Betrieb & Gewerkschaft
INTERVIEW MIT MITGLIEDERN DER USI SANITA

Geführt und übersetzt von Lars Röhm, FAU-Münster
10/05

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nnt ihr euch kurz vorstellen. Wer seid ihr und was macht ihr? Was ist die U.S.I.?

Wir sind Arbeiterinnen und Arbeiter aus verschiedenen Krankenhäusern in Mailand und Umgebung. Wir haben alle verschiedene Erfahrungen hinter uns, die sich durch Agitationskollektive ab Mitte der 70er Jahre im Inneren der einzelnen Kliniken entwickelten. Schliesslich haben wir uns 1991 der Unione Sindacale Italiana, einer Gewerkschaft mit libertären Prinzipien, angeschlossen.

Die U.S.I. wurde 1912 in Modena gegründet, in der Zeit des Faschismus aufgelöst und in den 50er Jahren reorganisiert. Heute ist sie ein Gewerkschaftsbund auf nationaler Ebene, der sowohl im öffentlichen Dienst – mit einer Vielzahl von Branchengewerkschaften – als auch im privaten Sektor präsent ist. 1992 wurde von den KlinikarbeiterInnen der U.S.I. die Gründung der Pflegegewerkschaft U.S.I.S. als Gewerkschaft auf nationaler Ebene beschlossen. Im Moment gibt es ca. 1.500 Arbeiterinnen und Arbeiter, die in privaten oder öffentlichen Pflegeeinrichtungen angestellt sind und sich in der U.S.I.S. organisieren; von ihnen sind ungefähr 1.000 in Kliniken in Mailand und Umgebung angestellt (San Carlo, San Paolo, Polyklinikum, San Gerardo di Momza, etc.). Intern ist die U.S.I.S. in selbstverwalteten Gewerkschaften auf Betriebsebene organisiert. Im Gegensatz zu den Berufsgewerkschaften sind unsere Repräsentanten stets von den Arbeiterinnen und Arbeitern, die direkt auf den Versammlungen entscheiden – von lokaler bis hin zu nationaler Ebene - , abwählbar. Die Entscheidung, uns als selbstverwaltete Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene zu organisieren, ermöglicht jeder Gewerkschaft in ihren gewerkschaftlich-politischen Entscheidungen unabhängig zu sein und direkt mittels ihrer eigenen Vertreter am betrieblichen Verhandlungstisch zu sitzen.

Darüberhinaus hat diese Entscheidung es den selbstverwalteten Gewerkschaften auf Betriebsebene ermöglicht, zahlenmässig zu wachsen und sämtliche gewerkschaftlichen Rechte zu nutzen. Dies ist ein Organisationsbeispiel für alle Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht in den großen, reformistischen Gewerkschaften (C.G.I.L., C.I.S.L., U.I.L.), den sogenannten „konföderalen Gewerkschaften", organisiert sind.

All das war auch möglich, weil die damalige Gesetzgebung die Gründung sogenannter Rappresentanze sindacali aziendali (die in der Tradition der alter Fabrikräte stehen) – jeder registrierten und auf nationaler Ebene aktiven gewerkschaftlichen Organisation – zugestand.

Genau wie in Deutschland, so gibt es auch in Italien gerade radikale Reformen des Arbeitsmarktes und Sozialwesens: was für uns die Hartz-Gesetze sind, ist für euch die Legge Biagi. Könnt ihr ein paar Sätze dazu sagen?

Das Biagi-Gesetz verkörpert die Tendenz, den Unternehmern die Fesseln eines Arbeitsverhältnisses zu lockern, und zwar durch Instrumente wie z.B. die Einführung neuer Arten von Arbeitsverträgen ( Arbeit nur für die Dauer eines bestimmten Projektes, Leiharbeit, Jobsharing, etc.), die immer mehr die Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit fördern. Diese Tendenz zeichnete sich jedoch schon unter der vorherigen, eher progressiven Regierung ab.

Wie wirkt sich das Ganze auf den Pflegebereich aus?

Innerhalb der öffentlichen Krankenversorgung werden wir schon seit der vorherigen Legislaturperiode Zeugen einer immer stärker werdenden Privatisierung sowohl der Pflegeleistungen als auch der Arbeit; wodurch schliesslich die öffentliche Krankenversorgung abgebaut wird. Es wird dazu tendiert, die Bevölkerung dazu zu bewegen, auf private Versicherungen zurückzugreifen, um sich den Zugang zu Pflegeleistungen zu ermöglichen, von denen viele nur von Privatkliniken und zu sehr hohen Preisen angeboten werden. Eine andere Tendenz ist die starke Kostenreduzierung, die sich in Kürzungen von Personal, Materialien und Fonds, die für die Erneuerung veralteter Strukturen benötigt werden, überträgt.

