Marxistische Lehrbriefe
DIE GRUNDFRAGE DER PHILOSOPHIE

10/06

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Ein junger Mensch, der sich unbefangen der Philosophie nähert, kann leicht eine unangenehme Überraschung erleben. Er möchte sich erst einmal Klarheit darüber verschaffen, was ein Philosoph ist und schaut darum in ein Lexikon. Da liest er denn, daß das Wort griechischen Ursprungs sei und "Weisheitsfreund" bedeutet, "Aber", fragt sich unser junger Mann, "wer ist kein Weisheitsfreund? Ich bin doch schon ein Weisheitsfreund, wenn ich nach Wissen darüber verlange, was Philosophie ist. Also bin ich ein Philosoph, noch bevor ich einer bin! Komplizierte Sache."

Aber die Sache wird noch komplizierter, wenn unser junger Mann sich anschaut, womit sich Philosophen befassen. Mit Sonne, Mond und Sternen, mit dem Leben, dem richtigen und dem angenommenen nach dem Tode, mit der Geschichte, mit dem Staat, kurzum: mit allem, was es gibt und nicht selten auch mit Dingen, von denen es recht zweifelhaft ist, ob es sie gibt. Und unser junger Freund ruft vielleicht, sich "Fausf's erinnernd, aus: "Mir wird von alledem so dumm, als ging mir ein Mühlenrad im Kopf herum!" Er wird fragen: "Gibt es da keinen festen Punkt, von dem aus man seine Erkundungsvorstöße in das Weltreich der Philosophie unternehmen kann?"

Doch, einen solchen Punkt gibt es! Dieser Punkt ist die

Grundfrage der Philosophie.

Friedrich Engels verweist darauf, daß es ein Problem gibt, von dessen Lösung jede andere philosophische Entscheidung abhängt:

"Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein ..., des Geistes zur Natur ... Die Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? ... Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprung!ichkeit des Geiste gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen ... bildeten das Lager des Idealismus. Die anderen, die die Natur als das Ursprüngliche ansehen, gehören zu den verschiedenen Schulen des Materialismus.'1 (Friedrich Engels, "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", Berlin 1946, S. 15/17).

Mit Hilfe dieser Frage und ihrer Beantwortung kann man sich in der Philosophie zurechtfinden.

Aber unser junger Freund wendet zweifelnd ein: "Stimmen denn alle Philosophen der so formulier ten Grundfrage zu?"

Nein, das ist nicht der Fall. Von religiöser Seite erfolgt Einspruch. Was wenden die Wortführer der Theologie gegen Engels ein?

Sie sagen: wir können zugeben, daß es außerhalb des menschlichen Geistes und unabhängig von ihm eine Welt gibt, sofern nur anerkannt wird, daß diese Welt durch einen Schöpfungsakt einer außermenschlichen Geistes entstanden ist. Engels, so sagen die Theologen, ist darum zu kritisieren, weil er nur die Existenz eines menschlichen Geistes zuläßt, die Existenz eines außerweltlichen Geistes nicht erörtert.

Der Jesuitenpater Wetter sogt, es sei durchaus möglich, ein vom erkennenden Bewußtsein unabhängiges Sein der Außenwelt anzuerkennen und andererseits doch daran festzuhalten, daß "... ein überweltlicher Geist die Natur erschaffen hat." (Wetter/Leonhardt, "Sowjetideologie heute", Fischer-Bucherei, Band 460/1 S. 25). Es sei also "Bauernfängerei" (S. 40), wenn Engels so tue, als dürfe man das Sein außerhalb des menschlichen Bewußtseins, die ganze objektive Realität, mit der Natur, mit der Materie gleichsetzen. Denn wenn es außerhalb dieses menschlichen Bewußtseins noch einen Übermenschlichen, objektiven Geist gebe, so sei die objektive Realität eben nicht nur materieller Art.
Wenn es diesen Geist gäbe, hätte Wetter recht. Jedoch bestimmt ein unverrückbarer Grundsatz der Logik: nicht, wer die Existenz einer Sache bestreitet, sondern wer sie behauptet, muß sie beweisen. Friedrich Engels und alle anderen materialistischen Philosophen bestreiten die Existenz eines außerweltlichen Geistes. Die Religionen aber behaupten dessen Existenz. Also müssen deren Anhänger beweisen, daß es einen außerweltlichen Geist tatsächlich gibt. Sich dabei in "Annahmen" zu flüchten, an denen man "festhalten" könne, besagt nichts, ist kein Beweis. Denn unsere Phantasie kann alles mögliche "annehmen" und daran "festhalten". Nur existiert davon, daß ich ein Etwas annehme, dieses Etwas noch nicht wirklich. Es geht vielmehr darum, ob das Vorhandensein eines außermenschlichen objektiven Geistes bewiesen und beweisbar ist. Und dazu hat Wetter - hinsichtlich der modernen Naturwissenschaften - selbst sagen müssen. "... über die entscheidende Frage, ob es außer der Materie noch nicht-materielle Wirklichkeiten gibt, sagen sie überhaupt nichts aus." (Wetter, "Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion", Rowohlt 1957. S. 53/4).

GIBT ES EINEN AUSSERMENSCHLICHEN GEIST?

