Innenansichten einer Revolution
Der venezolanische Präsident Hugo Chavez sorgte in der letzten
Zeit für eine Menge Schlagzeilen. Seine Weltreise zu
verschiedenen Staatschefs, die zu den Parias der neuen
Weltordnung gehören, wie den weißrussischen Präsidenten und das
iranische Regime, wurde von den hiesigen Medien mit
Aufmerksamkeit verfolgt. Doch wenn es um die innenpolitischen
Verhältnisse in Venezuela geht, bleiben die meisten Berichte bei
ständig wiederholten Floskeln vom "linksnationalistischen oder
populistischen Chavez-Regime" stehen.
Deshalb hat der Berliner Politologe und Publizist Dario
Azzellini mit seinem aktuellen Buch "Venezuela Bolivariana,
Revolution des 21. Jahrhunderts?" eine Lücke geschlossen. Das
Buch gibt eine profunde Innenansicht der bolivarischen
Revolution. Azzellini hat in den letzten Jahren mit zwei Filmen
über Venezuela den Blick auf die soziale Bewegung des Landes
gelenkt. Im Buch setzt er diese Sichtweise konsequent fort.
Während in den hiesigen Medien Chavez zum Popanz aufgebaut wird,
der dann demaskiert werden soll, interessiert sich Azzellini für
die Protagonisten der unterschiedlichen Basisbewegungen.
Arbeiter, die ihre Fabrik besetzen und die Produktion in die
eigenen Hände nehmen, Mitglieder einer Landarbeiterkooperative,
die die jahrelang brachliegenden Latifundien von
Großgrundbesitzern besetzen und nutzen, Koordinatoren von
Indigenaorganisationen. Das ist nur eine kleine Auswahl der von
Azzellini vorgestellten sozialen Bewegungen des
lateinamerikanischen Landes.
Ausführlich widmet er sich der Medienlandschaft Venezuelas. Sie
wird überwiegend von großen Anbietern bestimmt, die aus ihrer Nähe
zur rechten Opposition kein Hehl machen. Doch in den letzten
Jahren ist ein Netz von Basismedien entstanden. So ist die
Anzahl der Freien Radios von 2002 bis 2005 von 13 auf über 200
gewachsen. Sie sind zwar alle solidarisch mit dem bolivarischem
Prozess, ohne kritiklos der Regierungspolitik zu folgen. So
könnte man auch die Position des Autors beschreiben.
So stellt er schon in der Einleitung klar: "Wenig hilfreich für
ein Verständnis der Ereignisse sind diejenigen Autorinnen und
Autoren, die stur offizielle Regierungserklärungen wiederholen
und selbst die in Venezuela innerhalb der Regierung geäußerte
Kritik unter den Tisch fallen lassen."
Azzellini gehört nicht dazu. So schildert er ausführlich, wie es
wegen der Demontage einer Kolumbus-Statue zum Konflikt zwischen
den sozialen Bewegungen und Teilen der Regierung kam. Auch
Umweltgruppen stehen wegen des Kohleabbaus teilweise im Clinch
mit Teilen des Regierungsapparates. Azzellini erwähnt auch, dass
Teile des Staatsapparates weiterhin an alten Politikmodellen
festhalten. Trotzdem ist sein Ausblick alles Andere als
pessimistisch. "Große Teile der Basis und jener institutionellen
Mitarbeitern, die auf eine radikale Transformation setzen, sind
jedoch optimistisch. Sie verweisen auf die großen
Bewusstseinssprünge sowie Lernprozesse der Basis und gehen davon
aus, dass sich die revolutionären Kräfte durchsetzen werden."
Allerdings macht Azzellini auch deutlich, dass die Gefahren für
den revolutionären Prozess groß sind. Ausführlich berichtet er
über die Exilcubaner, die sich schon seit längerem aktiv am
Kampf gegen Chavez und die Revolution beteiligen. Auch deutsche
Geheimdienste sind in diese Counterarbeit involviert. Es gibt
also genügend zu tun.
Negri in Caracas
Interessant ist das letzte Kapitel des Buches. Dort zieht
Azzellini einen Link zwischen der boliverarischen Revolution und
Antoni Negri. Der Zusammenhang ist nicht zu weit hergeholt. Mir
kam in Wien bei einer Chavez-Rede selber der Gedanke, ihn mit
Negris Theorien in Verbindung zu bringen. Als er dort immer
wieder Namen von Initiativen und AktivistInnen auf der Bühne
nannte, wurde mir klar, dass der venezolanische Präsident
tatsächlich einen neuen Politikstil pflegt. Er verkündet keine
Thesen oder er Wahrheiten, er benennt. Er gibt den bisher
stimmlosen Namen, er benennt sie, macht sie sichtbar und zum
Subjekt. So sorgte er mit seiner Politik auch dafür, dass der
Großteil der Menschen in Venezuela, die bisher vergessen wurden,
Subjekt wurden.
Solidarische Kritik
Wie man auch solidarische Kritik üben kann, zeigt die kleine
Wiener Arbeitsgruppe Marxismus (agm) mit ihrer kleinen Broschüre
"Für eine sozialistische Revolution in Venezuela". Der
triumphalistische Titel wird dem Inhalt der Broschüre
größtenteils nicht gerecht. Sie liefert einen guten historischen
Überblick über die Linke in Venezuela und
den Aufstieg des Chavismus. Sie zeigen auch auf, dass es im
aktuellen Prozess in Venezuela starke klassenkämpferische
Strömungen gibt, die auch Ansatzpunkte für eine linke
Unterstützung sein können. Wenn stellenweise auch arg
schematisch argumentiert wird, ist die Broschüre trotzdem sehr
empfehlenswert.
Peter Nowak
Editorische Anmerkungen
Dario Azzellini, Venezuela Bolivariana, Revolution des 21.
Jahrhunderts? Neuer ISP-Verlag Köln 2006, 319 Seiten, 19.80
Euro
AGM (Hg.) Für eine sozialistische Revolution in Venezuela,
Bilanz und Perspektiven des "bolivarischen Prozesses" und die
Chancen für die ArbeiterInnenklasse, AGM-Verlag, 94 Seiten,
3,50 Euro, ISSN 1028-2211
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