Als „antagonistische" Gewerkschaft stellen wir uns der Liberalisierung der Pflegeleistungen entgegen, indem wir hauptsächlich Gegeninformation betreiben; aber auch, indem wir uns für Streiks auf nationaler Ebene einsetzen – manchmal auch zusammen mit anderen Basisgewerkschaften. In den vergangenen sechs Jahren haben wir zwei landesweite Streiks ausgerufen, allesamt gegen die liberale Politik der Regierung.

Im Dezember 2003 kam es zu einem wilden Streik bei den Mailänder Verkehrsbetrieben. Was war, eurer Meinung nach, das Besondere an diesem Streik?

Das besondere an diesem Streik war, dass es sich, verglichen mit den zahlreichen anderen Streiks, die C.G.I.L., C.I.S.L. und U.I.L. zur Erneuerung des landesweiten Tarifvertrags für den öffentlichen Nahverkehr ausriefen, um einen spontanen Streik handelte, der von der Basis der Arbeiterinnen und Arbeiter beschlossen wurde, ohne die rigiden Regeln, die das Gesetz für den Streik im öffentlichen Dienst vorsieht, zu befolgen. Als die starke Beteiligung auf nationaler Ebene deutlich wurde, haben die „konföderalen Gewerkschaften" versucht, sich diese spontane Initiative auf politischer Ebene zu eigen zu machen und haben mit dem Staat einen Vertrag mit vielen Zugeständnissen abgeschlossen – der weniger als die Hälfte der geforderten Lohnerhöhung beinhaltete. Die Außenseiterrolle von C.G.I.L., C.I.S.L. und U.I.L. wurde dadurch bestätigt, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter den abgeschlossenen Vertrag in Frage stellten, da sie sich durch die daraus resultierende Blockade des Streiks und den Führungsanspruch der „Konföderalen" abgezockt fühlten. Als U.S.I.S. haben wir dieser Initiative unsere Solidarität ausgedrückt, da sie die bürokratischen Schlingen des Streikrechts zerschlagen und die „pseudo-antagonistische" Rolle, die C.G.I.L., C.I.S.L., U.I.L. in den letzten Jahren angenommen haben, in Frage gestellt hat.

Die deutsche „Linke" blickt immer wieder recht neidisch auf Länder wie Italien, in denen es ja offensichtlich einiges mehr an Widerstand gibt als hierzulande. Wie sehen eure Beziehungen zur „Bewegung" und, insbesondere, zu den so bekannten „Centri Sociali" aus?

Bereits vor der Gründung der U.S.I.S. haben viele von uns an der Besetzung soziale Räume teilgenommen und somit einer sozialen Praxis des städtischen Protestes seitens derer, die im sozio-ökonomischen Gefüge Mailands ihre Arbeitskraft verkaufen, ins Leben geholfen. So versammelte sich z.B. das Kollektiv der libertären Klinikarbeiter, die später zusammen mit vielen anderen Gruppen der ganzen Gegend die U.S.I.S. ins Leben riefen, im sozialen Raum des Centro Sociale in der via Conchetta 18. Gegen Ende der 80er Jahre haben wir den 3. Stock des Gebäudes in der Viale Bligny in Mailand, der jetzt unser Gewerkschaftslokal ist, besetzt. Es befindet sich in kommunalem Besitz und stand seit Jahren leer. Jetzt ist es der privaten Universität Bocconi in Mailand, Ausbildungsstätte des Mailänder und des italienischen Managements, zugesprochen worden. Seit mehr als zehn Jahren kämpfen wir schon gegen die Kommune und die Universität Bocconi, gegen diesen Plan der privaten Bauexpansion indem wir Veranstaltungen gegen Baupekulation organisieren und die Widerstandskomitees, die sich in dieser Zone gegen die Spekulationspolitik der Stadt Mailand gegründet haben, unterstützen.

Wann und wie sind die Basisgewerkschaften, die es so in Deutschland nicht gibt, entstanden, und wie sieht eurer Verhältnis zu den anderen italienischen Gewerkschaften aus?

Bis Ende der 70er Jahre gab es nur die „konföderalen Gewerkschaften", die in den Betrieben in den sogenannten Delegiertenräten, die nicht immer mit der Politik der „konföderalen Gewerkschaften" einverstanden waren, vertreten wurden. Außerdem beteiligten sich auch viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die oftmals mit C.G.I.L., C.I.S.L., U.I.L. unzufrieden waren, an den Räten.

In den darauffolgenden Jahren gab die Ausbreitung des bewaffneten Kampfes den „konföderalen Gewerkschaften" die Möglichkeit, diese Tendenz einer anderen Art, gewerkschaftliche Arbeit zu machen – die für C.G.I.L., C.I.S.L., U.I.L. eine Bedrohung ihres Einflusses bedeutete – zu unterdrücken.