In einem anderen Buch sagt Wetter auch, warum ein solcher wissenschaftlicher Beweis eines außermenschlichen Bewußtseins nicht möglich ist: Ein solches Bewußtsein, ein solcher Geist müßte ein ewiges Wesen sein. Aber was heißt "ewig"? Jeder Versuch, das zu erklären, muß von sehr diesseitigen, weltlichen Vorgängen des Entstehens und Vergehens einzelner Dinge und Erscheinungen ausgehen. Wenn wir diese vorhanaenen Dinge und Erscheinungen unserer Welt nehmen, ihr unaufhörliches Werden und Vergehen beobachten, das in Verbindung bringen mit dem unwiderleglich bewiesenen Gesetz von der Erhaltung, das heißt Unerschaffbarkeit und Unzerstörbarkeit der Masse und Energie, so können wir wissenschaftlich begründet sogen: die Welt mit ihrem Werden und Vergehen ist ewig.

Der einzige Fall also, bei dem wir sagen können, was ewig ist, betrifft die Welt, die Natur, nicht aber einen außerweltlichen Geist.

Das ist eine peinliche Lage für die Religion. Was tun? Die Theologen sagen: "... diese göttliche Seinsweise können wir nur durch Verneinung (!) der entsprechenden geschöpflichen Seinsweise erfassen." So steht es im "Philosophischen Wörterbuch" des katholischen Herder-Verlages (1957, S. 143). Wetter erläutert das in anderem Zusammenhang so: "Göttliche Ewigkeit ist "eine überzeitliche Seinsweise .,., die mit zeitlicher Dauer und Aufeinanderfolge von Momenten, mit Entstehen und Vergehen überhaupt nichts (1) zu tun hat." (Wetter, "Sowjetideologie heute", S. 32).

Das heißt, eine Sache durch das bestimmen, was sie nicht ist. Diese negative Definition reiht die Logik unter die klassischen Denkfehler ein. Wenn ich jemandem, der noch nie einen Hund gesehen, noch nie von solch einem Wesen gehört hat, sagen soll, was ein Hund ist, wenn ich einem solchen Menschen sage: "Ein Hund ist keine Katze, kein Pferd, kein Schwein", so habe ich ihm noch nicht das mindeste darüber gesagt, was denn nun ein Hund sei. Ebenso haben uns die Theologen bis jetzt auch nur gesagt, was "göttliche Seinsweise" wie Ewigkeit nicht ist. Wetter sogt sogar, daß Gott nicht nur das zeitliche, sondern auch das räumliche Nichts ist. Er ist ein "Brennpunkt", der zwar ... einfach und unausgedehnt (S), der aber nicht etwas Leeres und Seinsarmes darstellt." (ebenda, S. 68).

Nun, wie etwas, das weder im Raum noch in der Zeit ist, existieren soll und etwas, das keine Ausdehnung hat, dennoch nichts Leeres sein soll, obgleich über so ein Etwas nur gesagt werden kann, was es alles nicht ist, das zu begreifen ist nicht eine Sache des Wissens, des logischen Denkens, des wissenschaftlichen Beweises, sondern eine reine Glaubensfrage. Gott, überhaupt ein außerwel H icher Geist, ist durch Wissenschaft, Vernunft, Logik unbeweisbar!

Übrigens hat bereits Holbach, einer der großen Denker, die in der Vorbereitungszeit der Grossen Französischen Revolution von 1789 das Volk aufklarten, die Theologen wegen solcher Sophismen kritisiert.

Er schrieb, daß "das zur Natur hinzugefügte höhere Wesen undenkbar :?t und unseren allgemeinen Begriffen widerspricht ... Können wir denn an die Existenz eines Wesens glauben, über das wir nichts aussagen können und das nur einen Haufen von Verneinungen alles dessen darstellt, was wir wissen?" (Holbach, "System der Natur", Bd. II, S. 219).

Für dos wissenschaftliche Denken folgt aus den theologischen Erörterungen nur, daß Gott oder der außerweltliche Geist das raum-zeitliche Nichts ist. Und die Existenz dessen, was weder im Raum, noch in der Zeit existiert, kann nun tarsächlich nicht bewiesen werden. Wetter meint denn auch nur noch: "es bedarf ... eines solchen 'Brennpunktes'" (S. 68). Wer'bedarf" eines solchen "Brennpunktes"? Die Theologen meinen, die religiösen Menschen bedürften eines solchen außermenschlichen, außerweltlichen Geistes und Gottes. Aber dessen Existenz ist naturgeschichtlich und logisch, also wissenschaftlich nicht zu beweisen.

DIE ENTSTEHUNG RELIGIÖSER VORSTELLUNGEN

Aber etwas anderes ist sehr wohl zu beweisen, nämlich: Wie die religiösen Vorstellungen in den Köpfen der Menschen entstanden. Wo haben wir die Wurzeln dieser Ideen von einem außermenschlichen Geist zu suchen? Darüber schreibt Engels:

"Seit der sehr frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher Unwissenheit über ihren eig» en Körperbau und angeregt durch Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamef ihr Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer beso teren, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Tode verlassenden Seele - seit dieser Zeit mußten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußeren Welt sich Gedanken machen. Wenn sie im Tod sich vom Körper trennte, fortlebte, so lag kein Anlaß vor, ihr noch einen besonderen Tod anzudichten; so entstand die Vorstellung von ihrer Unsterblichkeit ... Auf ganz ähnlichem Weg entstanden, durch Personifikation der Naturmächte, die ersten Götter, die in der weiteren Ausbildung der Religionen eine mehr und mehr außerweltliche Gestalt annahmen, bis endlich durch einen im Verlauf der geistigen Entwicklung sich naturgemäß einstellenden Abstraktions; ich möchte fast sagen Destillationsprozeß - ... die Vorstellung von dem einen ausschließenden Gott ... entstand." (S. 16).

