MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE

10/06

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onlinezeitung

VORWORT

Lothar Kuhlmann

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Diskussionen über materialistische Dialektik stoßen immer wieder auf zwei Schwierigkeiten: Entweder wird (nach einiger Zeit) die Frage aufgeworfen, was das denn eigentlich sei, materialistische Dialektik, oder aber da, wo ein gewisser Informationsstand bereits vorhanden ist, kommt es auch bei nur wenigen Beteiligten schon binnen kurzer Zeit zu heftigen Kontroversen, die häufig darauf zurückzuführen sind, daß der Inhalt des Begriffs materialistische Dialektik jeweils unterschiedlich - ja sich ausschließend - bestimmt wird.

Die in dem vorliegenden Band enthaltenen Beiträge möchten in beide Richtungen klärend wirken. Zunächst wollen sie antworten auf die Frage nach dem Inhalt des Begriffs materialistische Dialektik und zwar ohne weitgehende Voraussetzungen zu machen. Die Präsentation mehrerer verschiedener „Modelle materialistischer Dialektik" als Antwort kann aber auch - so glauben zumindest die Verfasser - zur Klärung der erwähnten Kontroversen insofern beitragen, als dadurch die unterschiedlichen Bestimmungen materialistischer Dialektik herausgearbeitet und so deutlicher gemacht werden. Die Annahme, daß durch eine solche Explikation der unterschiedlichen Modelle die aktuelle Dialektik-Debatte zunächst an Transparenz gewinnen könnte, darüber hinaus aber sowohl erweitert als auch punktue!! vertieft und somit vorangetrieben werden könnte, war der Grund für die Veröffentlichung.

Um zu verdeutlichen, warum hier verschiedene Modelle vorgestellt werden und nicht eine Geschichte oder eine systematische Darstellung der materialistischen Dialektik geliefert wird, soll auf die „Vorgeschichte" des Bandes kurz eingegangen werden: Die „Modelle" sind die Arbeitsergebnisse der „Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft," deren Mitglieder sich Anfang 1974 zusammenfanden, mit dem Ziel, gemeinsame mit der materialistischen Dialektik zusammenhängende Probleme aufzuarbeiten.

Die Arbeit wurde bei Marx und Engels, den Begründern materialistischer Dialektik, aufgenommen. Schon bald aber entstanden grundsätzliche Kontroversen über die Einschätzung der Position von Engels, die auf dem damaligen Stand der Gruppe nicht geklärt werden konnten. So blieb als gemeinsamer Ausgangspunkt der weiteren Arbeit die Analyse der Marxschen Schriften. Bei dem Versuch, die von Marx im „Kapital" gebrauchten dialektischen Kategorien in ihrem Ableitungszusammenhang zu verstehen, sah sich die Gruppe dann - für die meisten nicht überraschend - auf Hegel verwiesen. Nachdem dessen „Logik" und „Enzyklopädie" eine Zeitlang Djskussionsgrundlage gewesen waren, wurde insbesondere eine Analyse der dialektischen Strukturen des ersten Kapitels des „Kapital" versucht. Es wurde dabei ständig Bezug auf die Hegelsche Dialektik genommen bei gleichzeitigem Versuch, die Differenzen zu beachten, die sich aus materialistischem und idealistischem Ausgangspunkt ergeben.

Dieses Verfahren wurde von einigen Teilnehmern als „Hegelianisierung" und Vernachlässigung des Spezifikums materialistischer Dialektik zunehmend in Frage gestellt und daraufhin schließlich abgebrochen. Bis dahin war jeweils nur ein, allerdings wechselnder Teil der Gruppe mit den einzelnen Arbeitsschritten ganz oder ohne Vorbehalte einverstanden gewesen; nun wurde dies Problem selbst zum Thema der Arbeit. Spätestens jetzt wurde allen deutlich, daß auch schon die Rezeption der nicht in Frage stehenden Grundlagen materialistischer Dialektik bei Marx von den verschiedenen nach-marxschen Dialektik-Modellen bestimmt ist, deren Vertreter sich, wie nun eindeutig auszumachen war, auch in der Dialektik-Arbeitsgemeinschaft fanden. Als Diskussionsergebnis wurde für die Weiterarbeit ein Konzept aufgegriffen, das in der Explikation der Positionen materialistischer Dialektik bestand, die die aktuelle Auseinandersetzung bestimmen.

Der Umstand, daß auf diesem Wege das Einbringen aller vertretenen Positionen in die Debatte gewährleistet war, auf der einen Seite und die Aussicht auf Verminderung der inzwischen in der Diskussion deutlich gewordenen Defizite bei jedem der Teilnehmer auf der anderen Seite, führte zusammen mit der Einschätzung, daß auf diese Weise eine solidere Grundlage für die kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen geschaffen würde, zu einer breiteren Zustimmung zur Arbeitsweise der Gruppe - und schließlich zu den in diesem Buch vereinigten „Modellen materialistischer Dialektik."

Der offensichtliche  Preis dafür war der vorläufige Verzicht auf die Klärung der Frage, was die materialistische Dialektik, wie sie von Marx begründet und seitdem weiterentwickelt worden ist, eigentlich ausmache.

