”Bewegung der Besetzungen” von Fabriken und Büros, Universitäten und Schulen etc. im Mai 1968 in  Frankreich, mitsamt ihren internationalen Ausstrahlungen, weitgehend bestätigt.

Seit dem Scheitern ihres letzten Ansturms in Westeuropa im Mai 1968 ist die proletarische Kritik, welche die SI  ihrer Selbsteinschätzung zufolge lediglich "auszudrücken verstanden hat" und welche nur "die Schattenseite" des  kapitalistischen Akkumulationsprozesses ist ("Die SI gehörte selbst zu dieser 'Schattenseite'." --SI 1972), für längere Zeit wieder abgetaucht, während weniger denn je irgendetwas von dem bürgerlichen Gegenstand dieser Kritik gelöst oder auch nur entschärft ist, was diesen proletarischen Schatten wirft. Die revolutionäre Kritik, längst sukzessive rekuperiert, sei einfach gezwungen sich neu zu erfinden. So auch die selbstkritische Bilanz der  SI: "Wer der Epoche zu entdecken hilft, was sie vermag, ist nicht vor den Mängeln der Gegenwart sicherer und an dem unschuldig, was an Verhängnisvollem noch kommen kann." (1972). Die ”situationistische Revolutionstheorie” muss aufgrund ihrer "blinden Flecken" (zu denen auch die  zeitbedingte Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Trennungen des Geschlechts gehörte, was an dieser  Stelle nur benannt werden kann) selber noch als ein historisches Beispiel für die Ambivalenz der bisherigen halbwegs geschichtsbewussten proletarischen Kämpfe gelten. Diesen Anteil an der Tragödie der Klassenkämpfe festzustellen, kann aber für das Projekt einer kollektiven Kritik der bestehenden und möglichen Barbarei  moderner Klassengesellschaft nur Grund sein, sich nicht der allseitigen Amnesie hinzugeben, sie vielmehr  aufzukündigen und jetzt erst recht den Begriff von Proletariat und ”Klasse selber so nah zu betrachten, daß er
festgehalten wird und verändert zugleich” (Adorno).

”Soziologen aber sehen der grimmigen Scherzfrage sich gegenüber: Wo ist das Proletariat?”

Legte Adorno mit seiner listigen "Scherzfrage" die akademische Zunft herein, so verwies die SI "das soziologisch-journalistische Dogma vom Verschwinden des Proletariats" lapidar mit der Frage: "Wir sind alle  proletarisiert oder haben gute Aussichten es zu werden ... Welche Partei hat das Ende des Proletariats in ihrem  Programm?" (1963) Doch was kann Proletarisierungskritik heißen, wenn sie nicht ein regressiver romantischer
Antikapitalismus sein soll? Die SI hat wie Wenige ihrer Zeit versucht, die Marxsche Analyse der modernen Proletarität zu aktualisieren. Damals wie heute wurde die Kategorie ”Proletariat” ja für obsolet erklärt. Der mit  der kapitalistischen Produktionsweise einhergehende Prozess der Klassenteilung besteht der SI zufolge in seiner modernsten Form, dem "Spektakel", genau in der endgültigen ”Proletarisierung der Welt”, und die spektakuläre  Warenproduktion bildet lediglich den verkehrten Widerschein ("Wertspiegel"), die gigantische ”Hieroglyphe”  (Marx) für ”die radikale und hoffnungslose Proletarisierung der großen Mehrheit der Bevölkerung” (SI), welche als Akkumulation des Kapitals auch in der Akkumulation von Bildern und Zeichen für ”das mögliche Leben” immer weitergeht. (Die "Spektakel"-Theorie der SI kann auf diesem Raum nicht dargestellt werden. Siehe dazu  die systematische Gesamtdarstellung in BBZN 2004 und 2005.)