Das alles steht in dem Text, in dem Engels die philosophische Grundfrage definiert. Es steht genau an der Stelle, wo wir im Zitat unsere ersten Auslassungspunkte gemacht haben. Und an einer anderen Stelle (die wir auch im obigen Zitat ausgelassen haben, um den Kerngedanken besser hervorzuheben) sagt Engels, diese Grundfrage "spitzt sich, der Kirche gegenüber, dahin zu: hat Gott die Welt geschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da?" (Friedrich Engels, "Ludwig Feuerbach...", S. 16)

Natürlich hat Wetter das alles bei Friedrich Engels gelesen. Aber es schien ihm wohl ratsam, auf die Untersuchungen über den historischen Ursprung der religiösen Vorstellungen nicht einzugehen. Noch etwas anderes zu verschweigen, schien Wetter auch ratsam: daß nämlich Engels im ersten Teil seiner Schrift die Auseinandersetzung mit dem großen deutschen Philosophen Hegel (1770-1831) führt und ihn wegen seiner idealistischen Grundansicht kritisiert, die Natur verdanke ihre Existenz einem außerweltlichen Geist. Der Marxismus ist unter anderem aus der Kritik dieser An-

sichten entstanden, die die religiöse Grundannahme von der göttlichen Erschaffung der Welt nur in die Sprache der Philosophie Übersetzte.

Untersuchungen über den historischen Ursprung religiöser Vorstellungen sind schon alt. Aber sie erreichten kurz vor der Entstehung des Marxismus einen bedeutsamen Höhepunkt.

BEISPIELE VORMARXISTISCHER RELIGIONSKRITIK

Schon bei den altgriechischen Philosophen gab es bedeutende Bemerkungen zu dieser Frage. Herokl i t (etwa 530 - 470 v.u.Z.), einer der geistigen Väter der dialektischen Entwicklungslehre schrieb einst:  "Die Welt, ein und dieselbe aus allem hat keiner der Götter gemacht, sondern sie war und ist und wird sein ewigbleibendes Feuer ..."

Ungefähr zur gleichen Zeit wies sein Landsmann Xenophanes (etwa 565 - 473 v.u.Z.) auf die Tatsache hin, daß sich die Menschen ihre Götter nach dem eigenen Ebenbild schaffen, worauf er fortfuhr.

"Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten, und malen könnten mit ihren Hunden und Werke bilden wie die Menschen, dann wurden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenöhnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben." (Diels, Fragmente der Vorsokratiker, BIS).

Der Gott der Löwen wäre eben nur ein besonders mächtiger, gewaltiger Löwe, ein besonders großer und geschickter Räuber!

Einige Jahrhunderte später beschrieb der große materialistische Philosoph und Dichter, Lucretius Carus (er lebte von 98-55 v.u.Z. in Rom), wie sich beim Menschen die Gottesvorstellung herausbildet:

"Nichts kann je aus dem Nichts entstehen durch göttliche Schöpfung. Denn nur darum beherrschet die Furcht die Sterblichen alle, Weil sie am Himmel und hier auf Erden gar vieles geschehen Sehen, von dem sie den Grund durchaus nicht zu fassen vermögen.

Darum schreiben sie solches Geschehn wohl der göttlichen Macht zu." (Lucretiu» Carus, "Von der Natur der Dinge", Berlin 1957, S. 33).

Die Religionskritik entwickelte sich weiter und blühte selbst während des Mittelalters, als die Kirche fast uneingeschränkte Macht ausübte und zahllose Kritiker als "Ketzer" verbrennen ließ. Der Kampf gegen den religiösen Aberglauben erreichte jedoch erst wieder in der Periode vor der bürgerlichen Revolutionen in den verschiedenen Ländern Europas einen neuen Höhepunkt. Das hing damit zusammen, daß die Religion und die Kirche dem Feudalismus die geistigen Werkzeuge zur Unterdrückung lieferte. "Die Religion ist die Kunst, die Menschen mit Schwärmerei zu betäuben", schrieb damals Holbach, "um sie daran zu hindern, sich mit jenen Übeln zu befassen, mit denen sie in dieser Welt von denen überladen werden, die sie regieren." (Holbach, "Le christianisme devoile", London 1767, S. 233).

Die Denker, die Partei für das Bürgertum und die bürgerliche Revolution ergriffen: die Aufklärer, die englischen und französischen Materialisten, sahen sehr genau, daß der Kampf gegen den Feudalismus verknüpft werden mußte mit dem Kampf gegen Kirche und Religion. Darum kam es in dieser Zeit zu einer neuen Blüte der Religionskritik.

Den höchsten Stand erreichte sie unmittelbar vor dem Auftreten von Marx und Engels im Werk des großen deutschen materialistischen Philosophen Ludwig Feuerbach (1804 - 1872). Feuerbach lehrte: der Mensch ist eine Einheit von Körper und Geist. Die Gottesidee entstand, indem diese Einheit zerrissen, der Geist verselbständigt und danach zum höchsten Wesen erhoben wurde. All« wichtigen Eigenschaften, die der Mensch als endliche Kraft besitzt, wurden durch einfache Verneinung der Endlichkeit zu unendlichen, göttlichen Eigenschaften.

"Das göttliche Wesen ist nichts anderes als das menschliche Wesen ... alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens." (Feuerbach, "Das Wesen des Christentums", Leipzig 1909, S. 9).

Gott ist die verselbständigte und verhimmelte Form des Menschengeistes. Feuerbach sagt: die Menschen bilden sich Gott nicht infolge einer Notwendigkeit ihres Denkens, Formen des Aberglaubens zu erzeugen. Andererseits verdankt die Religion ihre Entstehung auch nicht dem Zufall. Vielmehr widerspiegelt sich in der Religion, in der Gottesidee die Ohnmacht des Menschen in der ihn umgebenden Welt, welche Ohnmacht der Mensch durch seine Überhöhung zu Gott zu "Überwinden" sucht.