Nachdem so Einigkeit über das weitere Vorgehen hergestellt war, wurde mit der „Produktion" der einzelnen Beiträge begonnen. Es war ohne weiteres möglich, für jede relevante Dialektikkonzeption Bearbeiter zu finden, die dann überwiegend, jedoch nicht in allen Fällen den Standpunkt des zu bearbeitenden Autoren teilten. Bereits die Erarbeitung der „Modelle" erfolgte zusammen mit Studenten in Seminaren und Tutorien zu den verschiedenen Dialektik-Positionen. Die auf dieser Grundlage erstellten ersten Fassungen wurden dann in weiteren Veranstaltungen erneut zur Diskussion gestellt. Wichtige Problemstellungen, Präzisierungen und Akzentuierungen verdanken die „Modelle" diesen Diskussionen. Die Ergebnisse der verschiedenen Diskussionsgänge aufzunehmen oder beiseite zu lassen, blieb jedoch der Entscheidung der Verfasser überlassen, so daß diese für den Inhalt ihres Beitrages jeweils allein verantwortlich sind: in den Kapiteln dieses Buches wird also keine Gruppenmeinung wiedergegeben.

Auf diesem Hintergrund sind die vorliegenden „Modelle materialistischer Dialektik" zu sehen. Den Verfassern ist darüber hinaus der Hinweis wichtig, daß ihre Beiträge in mehrerer Hinsicht offen sind: Sie stellen zunächst nur einen - allerdings notwendigen - ersten Schritt dar, den der Aneignung der jeweiligen Position. Aussteht als zweiter notwendiger Schritt der einer expliziten kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Modellen. Weiterhin werden einige Modelle hier überhaupt zum ersten Mal zu explizieren versucht. In den anderen Fällen werden den in der Sekundärliteratur bereits herausgearbeiteten Dialektikkonzeptionen grundsätzliche Alternativen gegenübergestellt bzw. neue Aspekte und Akzentuierungen hinzugefügt. Das bedeutet Offenheit auch auf der Ebene der Aneignung: Überall da, wo die Diskussion erst beginnt, ob insgesamt oder im einzelnen, ist Unabgeschlossenheit wohl unumgänglich.

Darüber hinaus bleibt die Offenheit insofern bestehen, als die Verfasser erwarten, daß bei der Überprüfung sich manches als korrekturbedürftig oder fehlend erweisen wird. Die weitere Diskussion wird dies zeigen.

Abschließend noch einige Bemerkungen zur Form und zur Benutzung des Buches. Da es um keine „Geschichte der materialistischen Dialektik seit Marx" ging, also keine lückenlose Vollständigkeit oder Kontinuität angestrebt war, sondern eine Auswahl der in der jetzigen Dialektik-Debatte relevanten Positionen, ist keine chronologische Anordnung gewählt worden. Stattdessen wurden die für die Gesamtdiskussion grundlegenden Konzeptionen von Marx, Engels, Lenin und Mao Tsetung an den Anfang gestellt. Ihnen folgen die in einem relativ engen inhaltlichen (wenn auch nicht immer zeitlich engen) Diskussionszusammenhang stehenden Positionen von Lukasc, Korsch, Bloch, Adorno und Marcuse. Schließlich wird diese Auswahl ergänzt durch vier weitere Konzeptionen, die eine besondere Rolle spielen sowohl in dem jeweiligen nationalen Zusammenhang, aus dem sie stammen, als auch durch ihre weitgehende Unabhängigkeit von dem Diskussionszusammenhang der zweiten Gruppe: Gramsci, Kosik, UdSSR/DDR und Althusser. Allen Modellen vorangestellt wird ein Beitrag, der versucht, ihre Voraussetzungen zu klären.

Die einzelnen Positionen hängen - in allerdings unterschiedlichem Maße - voneinander ab; insofern ist es empfehlenswert (zumindest für „Anfänger") zunächst die ersten vier bzw. fünf Kapitel zu lesen, da in ihnen die Grundlagen für die weitere, sich verzweigende Entwicklung zu finden sind. Danach ist eine beliebige Fortführung der Lektüre möglich, da alle Kapitel prinzipiell in sich abgeschlossen sind.

In allen Kapiteln ist zu .finden:

  • der Versuch der Darstellung einer spezifischen Dialektikposition mit dem daraus resultierenden Modell materialistischer Dialektik. (Dabei sind abhängig vom behandelten Autoren, der Sekundärliteratur und den Ergebnissen der Bochumer Diskussion unterschiedliche Schwerpunkte und entsprechende Formen der Darstellung gewählt worden.)
  • die Quellenliteratur, auf die sich die Darstellung stützt und an der sich der Leser weiter - auch für die Überprüfung des hier Dargestellten - orientieren kann.
  • eine Einbeziehung der Sekundärliteratur. Es werden in der Regel die für die Rezeption wesentlichen Autoren und Titel angegeben. Darüber hinaus wird versucht, den Tenor in knappster Form darzustellen.

Die Anmerkungen befinden sich hinter jedem Beitrag. Alle Literatur -Quellen- wie Sekundärliteratur -, die in den Texten zitiert wird, ist am Ende des Bandes in einer ausführlichen, alphabetisch nach Verfassern geordneten Gesamtbibliographie zusammengefaßt.

Über die Informationsmöglichkeiten über einzelne Modelle materialistischer Dialektik hinaus bietet der Band so insgesamt einen Überblick über das Spektrum der in der Diskussion befindlichen Positionen. Dieser Überblick wird ergänzt durch die umfangreiche Bibliographie am Ende des Bandes, die zwar als Auswahlbibliographie Akzente setzt, aber trotzdem bereits über eine erste Orientierung über die Literatur zum Komplex materialistischer Dialektik hinausgeht.

Das erste Kapitel leitet in die Modelle ein, indem die systematischen und methodologischen, insbesondere aber die historischen Voraussetzungen materialistischer Dialektik aufgezeigt werden, auf die die hier behandelten Autoren immer wieder rekurrieren. Es versucht von daher einen Rahmen für die folgenden „Modelle materialistischer Dialektik" abzustecken.
 

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das Vorwort des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 3 - 6

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