Das ”Proletariat” bezeichnet klassisch ökonomiekritisch -- und hier knüpft auch die SI direkt und wie  selbstverständlich an die nüchtern-wissenschaftliche Marxsche Bestimmung (MEW 23:642) an – die  Gesellschaftsklasse der Lohnabhängigen: diejenigen, die zwar formal mit anderen Klassen und Schichten als  freie und gleiche Rechtssubjekte (Staatsbürgerinnen, Warenbesitzerinnen und Privatleute) gleichgestellt sind, aufgrund ihrer Eigentumslosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Produktionsmitteln aber, da gezwungen, die  eigene Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, faktisch die vom Kapital ausgebeutete, weil unbezahlte Mehrarbeit  (als Mehrwert über den zur Ersetzung ihres Lohns hinaus produzierten Wert) liefernde Gesellschaftsklasse verkörpern. Im Kern handelt es sich bei dieser Klassenbestimmung um die (kapital-) produktive  Gesamtarbeiter_in, die weltgesellschaftlich de facto schon kombinierte Produzent_in alles gesellschaftlichen  Reichtums, die mit dem Kapitalverhältnis zugleich ihren eigenen Status als Lohnarbeiterin  gesamtgesellschaftlich reproduziert. Da sie nicht über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen verfügen und  als Gesellschaftsklasse-an-sich, unmittelbar bestehend aus vereinzelten miteinander konkurrierenden Individuen, auch sonst keine direkte materielle Möglichkeit haben, das gesellschaftliche Geschehen, die gesellschaftliche  ”Raum-Zeit” (SI) zu bestimmen, sind die Proletarisierten zunächst unmittelbar bloßes ohnmächtiges Produkt eines gesellschaftlichen Negationsprozesses (Enteignung und Trennung von privaten Produktionsmitteln,  Entfremdung von und in ihrer eigenen Produktion sowie "Entmenschlichung” durch Trennung in  Privatmonaden). Deshalb konnte die situationistische Klassenanalyse als minimalistische Grundbestimmung  auch für die weitere Entwicklungsrichtung zum consumer capitalism festhalten: ”Gemäß der zur Zeit im Entwurf  begriffenen Wirklichkeit kann man diejenigen als Proletarier betrachten, denen es ganz und gar unmöglich ist,  die gesellschaftliche Raum-Zeit zu verändern, die die Gesellschaft ihnen zum Konsum zuteilt (auf den  verschiedenen Stufen des erlaubten Überflusses und Aufstiegs). Die Herrschenden sind diejenigen, die diese Raum-Zeit organisieren bzw. genug Spielraum für eine persönliche Wahl haben (auch z.B. wegen des wichtigen Fortbestandes alter Formen des Privateigentums).”

Dieser negative proletarische Ist-Zustand wird wiederum als Schattenreich, als die "Schattenseite" des positiven  Bestehenden (SI) negiert und permanent in Bewegung gebracht. Durch das Kapitalverhältnis selbst werden die  Individuen als disponible ”Masse” zur Klasse an sich, d.h. negativ als eine zunächst unbestimmte Proletarität
gefasst. "Aus dem buntscheckigen Haufen der Arbeiter von allen Professionen, Altern, Geschlechtern, die  eifriger auf uns andringen als die Seelen der Erschlagenen auf den Odysseus" (Marx), formieren sich immer  wieder Gestaltungen, die mehr sind als eine "Multitude": konkurrenz-überwindende Formen selbsttätiger  Organisierung negieren in cosmopolitischer Tendenz stets erneut "die feindliche Brüderschaft des Kapitals"
(Marx; vgl. empirisch: Beverly Silver 2005). Dieser zweite Negationsprozess, in Richtung "Klasse für sich  selbst", drängt auf die Aufhebung der Kommodifizierung der Arbeit, auf Selbstaufhebung des Proletariats und  jeder Klassifizierung von Menschen durch Menschen überhaupt. Der Weltmarkt selber setzt die Proletarisierten  endlich frei in eine nur noch gattungsmäßige "Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte
verknüpft ist." (MEW 3:36) Indem die SI durch direktes Anknüpfen an die marxschen wissenschaftlich "harten" ökonomiekritischen und kategorialen Bestimmungen das Proletariat als Prozess dieser pemanenten  Negationsschübe wieder sichtbar zu machen versucht, arbeitet sie dem Common Sense der Soziologen wie der  Linken entgegen: der geläufigen vulgären Verwechslung dieser Kategorie mit dem jeweils vorfindlichen
historischen Phänotyp (wobei man sich gewöhnlich immer noch ahistorisch-statisch auf "den Blaumann" fixiert,  dem "die Führungskraft" dualistisch entgegenfiguriert). ”Der Zweck der hier nachvollzogenen Scheidelinie  zwischen denen, die die Raum-Zeit organisieren (sowie den ihnen unmittelbar dienenden Agenten) und denen,  die diese Organisation erleiden müssen, ist es, der kunstvoll gesponnenen Kompliziertheit der Funktionen- und  Lohnhierarchien zwei deutlich festgelegte Pole zu geben, da jene Hierarchien vermuten lassen sollen, dass es an  beiden Enden einer äußerst dehnbar gewordenen sozialen Kurve kaum mehr wirkliche Proletarier oder wirkliche  Eigentümer gibt.” (SI 1963)