DIE WURZELN DER RELIGION

Marx und Engels fußten auf der vorangegangenen Religions- und Idealismuskritik und entwickelte: sie weiter. Sie legten dar, daß es nicht nur die mangelnde Kenntnis der Naturzusammenhänge, die daraus entspringende Furcht vor der Natur, die mangelnde Kenntnis des modernen wissenschaftlichen Weltbildes ist, die die religiösen Vorstellungen entstehen lassen oder am Leben erhalten. Es sind weit mehr noch die Verhältnisse der Klassengesellschaft, das heißt heute des Kapitalismus. Das soziale Elend, gesellschaftliche Katastrophen, Krieg und Ausbeutung als scheinbar schicksalhaft gegebene Grundplagen, denen der Mensch nicht zu leibe rücken kann, lassen eine Anfälligkeit für die Religion entstehen. Unter solchen Verhältnissen fällt es den Ausgebeuteten und Unterdruckten schwer, die Ursachen des von Menschen den Menschen zugefügten Übels z durchschauen und Wege zu erkennen, dieses Übel zu bekämpfen. Die herrschenden Ausbeuter und Unterdrücker sind ihrerseits daran interessiert, diesen Mechanismus weiter wirken zu lassen. Sie wissen, wie gut sich Glaube an jenseitiges Geistiges, sei es nun Gott oder eine ewige absolute Idee, dazu mißbrauchen läßt, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse mit der Weihe göttlicher Schöpfung und Ordnung zu rechtfertigen, das Befreiungsverlangen des Volkes in eine jenseitige Erlösungserwartung umzufälschen. So wirkten die verschiedensten Bedingungen dahin, daß der Glaube an einen außermenschlichen Geist tiefe geistige und gesellschaftliche Wurzeln erhielt und daß er weiterwirkt.

Der Marxismus führt also, in Übereinstimmung mit der Wissenschaft, den außermenschlichen und außerweltlichen Geist der Religion auf den Menschengeist zurück. Er geht von der Erkenntnis aus, daß die Wissenschaft keine Existenzbeweise eines außerweltlichen Geistes erbringt. Geist, Bewußtsein existieren nur in Abhängigkeit von einem materiellen Organ, als Eigenschaft dieses materiellen Organs, nämlich des menschlichen Gehirns. Darum setzt der Marxismus den Geist "an sich" mit dem Menschengeist gleich, bestimmt er das Sein außerhalb dieses Geistes als Natur, Materie. Der Marxismus zeigt schließlich auch die gesellschaftlichen Wurzeln fUr das Entstehen und die Verfestigung der trügerischen Idee vom Vorhandensein eines außermenschlichen, außer-weltlichen, die Welt erst hervorbringenden Geistes oder Gottes.

IST DER MATERIALISMUS EINE NIEDRIGE GESINNUNG?

Unser junger Freund unterbricht uns mit der Bemerkung: "Ich wollte schon längst etwas geklärt wissen. Wenn ich richtig verstehe, bekennt sich der Marxismus zum Materialismus und sagt, den Materialismus anzuerkennen heiße lediglich, daß die Natur das Ursprüngliche ist und der Geist aus ihr hervorgeht? Nun hört man aber überall, Idealismus sei das Bekenntnis zu idealen Zielen, zu Wahrheit und Recht, während Materialismus Habsucht, Gier nach irdischen Genüssen usw. bedeutet?"

Allerdings: der Marxismus ist eine materialistische Philosophie. Aber das hat nichts mit dem Zerf bild zu tun, das seine Gegner bestrebt sind, von dieser Weltauffassung zu zeichnen.

Die großen materialistischen Philosophen der Vergangenheit wurden oft von der Kirche und den anderen herrschenden Möchten verfolgt. Die Materialisten Denis Diderot in Frankreich oder Ludwig Feuerbach in Deutschland gehörten zu den geistig und moralisch höchststehenden Menschen ihrer Zeit. Die Marxisten, Anhänger des philosophischen Materialismus, gingen zu Tausenden für ihr sozialistisches Ziel in den Tod. Schon das widerlegt die landläufige Verleumdung, der philosophische Materialismus sei gleichbedeutend mit einer moralisch minderwertigen, nur auf leibliche Genüsse bedachten Lebensauffassung. Diese Verleumdung ist ein böswilliges Mittel der reaktionären Kräfte, die Menschen vom Studium der wissenschaftlichen materialistischen Philosophie abzuschrecken. Friedrich Engels schrieb in seinem Büchlein über Feuerbach solchen Verleumdern ins Stammbuch:

"Der Philister versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen. Geldgier, Geiz, Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz all die schmierigen Laster, denen er selbst im Stillen frönt; und unter Idealismus den Glauben an Tugend, allgemeine Menschenliebe und überhaupt eine 'bessere Welt´, womit er vor anderen renomiert, woran er selbst aber höchstens glaubt, solange er den auf seine gewohnheitsmäßigen 'materialistischen* Exzesse notwendig folgenden Katzenjammer oder Bankroti durchzumachen pfjegt und dazu sein Lieblingslied singt: Was ist der Mensch - halb Tier, halb Engel" (S. 26).