Die Basisgewerkschaften entstanden gegen Ende der 80er Jahre, nach dieser Periode harter Repression, als das Bedürfnis verspürt wurde, unabhängige Gewerkschaften zu gründen und es die passenden Rahmenbedingungen dafür gab. Viele von ihnen sind aus autonomen Arbeitergruppen, vor allem im öffentlichen Dienst, entstanden. Die Vielzahl dieser antagonistischen Gewerkschaften im Gegensatz zu den „konföderalen Gewerkschaften" reflektierte die unterschiedlichen politischen Überzeugungen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in ihnen organisierten. Diese Unterschiede und Spaltungen gibt es auch heute noch, deshalb ist es schwer, längere und einheitliche Kämpfe zu führen. Manchmal gibt es gemeinsame Initiativen und einzelne Kämpfe, in denen unsere Forderungen sich überschneiden. Das, was die U.S.I.S. am meisten von anderen Basisgewerkschaften unterscheidet, ist die Selbstverwaltung der gewerkschaftlichen Aktivitäten, die wir in den einzelnen Kliniken verwirklichen.

Am 12. März gab es einen erneuten Generalstreik der U.S.I.. Worum ging es dabei?

Die Forderungen dieses Streiks waren sehr breit gefächert, da sie viele Aspekte des Arbeitsmarktes und des Sozialwesens berühren, die von der Regierung in ein Licht der immer stärker werdenden Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt und des Abbaus der öffentlichen Krankenversorgung gerückt werden. So sind wir z.B. gegen die Rentenreform, die versucht, das Rentenalter hochzusetzen und die finanzielle Unterstützung zu kürzen und so die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu zwingt, Teile des Lohns und der Abfindungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in private Vorsorgen zu investieren, die einzig und allein als Instrumente der Finanzspekulation dienen. Das Gesundheitswesen, wo wir arbeiten, ist eines der offensichtlichsten Beispiele für die Angriffe auf die sozialen Rechte und die gewerkschaftlichen Rechte seitens der Regierung: Kürzung der Mittel, Kürzung des Personals, Externalisierung der Arbeit an Unternehmen, die NiedriglohnarbeiterInnen herumkommandieren und, nicht zuletzt, die starken Einschnitte im Streikrecht. Das ist der Kontext, in dem wir uns bewegen und gegen den wir die Arbeiterinnen und Arbeiter mit dem Streik vom12. März mobilisiert haben. Es war ein Streik auf nationaler Ebene, an dem viele Leute teilgenommen haben (auch wenn die zeitliche Nähe zum Streik der „konföderalen Gewerkschaften" die Teilnahme anderer Basisgewerkschaften verhindert hat) und den wir zusammen mit der CUB, einer anderen Basisgewerkschaft, ausgerufen haben.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel stammt aus Direkte Aktion Nr. 164 und wurde uns am 19.10.2005 zugesandt vom PRESSEVERTEILER DER FAU-BERLIN verbunden mit folgendem Veranstaltungshinweis:

GewerkschafterInnen der USI-Sanita Mailand in Berlin
Montag, 24.10., 20:00 Uhr im Lokal der FAU Berlin,
Straßburger Str. 38, Nähe U2 Senefelder Platz

Italienisch mit deutscher Übersetzung

Die Privatisierung der Krankenhäuser und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich stehen in Deutschland auf der Tagesordnung. Anlaß für uns, mal über den Tellerrand zu schauen, genauer nach Italien. Die Angriffe sind dort ähnliche, die Antworten darauf unterscheiden sich aber. Die anarchosyndikalistische Basisgewerkschaft Unione Sindacale Italiana (USI-AIT) hat mit der USI Sanità ein höchst aktives Gesundheitssyndikat.Insbesondere in den Krankenhäusern Mailands kann sie auf eine starke und kämpferische Verankerung zählen. Am 21. Oktober ruft die USI beispielsweise gemeinsam mit anderen Basisgewerkschaften zum Generalstreik gegen ein ganzes Bündel sozialer Verschlechterungen auf. Die USI-Sanita ist zudem mit dem Projekt „Flores Magon" sehr aktiv in der Solidarität mit den aufständischen Gemeinden in Chiapas. Sie hat in den letzten Jahren die konstante Entsendung von Pflegepersonal sowie medizinischen Materials garantiert. Momentan plant sie den Aufbau eines zahnmedizinischen und zahntechnischen Labors, sowie die Ausbildung von Promotores de Salud (Pflegepersonal der zapatistischen Gemeinden mit erweiterten Kapazitäten) durch medizinisches Personal der Klinik S. Paolo (Mailand). Vertreterinnen der USI-S Mailand werden von der Situation im italienischen Gesundheitswesen, den Konzepten syndikalistischer Organisierung und ihrer kämpferischen Praxis berichten.

www.ecn.org/usi-ait