Zwei deutlich festgelegte Pole sind nicht nur synchronisch, als Momentaufnahme und statischer Strukturaufriss  der modernen Klassengesellschaft, sondern zugleich diachronisch, im Proletariat als dem Prozess seiner  Konstitution als Klasse und möglichen Herausbildung von historischem Bewusstsein vorzugeben. Zu dieser  Polarität hatte Marx lapidar festgestellt, ”die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts”. Als  revolutionstheoretische Frage, welche die SI auf neue Weise zu lösen versuchte, aber mit deren Beantwortung  sie letztendlich auch nicht hinreichend weiterkam, stellt sich dann: Wie kann aus dem sozialen "Nichts"-Sein der  faktisch gegebenen materiellen Ohnmacht vereinzelter Einzelner die als das weltgesellschaftliche Subjekt  handelnde" Klasse des Bewusstseins" werden? Wobei die SI ohne Abstriche zur Bedingung machte: "Die Theorie der Revolution wird nach diesem einzigen Kriterium beurteilt, dass ihr Wissen eine Macht werden muss."  (1972). Die historisch auch aktuell nicht eingeholte Antwort der SI wurde zunächst immerhin ex negativo  gegeben, und das heilsam gründlich: Niemals kann irgendeine Form von ”Repräsentation” diese Bedingung erfüllen. Der erste Bewusstseinsschritt war ihrer Auffassung nach die Erkenntnis, dass die Proletarisierten ”zwar keine Macht über den Gebrauch ihres Lebens haben”, aber dass sie das zumindest ”wissen” (SI). Bei diesem  ”Wissen” handelt es sich nicht um theoretisch-reflexives Wissen, sondern um die eigene Einsicht in die  unmittelbare soziale Nichtigkeit einerseits, in die Notwendigkeit "bei Strafe des Untergangs" (Marx) diesen Zustand weltgesellschaftlich assoziiert aufzuheben, andererseits. Die Möglichkeit dies zu tun entdecke das Proletariat "durch die konkrete geschichtliche Erfahrung" (SI). Diese müsste es sich allerdings schon selbst  bewusst aneignen. Ein Klassensubjekt kann sich in diesem historischen Prozess keineswegs aufgrund eines (wie  immer auch gefühlten) "Klassenstandpunkts" herausbilden: positiver "Standort" und parteiliche  Standpunktdenke verfehlen die Permanenz sich neu konfigurierender Situationen, in denen sich ein  Klassensubjekt erst selbst konstruiert.