Der philosophische Materialismus oder Idealismus haben unmittelbar nichts mit den moralischethischen Auffassungen oder gar Haltungen ihrer Anhänger zu tun. Aber es ist eine unbestreitbare geschichtliche Tatsache, daß die großen Eigentümer materieller Güter sowohl im Feudalismus als auch im Kapitalismus in ihrer Philosophie fast immer religiöse, idealistische Auffassungen vertraten und heute noch vertreten, daß sie dem Volke gern die Religion erhalten sehen wollen, daß sie zwar den Massen das Streben nach idealen Gütern predigten, selbst aber keineswegs bereit sind, auf ihre materiellen Reichtümer und Privilegien zu verzichten. Andererseits hat keine moderne gesellschaftliche Kraft so viele Beispiele heldenhaften und selbstlosen Kampfes für hohe menschliche Ideale hervorgebracht wie die moderne marxistische Arbeiterbewegung.

KÖNNEN WIR DIE WELT ERKENNEN?

Friedrich Engels hat nun gesagt, daß die philosophische Grundfrage noch eine zweite Seite hat, die Frage nämlich: "Wie verhalten sich unsere Gedanken Über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unseren Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen?" (ebenda, S. 17).

Aber das möchte unser junger Freund nicht anerkennen. Er sieht keinen inneren Zusammenhang zwischen der Beantwortung der Frage, was ursprünglich ist, die Natur oder der Geist, und der Frage, ob unser Bewußtsein das Sein richtig abbilden könne.

Um diese Frage verständlich zu beantworten, sei kurz auf die zwei Richtungen im Idealismus hingewiesen, den subjektiven und den objektiven Idealismus. Unter dem subjektiven Idealismus versteht man alle idealistischen Schulen, die in der einen oder anderen Weise das Bewußtsein des Menschen, zumeist: der ganzen menschlichen Gattung, zum "Schöpfer" des außermenschlichen Seins erheben. Der objektive Idealismus nimmt dagegen einen außerweltlichen Geist als Weltschöpfer an. Die großen Religionen sind also Spielarten des objektiven Idealismus.

Der subjektive Idealismus kommt uns sicher wie eine verrückte Idee vor! Wie kann ein Mensch, der bei normalem Verstand ist, die Welt als seinen Willen, seine Vorstellung, sein Denken ausgeben? Um zu verstehen, wie dennoch eine so seltsam anmutende Philosophie Zustandekommen kann, wollen wir hier - in Form eines Streitgesprächs zwischen einem Materialisten und einem subjektiven Idealisten - die Standpunkte herausarbeiten:

Der Materialist; Ich sehe einen Baum. Wie kann man eine so offenkundige Sache anzweifeln?

Der Idealist; Sie täuschen sich. In Wahrheit haben Sie es mit einem BUndel von Wahrnehmungen über Farbe, Formen usw. zu tun. Sie behaupten nur, diesen Wahrnehmungen entspreche ein "Baum".

Der Materialist: Aber woher stammen meine Wahrnehmungen? Wenn es keinen Baum gäbe, könnte ich ihn nicht wahrnehmen!

Der Idealist: Zugegeben, daß Sie Wahrnehmungen haben. Aber wie wollen Sie prüfen, was denen entspricht? Das geht immer nur über Wahrnehmungen! Darum ist es unmöglich, wirklich einwandfrei zu sagen, was unseren Empfindungen und Wahrnehmungen entspricht. Das überschreitet die Grenzen unserer Erfahrungen. Das einzige, was ich sicher habe, sind meine Vorstellungen, Empfindungen usw. Darum kann ich mit Sicherheit nur sagen: was Sie für die Welt halten, sind nur meine Vorstellungen. Die Welt, das ist meine Vorstellung!

Der Materialist; Sie sagen also, man könne über die Dinge selbst nichts wissen. Wir müßten nur etwas über unsere Empfindungen. Wie wollen Sie denn überhaupt die Existenz von etwas zulassen, das sich außerhalb Ihrer Empfindungen befindet?

Der Idealist: Streng genommen darf man das tatsächlich nicht!

Der Materialist: Aber Sie streiten mit mir, der ich doch außerhalb Ihrer Empfindung vorhanden bin. Ziemlich unlogisch, nicht wahr ...?

Soweit unser erfundenes Streitgespräch. Es sollte einerseits zeigen, auf welchen gedanklichen Wegen der subjektive Idealismus entstehen kann, andererseits, daß ihm von der Wurzel her notwendig eine Beschneidung, wenn nicht gar Leugnung der Erkennbarkeit der Welt eigen ist. Übrigens hat Engels auch das Notwendige zur Widerlegung dieser Auffassung gesagt: "Die schlagendste Widerlegung dieser, wie aller anderen philosophischen Schrullen, ist die Praxis .. Wenn wir die Richtigkeit unserer Auffassung eines Naturvorgangesbeweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus unseren Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unseren Zwecken dienstbar werden lassen", so ist es mit dem Gerede von der Unmöglichkeit unseres Denkens, die Welt außerhalb unseres Kopfes zu erkennen, vorbei. ("Ludwig Feuerbach ...", S. 18).

"Das leuchtet mir ein, daß die subjektiven Idealisten unsere Erkenntnisfähigkeit beschneiden oder ganz leugnen", sagt unser junger Freund, "aber warum sollte jemand, der an die Erschaffung der Welt und seiner selbst durch Gott glaubt, die Erkennbarkeit der Welt bestreiten? Könnte der nicht sagen: beide sind wir insofern gleich, als Gott uns schuf - oder: mein Geist ist eine Art 'Ebenbild´ des göttlichen Geistes - es besteht darum keine unlösbare Schwierigkeit für die Erkenntnis der Welt?"

Nun, auch die verschiedenen Schulen des objektiven Idealismus setzen am Ende irgendeine Verbotstafel für unsere Erkenntnis. Für sie ist doch die Welt das Erzeugnis eines außerweltlichen und ursprünglichen Geistes.

Was heißt das hinsichtlich unserer Erkenntnis der Welt? Die Natur, ihre Gesetze, Raum, Zeit und Bewegung sind doch dann von diesem ursprünglichen und außerweltlichen Geist geschaffen. Eine Sache kenne ich jedoch erst dann wirklich richtig, wenn ich auch ihren Ursprung genau kenne. Also sind für die Anhänger des objektiven Idealismus die Natur, ihre Gesetze, Raum, Zeit und Bewegung erst dann wirklich erkannt, wenn dieser außerweltliche Geist richtig erkannt ist. Bedingung wirklicher Welterkenntnis ist hier also wirkliche Gotteserkenntnis. Wir haben aber bereits dargelegt, daß es eine solche Erkenntnis grundsätzlich nicht gibt und nicht geben kann. So sehr Theologen oder andere Idealisten bei den mehr vordergründigen Diskussionen Über die Existenz und Erkennbarkeit der Dinge außerhalb unseres Bewußtseins so tun, als gäbe es da keine Probleme, desto verschwommener wird alles, je mehr wir uns der Erörterung der Grundfragen nähern. Da ist dann der Geist, die angebliche Ursache von allem, was es gibt, unerkennbar. Wie ein rein Geistiges die Natur aus dem Nichts erschaffen, ein unbewegter Geist dieser Natur in Bewegung setzen konnte usw. usf. auf alles das gibt es keine andere Antwort als den Appell an den Wunderglauben oder an eine noch vertracktere "Erklärung". Also ist auch der objektive Idealismus letztlich keine Philosophie zur Begründung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.

Ganz anders stellt sich die Frage für den Materialismus. Das Bewußtsein ist das Produkt eines materiellen Organs, das sich in Jahrmillionen der Entwicklung des Lebens auf der Erde herausgebildet hat. Es ist "nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." (K, Marx, "Das Kapital", Nachwort zur 2. Auflage des ersten Bandes, Berlin 1947, S. 18). Es ist entstanden im Ergebnis der Höherentwicklung des Lebens, als Hebel dieser Weiterentwicklung. Aber es kann ein solcher Hebel nur sein, weil es tatsächlich dem Menschen ein Abbild des Seins bietet, ihm die Orientierung in seiner Umwelt ermöglicht. Für den Materialismus stellt die Erkenntnisfähigkeit des Menschen also kein unlösbares Problem dar. Die Natur ist diesseitig und der Geist ihr Produkt, ihre Eigenschaft. Das heißt natürlich nicht, daß für die Materialisten die menschliche Erkenntnis ein einfacher glatter Vorgang ist, ohne Schwierigkeiten und Klippen.

Es besteht also ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der materialistischen Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewußtsein und der Bejahung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen.

WARUM IST DAS VERHÄLTNIS VON SEIN UND GEIST DIE GRUNDFRAGE DER PHILOSOPHIE?

Aus der Annahme der Idealisten, daß die Welt nicht ursprünglich, nicht aus sich selbst heraus, nicht nach eigenen Gesetzen existiert, daß sie vielmehr eines Schöpfergottes bedurfte und bedarf, folgt notwendig eine Durchbrechung der Naturgesetzlichkeit. Schon die Schöpfung der Welt durch den außerweltlichen Geist aus dem Nichts wäre ein Wunder, ein Verstoß gegen grundlegende Naturgesetze. Wenn jedoch im Ursprung der Welt schon das Wunder, die Durchbrechung der Naturgesetzlichkeit steckte, so wäre das erst recht in der Welt selbst der Fall. Es ist keine Marotte, sondern eine innere Notwendigkeit, daß in der Religion immer wieder das Wunder auftritt: daß Jesus von den Toten aufersteht, selbst Tote zum Leben erweckt, zu Fuß über einen stürmischen See geht, mit wenigen Broten Tausende Hungriger speist usw. usf.

Aber wie soll in einer Welt, in der die Naturgesetze immer wieder durch Rätselhaftes und Wunderbares aufgehoben werden, Wissenschaft und Technik möglich sein? Nehmen wir ein Beispiel: Wir können Häuser nur darum bauen, weil die Erde die Körper ihrer Umgebung anzieht. Das verleiht den Körpern Schwere, bewirkt, daß sie - im freien Fall - auf dem kürzesten Wege der Erdoberfläche zustreben. Die Baumeister berücksichtigen das, wenn sie (unter Zuhilfenahme von Wasserwaage und Lot) Steine zu Häusern zusammenfügen. Wenn nun dieses Naturgesetz der Erdanziehung durch Wunder durchbrochen wUrde und Steine durch solche Wunder statt geradenwegs zur Erdoberfläche auf Umwegen zur Erdoberfläche oder nach der Seite oder gar nach oben "strebten", so könnte kein Baumeister aus so chaotisch sich verhaltendem Material Häuser bauen. Milliardenfache Praxis der Menschen bestätigt jedoch das Naturgesetz, widerlegt den Wunderglauben.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel. Der Mensch kann nur fliegen, weil es unumstößliche Naturgesetze gibt. Er kann nur fliegen, sofern er die infrage kommenden Naturgesetze kennt und sie in seinem Handeln beachtet. Wenn es anders wäre, wäre jeder Versuch, ein "Flugzeug" zu bauen und zu fliegen eine höchst abenteuerliche, verrückte Sache. Aber der Mensch hat durch die Arbeit und Erkenntnis von Tausenden Generationen diese Gesetze erforscht und weiß um ihre Allgemeingültigkeit. Er vertraut fest auf Wissenschaft und Technik. Er weiß, daß auch beim Fliegen Unfälle vorkommen. Er weiß, auf wieviel tausend oder zehntausend Flüge ein Unfall kommt. Die Häufigkeit solcher Unfälle läßt sich sogar statistisch genau feststellen. Aber er untersucht und findet die Infal l Ursachen. Sie liegen in Materialfehlern, in Verstößen gegen die Naturgesetze aus menschlicher Unzulänglichkeit oder ungenügendem Wissen. Sie liegen jedoch nicht an Durchbrechungen von Naturgesetzen durch göttliche Wunder. Übrigens hat einer der großen Aufklärer, Diderot (1713 - 1784), bereits richtig festgestellt, daß menschliches Leben überhaupt nur möglich ist, wenn es in der Natur gesetzmäßig zugeht, daß das "Wunder" dieses Leben also unmöglich macht.