In diesem Prozess seiner doppelten Negativität können die Lohnabhängigen nur durch die selbsttätige  Subversion und Destruktion ihrer gesellschaftlichen Enteignung und Ausbeutung aus Objekten zu Subjekten  werden. Das Proletariat wird deshalb situationistisch – mit Marx' Formulierung hinsichtlich dem privaten  Klasseneigentum an den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen -- wesentlich als ”die negative Seite des  Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum” in Raum und Zeit  begriffen. ”Revolutionär” schließlich ist, so die SI, ”eine Bewegung, die die Organisation dieser Raum-Zeit  sowie die künftigen Entscheidungsformen ihrer permanenten Neuorganisation radikal umgestaltet (und nicht  eine Bewegung, die nur die Rechtsform des Eigentums oder die soziale Herkunft der Herrschenden verändert).”

Die Ausgangssituation als Partikel einer Masse lohnabhängiger Individuen – ihre "Lebenssituation" (Marx) als  Ware Arbeitskraft und sonst nichts – teilten die Situationist_innen mit dem Proletariat. Sie verstanden sich selbst  als "enfants perdus" ("verlorene Kinder", d.h. militärisch: "verlorener Haufen" hinter den feindlichen Linien)
innerhalb dieser Klasse und vertraten mit dem Ziel der Überwindung der Proletarität nichts als ihr elementares Selbstinteresse nur eben als bewusstseinsorganisierendes Element. ”Das Kapital hat für diese Masse eine  gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen”, so Marx. "Die proletarische Revolution hängt ganz  und gar von dieser Notwendigkeit ab, dass die Massen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, dass die Arbeiter zu Dialektikern werden und  dass sie der Praxis ihr Denken aufprägen;" so die SI. Damit trat die situationistische Strategie schon im Ansatz  maximalistisch auf wie niemand sonst und verlangte bereits für die allerersten Keimformen der Räteorganisation  -- für sie nicht zu trennen von der elementarsten antispektakulären Organisation des Klassenbewusstseins in jeder Form, was jegliche separate Extra "Avantgarde" strikt ausschliesst! -- eine "Kohärenz, die sich in der  eigentlichen kritischen Theorie und in deren Beziehung zur praktischen Tätigkeit bewähren muss."(1967). Die  Theorie/Praxis-Kohärenz sollte das einzige Schutz- und Vorbeugungsmittel gegen "Vermobbung", Karrierismus,  Bürokratisierung, Verkommen in terroristischer Geheimbündelei und im linken Gangland usw. in dem Prozess  von "der Theorie der Praxis" hin "zur praktischen Theorie" (SI) werden (deshalb auch die wahnsinnig strenge  Ausschlusspraxis der SI, z.B. "wegen Lügen"). Die Situationist_innen grenzten sich damit ebenso intransigent  gegen Parteihierarchien wie gegen Spontaneismus und Individualanarchismus ab. All dem setzten sie die  Vorbereitung "der generalisierten Selbstverwaltung" durch die Leute selbst entgegen. "Wie bekannt, neigen wir  keineswegs zu irgendeiner Art Proletkult. Es handelt sich dabei um 'Dialektiker gewordene Arbeiter', wie sie es  massenweise bei der Ausübung der Macht der Räte werden müssen." (1969) Denn eben weil ”naturwüchsig aus dem Boden der modernen Gesellschaft” hervorgetrieben , ist -- so Marx: -der  Prozess spontaner wie organisierter Klassenformierung "der Proletarier die destruktive Partei", keinesfalls  per se deterministisch progressiv, er wird gerade aufgrund seiner notwendigen "realpolitischen" Bodenhaftung immer wieder momentan versumpfen, erstarren, ins Regressive umschlagen. Nicht nur hat "die zivilisatorische  Mission des Kapitals" ihre barbarische Schattenseite, auch nach den ersten proletarischen Revolutionsanläufen  musste schon Marx hundert Jahre vor der SI feststellen: ”Aber die gemütlichen delusions und der fast kindliche Enthusiasmus, mit dem wir (...) die Revolutionsära begrüßten, sind zum Teufel. (...) Zudem wissen wir jetzt,  welche Rolle die Dummheit in Revolutionen spielt und wie sie von Lumpen exploitiert werden.”