"Ich glaube", schrieb er im "Brief über die Blinden zum Gebrauch derer, die sehen", "daß, wenn in der Natur alles nicht gemäß unendlichen, allgemeinen Gesetzen geschehen würde, wenn beispielsweise der Stich gewisser fester Körper schmerzhaft, der Stich anderer Körper aber angenehm wäre, wir sterben würden, ohne auch nur ein Hundertmillionstel der Erfahrungen gesammelt zu haben, die für die Erhaltung unseres Körpers und für unser Wohlergehen notwendig sind." (Denis Diderot, Euvres completes, Bd. l, Paris 1875, S. 320)

Oder nehmen wir die subjektiv-idealistische Leugnung der Existenz oder doch wenigstens der Erkennbarkeit einer raum-zeitlichen Welt mit eigenen Daseins- und Bewegungsgesetzen außerhalb unseres Bewußtseins, Wenn der subjektive Idealist seine Philosophie ernst nähme, könnte er praktisch gar nicht leben. Was er ißt und trinkt, existiert nicht nur in seinem Bewußtsein. Das Honorar, das er für seine Artikel bekommt, ist eine recht handfeste Sache, die er vorher in die Gestaltung seines Lebens einbezieht. Er gibt zwar vor, es sei an unserer Existenz zu zweifeln, er anerkennt nur die eigene Existenz - aber er streitet mit uns darüber, welche Philosophie die richtige sei und gesteht damit ungewollt ein, daß wir eben doch real existieren. Es handelt sich also nicht nur um eine falsche sondern auch um eine sehr inkonsequente Weltanschauung.

Fassen wir dies zusammen.

Für den Idealisten ist die Welt nur Geist oder Abbild des Geistes. Für den subjektiven Idealisten stellt sich das Problem der Erkennbarkeit der Welt nicht, denn für ihn ist diese äußere Welt nicht vorhanden. Oder sie ist eine Art Schöpfung unseres Geistes. Dem objektiven Idealisten ist die Welt bestenfalls in bestimmten Grenzen erkennbar, denn den außerweltlichen Geist, diesen "Urgrund" der Dinge und Erscheinungen der Welt, kann der Mensch nicht erkennen. Wenn aber der Mensch dieWelt nicht oder nur mangelhaft erkennen kann, dann kann er auch in diese Welt, und ihre Vorgänge nicht oder nur mit sehr begrenztem Erfolg eingreifen. Diesem Idealisten ist nicht die natürliche und gesellschaftliche Welt des Menschen - mit ihren Prozessen - entscheidend, sondern die geistige Entwicklung. Darum ist der Idealist der Ansicht, die Lebensregeln, die Regeln der zwischenmenschlichen Beziehungen seien nicht aus dem Sein, sondern aus dem Geist geboren.

Wenn ich jedoch die Grundfrage der Philosophie materialistisch beantworte, so befreie ich mich vom Glauben, vom Aberglauben an Wunder, an solche Zutaten zur Welt wie Gott, Engel, Teufel, Heinzelmännchen und andere Ausgeburten unserer Phantasie. Der Materialist bejaht, daß außerhalb seines Geistes und unabhängig von ihm eine Welt, die Natur und Gesellschaft, existiert. Er bejaht die Frage, ob diese Welt erkennbar ist. Gestütztauf diese Erkenntnis verändert er Natur und Gesellschaft. Der marxistische Materialist weiß, daß die menschlichen Lebensregeln zwar unmittelbar unseren Köpfen entspringen. Aber er weiß, daß sie ihre Wurzeln in der uns umgebenden natürlichen und - vor allem - gesellschaftlichen Umwelt haben (siehe hierzu den Lehrbrief E l "Geschichte, Zufall oder Gesetz?).

Die Beantwortung der genannten philosophischen Frage betrifft also unser ganzes praktisches und theoretisches Verhalten und Handeln gegenüber der Welt im einzelnen und als ganzes, unsere Lebensregeln, unsere Erwartungen und Hoffnungen. Darum ist die Frage des Verhältnisses von Natur und Geist die Grundfrage der Philosophie.

WELCHE ALLGEMEINSTEN FESTSTELLUNGEN TRIFFT DIE MATERIALISTISCHE PHILOSOPHIE ÜBER DAS SEIN?