Die ”Wiederkehr des Verdrängten” (SI) in der Klassenambivalenz

Das Ende der "delusions", den Zusammenbruch einer Welt und das Ende der Geschichte der alten  Revolutionsepoche hat kaum eine communistische Gruppierung so grausam-gründlich ausgesprochen wie die SI.  "Unsere Lage ist die von Kämpfern zwischen zwei Welten: die eine erkennen wir nicht an, während die andere  noch nicht existiert. Es kommt darauf an, den Zusammenstoß zu überstürzen. Das Ende einer Welt zu  beschleunigen, die Katastrophe, bei der die Situationisten die ihrigen erkennen werden.” (SI 1962) Nur war die situationistische Mobilisierung von Geschichts- und Klassenbewusstsein trotz dieses maximalistischen, ja fast  chiliastisch-manichäischen Gestus durchaus noch immer nicht kritisch-gründlich genug. Angesichts des allzu grausamen, nämlich vernichtenden Resultats des geschichtlichen ”Fortschritts” setzte ihr Blick dann doch aus.

Die SI konnte nur deshalb mit dem Katastrophischen in der Geschichte spielen, weil sie die Katastrophe  (hebräisch: Shoah) des 20. Jh. und der bisherigen Gattungsgeschichte ausblendete. Bezeichnet die ”Chiffre  Auschwitz” (Adorno) nicht irgendeine historische Katastrophe unter den zahlreichen anderen der Geschichte,  sondern den Untergang der historischen Möglichkeit, dass menschliche Gattungsgeschichte angesichts dieses
ihres Bruchs als menschliche überhaupt weitergemacht werden könnte --”Dass es ‚so weiter’ geht, ist die  Katastrophe.” (W. Benjamin) --, so bezeichnet sie zugleich den fälligen Untergang aller Vorstellungen der  einstigen revolutionären Arbeiterbewegung von bruchlosem ”Es geht voran!” nach ihrem totalen historischen  Versagen, die Shoah nicht verhindert zu haben, ja bis heute auch nicht als den gattungsgeschichtlichen  Wendepunkt wahrzunehmen.

Auch die SI – offensichtlich noch selber der epochalen Kränkung des linkskommunistischen Selbstgefühls  unterliegend (d.h.unbewusst: nicht nur als proletarische Repräsentation eines historischen falschen "Messias"  blamiert sondern auch noch nicht einmal als "das" Opfer, der Sündenbock des modernen Kapitalismus von der  Geschichte auserwählt zu sein) – verkannte damit die klassenhistorische Diskontinuität, welche Adorno im  Angesicht der beginnenden Shoah diagnostiziert hatte: die gigantische epochale Verschiebung, die mit der ab  1933 in Deutschland gelingenden antisemitischen Verdunkelung und Verdrängung des Proletariats als dem  ”Gegenpunkt zur Konzentration der Macht” (Adorno 1940) und seiner Ersetzung durch ”den Weltfeind Judentum” als den Gegenpunkt und das Vernichtungsobjekt der kapitalistisch-proletarisch verklammerten ”Volksgemeinschaft” zustandegebracht worden war. Damit übersah die SI auch die doppelte Abspaltung:  

a) Ein Teil des Weltproletariats spaltete sich von diesem konterrevolutionär ab, nämlich als ”die deutsche  Revolution” des NS: im Bilde der aktivistischen "deutschen Arbeiter" und der volksstaatlichen ”Prolet-Arier” als Scheinsubjekt der totalen Bemächtigung (so zeigte schon Franz Neumann plausibel im zeitgenössischen ”Behemoth”).

b) Durch die Unterwerfung unter die Identität ”der gute deutsche Arbeiter”, ”der anständige deutsche Bürger”  und ”die aktiven Volksgenossen” beiderlei Geschlechts und aller "Berufsstände" als Selbstbild spalteten sie im  "konzentrierten Spektakel" (SI) der ”Volksgemeinschaft” sozialpsychologisch das Bild vom revolutionären  Proletariat aus sich selber endgültig ab (Subversion, Revolution, Kosmopolitismus, Marxismus, Intellektualität,  kritische Zersetzung des Bestehenden – kurz: Negativität) und projizierten es als Wahnbild auf ”die Juden”, um  es – überblendet mit dem Wahnbild von den ”Geldmenschen”, dem ”raffenden Kapital”, ”dem Finanzjudentum”  und der abstrakten Arbeit sowie aller ”Nichtarbeit”, also der Vorstellung von der Bourgeoisie und der ganzen unbegriffenen Widersprüchlichkeit des Kapitalismus – in Gestalt der (vor allem) als”jüdisch” selektierten  Menschen physisch zu vernichten. Das massenmörderisch-spektakuläre Welt-Bild vom ”Weltjudentum” war  stets ”antikapitalistisch und antimarxistisch” überdeterminiert. Die Überblendung des diffusen  "Antikapitalismus" mit dem konzentriert anticommunistischen Feind-Bild funktioniert als massenpsychotisches  Spiegelungsverhältnis entfremdeter Arbeit.

Die situationistische Kritik der ”Gesellschaft des Spektakels” hätte mit ihrem Analyseinstrumentarium zum  "diffusen" wie zum "konzentrierten Spektakulären" aus diesem Bann des scheinbaren Verhängnisses im bisherigen Resultat der Gattungsgeschichte einen Ausweg aufzeigen können. Die SI selbst entwickelte dieses
Instrumentarium zwar ( äußerst rudimentär) in Hinblick auf ”den Faschismus” im Allgemeinen, aber gar nicht in  Bezug auf die deutschen Zustände im Besonderen, wie sie im NS und im eliminatorischen Antisemitismus  gipfelten und den Zivilisations- wie proletarischen Revolutionsbruch des Weltlaufs herbeigeführt haben.

Als aktualisierendes Forschungsprogramm wäre die Spektakeltheorie der SI – nicht gegen die kritische Theorie  Adornos, sondern als deren überlebensfähiger ”siamesischer Zwilling” und ”Wiederkehr des Verdrängten” – in  einer kollektiven Kritik aufzugreifen, zu retten und weiterzuentwickeln für die Reflexion dessen, was die  Situationist_innen selber noch ausblendeten: die katastrophale Verschiebung innerhalb des verkehrten  ”identischen Subjekt-Objekt” Lohnarbeit&Kapital in den fetischistischen Gestaltungen der modernsten  antisemitischen Alltagsreligion. Im Selbstbild der ”aktiven” Volksgemeinschaftlichkeit konnte – und kann  jederzeit wieder – die revolutionäre Proletarität, das Negative zum Bestehenden, als Feindbild abgespalten und  im Bilde einer Scheinrevolution ”eliminiert” werden. Dies ist aber kein geschichtsfatalistisches ”Verhängnis” der  resultativen Wirklichkeit oder gar naturgeschichtlich-"historischen Notwendigkeit" nach (dann hätte Hitler doch  noch recht behalten), sondern auflösbar der materiellen und psychosozialen Möglichkeit nach – allerdings einzig  und allein durch so etwas wie ”die Klasse des Bewusstseins”, und durch keine andere Macht dieser Welt.

"Der Albtraum der Toten auf den Lebenden" (Marx) – "Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes." (SI)