Wir haben dargelegt, daß es ein Sein, eine Welt außerhalb des menschlichen Bewußtseins und unabhängig von ihm gibt. Ein außermenschlicher, außerweltlicher Geist, der dieses Sein geschaffen haben könnte, ist kein Gegenstand ernsthaften, wissenschaftlichen Denkens, sondern höchstens des Glaubens und Aberglaubens,. Er ist der zunächst verselbständigte und dann verhimmelte menschliche Geist, sonst nichts. Es gibt nur das eine Sein, die eine Welt, zu der der Mensch mit seinem Geist gehört. Es gibt nicht zwei Welten, eine diesseitige und eine jenseitige. Diese jenseitige Welt ist, wie gesagt, nur die Welt des verhimmelten Menschengeistes. Die Welt ist ein einheitliches, "diesseitiges" Ganzes. "Diese wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität und diese ist bewiesen nicht durch ein paar Taschenspielertricks, sondern durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaft." sagt Engels. (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", kürzer geannt: "Anti-Dühring", Berlin 1952, S. 51).

Das außerhalb und unabhängig von unserem Bewußtsein vorhandene Sein besteht aus sich selbst heraus. Allgemeingültigen Naturgesetzen zufolge ist es unerschaffen und unzerstörbar, also nicht aus dem Nichts entstanden und auch nicht in nichts vergehend. Dieses Sein, diese Welt ist die objektive Realität, die Materie, die sich in unserem Bewußtsein abspiegelt, die wir erkennen können. Diese objektive Realität, die Materie, besteht aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Dingen, Erscheinungen und Verhältnissen oder Beziehungen zwischen ihnen. Die Materie umfaßt dabei nicht nur stoffliche Dinge, sondern auch Strahlungen, wie das Licht, das elektromagnetische Feld, kurz: zur Materie gehört alles, was außerhalb und unabhängig von unserem Bewußtsein existiert. Die Materie darf nicht mit einer einzigen besonderen Eigenschaft dieser objektiven Realität, gleichgesetzt werden, denn das Ganze ist mehr, als seine Teile. Ebensowenig, wie man zum Beispiel sagen darf "Obst", das sind alle Äpfel - und dabei einfach alles andere Obst ausläßt - ebensowenig darf man sagen, die Materie, das ist der Stoff. Denn nur die aus Atomen und deren Bausteinen bestehenden Teile der Materie bilden das, was wir "Stoff" nennen. In der Natur, in der Materie gibt es jedoch auch Realitäten - wie zum Beispiel das elektro-magnetische Feld - das nicht aus solchem "Stoff" besteht.

Wenn wir die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge, Erscheinungen und Beziehungen der Materie betrachten, so sehen wir, daß sie alle - von den kleinsten Elementarteilchen bis zu den riesigen Sonnensystemen und Milchstraßen im Weltraum, vom toter. Stein bis zum höchstentwickelten Lebewesen, dem Menschen, ihre Geschichte haben, entstehen und vergehen. Da gibt es nichts, das nicht nicht in irgendeiner Weise bewegte, veränderte. In den Lebewesen findet ein ständiger Stoffwechsel statt. Sie reagieren auf die Einwirkungen ihrer Umwelt. In unserem Planetensystem sehen wir überall Bewegung des Mondes um die Erde, der Erde um die Sonne, dieser im System unserer Milchstraße. Die Atome, aus denen alle Körper bestehen, bewegen sich unaufhörlich. Dabei ist die Bewegung den Dingen nicht äußerlich, ist sie nicht etwas, was man von ihnen abtrennen könnte, ohne daß sie dabei "Schaden" erlitten. Nur vermöge das Stoffwechsels findet ' Leben statt. Wenn die Bewegung in den Atomen aufhörte, würden die Atome nicht mehr mit ihren besonderen Eigenschaften bestehen. Es gibt also keine Materie ohne Bewegung. Die Materie ist von der Bewegung nicht zu trennen. Aber die Bewegung auch nicht von der Materie! Wenn es keine Materie gäbe, könnte sich auch nichts bewegen. Materie und Bewegung bilden eine unauflösliche Einheit. Die Bewegung ist, wie Engels im "Antidührung" (S. 70) feststellte, die Daseinsweise der Materie.

Aber es kann keine Materie mit ihrer Bewegung ohne Ausdehnung der Dinge, ohne den Raum und die Dauer der Bewegung, kurz: ohne Raum und Zeit geben. Jede Bewegung schließt Oetsveränderungen ein. Deshalb ist der Raum eine Grundbedingung der materiellen Bewegung. Er ist eine Grundbedingung der materiellen Bewegung. Er ist eine reale Daseinsform der Materie. Ebenso vollzieht sich die Bewegung in aufeinander folgenden Etappen, ist sie an die Grundbedingung der Zeit als einer weiteren realen Daseinsform der Materie gebunden. Kein einziges reales Ding kann nur im Raum existieren und nicht in der Zeit oder nur in der Zeit und nicht im Raum. Raum und Zelt sind untrennbar mit jedem realen Ding und seiner Bewegung verbunden.

"In der Welt existiert nichts als die sich bewegende Materie", schreibt Lenin, "Und die sich bewegende Materie kann sich nicht anders bewegen als im Raum und in der Zeit." (Lenin, "Materialismus und Empiriokritisismus". In: Werke, Bd. 14, S. 171)

Damit haben wir knapp die allgemeinsten Aussagen der marxistischen materialistischen Philosophie über die Materie wiedergegeben. Diese Aussagen stimmen mit den Tatsachen überein, wie sie von den Naturwissenschaften zutage gefördert worden sind.

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Über einige der hier berührten Fragen werden andere Lehrbriefe erscheinen. Wer sich jedoch genauer mit der marxistischen Auffassung der Grundfrage der Philosophie befassen will, dem empfehlen wir das Studium folgender Arbeiten:

Editorische Anmerkungen

Marxistische Lehrbriefe, Serie E. Das moderne Weltbild, Nr. 2, Frankfurt a. M.  1968; Herausgeber: August-Bebel-Gesellschaft e. V.

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