Um sich vom Pol und Sog der Vermobbung und Abspaltungen in der gegenseitigen Konkurrenz weg zu  bewegen hin zur Selbstorganisierung als ”die Klasse des Bewusstseins”, welche die SI so kompromisslos wie  keine westlich-communistische Theoriepraxis sonst als "die Bedingung der Möglichkeit" postuliert hat, gälte es
dann die situationistische Konstruktion der ”lesenden und Dialektik lernenden” Arbeiter_innen aufzugreifen. ”Lesen” in der situationistischen Bedeutung von umfassender Selbsttätigkeit bei der Dechiffrierung und Realisierung der ”Träume”, ”Gesten des revolutionären Begehrens” im modernen Proletariat, in den Kulturobjektivationen seines ”Traumschlafs” (Benjamin), heißt dann, ”diese seine Traumgeschichte mit zu seinen bestehenden Zuständen schlagen und nicht nur diese bestehenden Zustände, sondern zugleich ihre abstrakte Fortsetzung der Kritik unterwerfen.” (Marx) Die im alltäglichen Experimentieren zu entwickelnde Kritik der spektakulären Bilderproduktion als Dechiffrieren der Waren-Hieroglyphen und Heraussprengen ihres  produktiven gesellschaftlichen Inhalts wäre erst noch von der vorbereitenden Wühlarbeit der SI zu lernen, die der ”Bewegung der Besetzungen” zuarbeitete.  Was Benjamin angesichts der ”Struktur der faschistischen Propaganda” (Adorno) und der ”Ästhetisierung des Politischen” im NS mit Adorno so intensiv diskutiert hatte, war die Notwendigkeit und Möglichkeit, den spektakulären ”Fortschritt” der fetischistischen Subjekt-Objekt-Identität von Lohnarbeit&Kapital stillzustellen,  indem es gelänge, in den Klassenkampfformen das modern-archaische Bild-aus-Bildern von der ”klassenlosen Gesellschaft” des Kapitals und insbesondere des NS aufzusprengen. ”Die ganze Ausdehnung der Gesellschaft ist sein Portrait.”, so die SI über die darauffolgende Gesellschaft: ”die Gesellschaft des Spektakels, in der die Ware  sich selbst in einer von ihr geschaffenen Welt anschaut.” Das Stillstellen dieser Bilderzirkulation hatte Benjamin
als ”das dialektische Bild” bezeichnet, das ein historisches Erkennen der aktuellen Situation in der Beziehung  zur Vergangenheit möglich macht: ”die Dialektik im Stillstand.” Entscheidend sei für das Herbeiführen dieser  Diskontinuität der Bilder, ”dass der Dialektiker die Geschichte nicht anders denn als eine Gefahrenkonstellation  begreifen kann, die er, denkend ihrer Entwicklung folgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprunge ist.”

Die Situationist_innen begriffen die Unabdingbarkeit einer Praxis der revolutionären Unterbrechungen und  sprachen von der Theorie als der ”Domäne der Gefahr”. Sie setzten in der permanenten Gefahrenkonstellation  des Klassenkampfes um die Bilder, die Zeichen und die Sprache folgende Taktiken ein: die Entwendung und  Zweckentfremdung (das Détournement), die Beschleunigung (um der Rekuperation durch den Klassenfeind
zuvorzukommen), das Aufsprengen und die Überrumpelung der Bilderproduktion durch Destruktion in Raum und Zeit, das Wenden ihrer verkehrten Totalität als "die umkehrbare Kohärenz" (SI). Ihre Strategie für die  Emanzipation des Proletariats basierte auf "Dialektik lernen" und "lesen lernen" --was so naiv klingen mag, ist  historisch-materialistisch aufgeladen wie schon bei Benjamin: ”Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten  Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.”(”Passagen”Werk).

Die situationistische Praxistheorie entwickelte in diesem welthistorisch dechiffrierenden Sinne experimentelles  und assoziiertes Aufbrechen des kapitalistischen Alltags und Aufhebung der Kunst als getrennter Sphäre und  Sphäre der Trennung. Das "Lesen" bezeichnet als Schlüsselkategorie dieser Techniken die sinnlich-evokative  und performative Vermittlungsarbeit, die mit der theoretisch-begrifflichen einhergehen muss, und daraus  resultierend die Freisetzung der ästhetischen ”Welt produktiver Triebe und Anlagen” (Marx) in den  gesellschaftlichen Individuen. Assoziieren sich diese von vornherein bewusst auf welthistorischem,  cosmopolitischem Terrain, hören sie auf ihre Proletarität weiter zu verdrängen und ”national”, ethnizistisch,  rassistisch und antisemitisch-projektiv von sich selbst abzuspalten (Remember: stalinistische Kampagnen der "nationalen Arbeiterklassen" gegen "Kosmopolitismus = Zionismus" und deren Fortleben im "sozialistischen" Parteienkosmos der Gegenwart). Indem sich die Situationist_innen von vornherein als ”Internationale”  organisierten, sowie durch ihre global angelegte ”Stützpunkte”-Konzeption, die zuweilen in ihrem spielerischen  Als-ob vor dem Kokettieren mit Größenwahn nicht zurückschreckte ("Technik des Weltcoups" 1963), bezogen sie sich jedenfalls direkt auf die erste InternationaleArbeiterAssociation. Deren Leistung hatte Marx darin  zusammengefasst, ”die Gesamtarbeiterklasse zu einem Bunde zu vereinigen und zum ersten Mal den  herrschenden Klassen und ihren Regierungen die cosmopolitische Macht des Proletariats fühlbar zu machen”.

Nur so kann es den Proletarisierten auch möglich sein, von den spektakulären Fixierungen im Bild einer bloßen  Mob-Multitude sich zu lösen und sich als geschichtsmächtige Gesellschaftsindividuen neu zu erfinden, den im Weltmarkt längst hergestellten produktiven Kombinationszusammenhang aus seiner kapitalistischen Form  "automatisches Subjekt" / "blindes Subjekt" (Marx) heraus zu kippen. Das Klassen-Selbstbild vom Identischen  Subjekt-Objekt Kapital&Arbeit zu sprengen ist conditio sine qua non.  Die Kategorie ”Proletariat” ist – situationistisch begriffen – somit nicht mehr und nicht weniger als ein Ort der  Auseinandersetzung. Diesen "prozessierenden Ort" – "dort wo sich der Dialog bewaffnet hat" (Guy Debord: Die  Gesellschaft des Spektakels. Schlussthese) – gilt es zunächst grausam-gründlich zu re-konstruieren, in seinen  Formen neu zu erfinden, um in diesem Prozess als ”Klasse des Bewusstseins” alle spektakulären Bilder und die offizielle Sprache von ”der Klasse” zu dechiffrieren, um sie zu destruieren. ”Die ‚Konstruktion’ setzt die ‚Destruktion’ voraus.” (W. Benjamin).  Das Dilemma, die ”Spaltung” der kritischen Theorie für den Communismus bleibt bis heute äußerst schmerzhaft  offen: das Unvermögen, jeweils das Verdrängte, die emanzipative Möglichkeit eines revolutionären Proletariats einerseits und die barbarische Möglichkeit von ”Auschwitz und ähnlichem” andererseits, historisch  materialistisch in Hinblick auf ”Erlösung" (W. Benjamin über die revolutionäre Säkularisierung des  Messianismus als Aufhebungsleistung ab Marx) des Menschengeschlechts als seine eigene Arbeit zu  reflektieren: als Selbstaufhebung des Proletariats vermittels selbständig organisiertem "Kopf der Leidenschaft"  (Marx). "Ein Jahrhundert revolutionärer Versuche schlug dadurch fehl, dass das menschliche Leben weder rational noch leidenschaftlich wurde (das Projekt einer klassenlosen Gesellschaft ist noch immer nicht  verwirklicht worden).", so die SI in "Herrschaft über die Natur, Ideologien und Klassen". Die "Konstruktion von  Situationen" sollte diese umfassende Verwirklichung des revolutionären Begehrens als commune im  Weltmaßstab greifbar machen.

Editorische Anmerkungen

Am Wochenende des 15./16.10.05 fand im Berliner Mehringhof eine 2tägige Veranstaltung mit dem Titel  "Zur cosmopolitischen Selbstaufhebung der Klasse - Situationistische Revolutionstheorie heute" statt. Der vorliegende Text bildete die zentrale Lektüreempfehlung. Als PDF-File gibt es den Text plus weiterer INFOs bei www.klassenlos.tk

 Kontakt zur Veranstaltungsgruppe: revolutionstheorie@hotmail.de