Diskussionen über materialistische Dialektik stoßen immer
wieder auf zwei Schwierigkeiten: Entweder wird (nach einiger
Zeit) die Frage aufgeworfen, was das denn eigentlich sei,
materialistische Dialektik, oder aber da, wo ein gewisser
Informationsstand bereits vorhanden ist, kommt es auch bei nur
wenigen Beteiligten schon binnen kurzer Zeit zu heftigen
Kontroversen, die häufig darauf zurückzuführen sind, daß der
Inhalt des Begriffs materialistische Dialektik jeweils
unterschiedlich - ja sich ausschließend -
bestimmt wird.
Die in dem vorliegenden Band enthaltenen Beiträge möchten in
beide Richtungen klärend wirken. Zunächst wollen sie antworten
auf die Frage nach dem Inhalt des Begriffs materialistische
Dialektik und zwar ohne weitgehende Voraussetzungen zu machen.
Die Präsentation mehrerer verschiedener „Modelle
materialistischer Dialektik" als Antwort kann aber auch - so
glauben zumindest die Verfasser - zur Klärung der erwähnten
Kontroversen insofern beitragen, als dadurch die
unterschiedlichen Bestimmungen materialistischer Dialektik
herausgearbeitet und so deutlicher gemacht werden. Die Annahme,
daß durch eine solche Explikation der unterschiedlichen Modelle
die aktuelle Dialektik-Debatte zunächst an Transparenz gewinnen
könnte, darüber hinaus aber sowohl erweitert als auch punktue!!
vertieft und somit vorangetrieben werden könnte, war der Grund
für die Veröffentlichung.
Um zu verdeutlichen, warum hier verschiedene Modelle
vorgestellt werden und nicht eine Geschichte oder eine
systematische Darstellung der materialistischen Dialektik
geliefert wird, soll auf die „Vorgeschichte" des Bandes kurz
eingegangen werden: Die „Modelle" sind die Arbeitsergebnisse der
„Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft,"
deren Mitglieder sich Anfang 1974 zusammenfanden, mit dem Ziel,
gemeinsame mit der materialistischen Dialektik zusammenhängende
Probleme aufzuarbeiten.
Die Arbeit wurde bei Marx und Engels, den Begründern
materialistischer Dialektik, aufgenommen.
Schon bald aber entstanden grundsätzliche Kontroversen über die
Einschätzung der Position von Engels, die auf dem damaligen
Stand der Gruppe nicht geklärt werden konnten. So blieb als
gemeinsamer Ausgangspunkt der weiteren
Arbeit die Analyse der Marxschen Schriften. Bei dem Versuch, die
von Marx im „Kapital" gebrauchten dialektischen Kategorien in
ihrem Ableitungszusammenhang zu verstehen, sah sich die Gruppe
dann - für die meisten nicht überraschend - auf Hegel verwiesen.
Nachdem dessen „Logik" und „Enzyklopädie" eine Zeitlang
Djskussionsgrundlage gewesen waren, wurde insbesondere eine
Analyse der dialektischen Strukturen des ersten Kapitels des
„Kapital" versucht. Es wurde dabei ständig Bezug auf die Hegelsche
Dialektik genommen bei gleichzeitigem Versuch, die Differenzen
zu beachten, die sich aus materialistischem und idealistischem
Ausgangspunkt ergeben.
Dieses Verfahren wurde von einigen Teilnehmern als „Hegelianisierung"
und Vernachlässigung des Spezifikums materialistischer Dialektik
zunehmend in Frage gestellt und daraufhin schließlich
abgebrochen. Bis dahin war jeweils nur ein, allerdings
wechselnder Teil der Gruppe mit den einzelnen Arbeitsschritten
ganz oder ohne Vorbehalte einverstanden gewesen; nun wurde dies
Problem selbst zum Thema der Arbeit. Spätestens jetzt wurde
allen deutlich, daß auch schon die Rezeption der nicht in Frage
stehenden Grundlagen materialistischer Dialektik bei Marx von
den verschiedenen nach-marxschen Dialektik-Modellen bestimmt
ist, deren Vertreter sich, wie nun eindeutig auszumachen war,
auch in der Dialektik-Arbeitsgemeinschaft fanden. Als
Diskussionsergebnis wurde für die Weiterarbeit ein Konzept
aufgegriffen, das in der Explikation der Positionen
materialistischer Dialektik bestand, die die aktuelle
Auseinandersetzung bestimmen.
Der Umstand, daß auf diesem Wege das Einbringen aller
vertretenen Positionen in die Debatte gewährleistet war, auf der
einen Seite und die Aussicht auf Verminderung der inzwischen in
der Diskussion deutlich gewordenen Defizite bei jedem der
Teilnehmer auf der anderen Seite, führte zusammen mit der
Einschätzung, daß auf diese Weise eine solidere Grundlage für
die kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen
Positionen geschaffen würde, zu einer breiteren Zustimmung zur
Arbeitsweise der Gruppe - und schließlich zu den in diesem Buch
vereinigten „Modellen materialistischer Dialektik."
Der offensichtliche Preis dafür
war der vorläufige Verzicht auf die Klärung der Frage, was
die materialistische Dialektik, wie sie von Marx begründet
und seitdem weiterentwickelt worden ist, eigentlich ausmache.
Nachdem so Einigkeit über das weitere Vorgehen
hergestellt war, wurde mit der „Produktion" der einzelnen
Beiträge begonnen. Es war ohne weiteres
möglich, für jede relevante Dialektikkonzeption Bearbeiter zu
finden, die dann überwiegend, jedoch nicht in allen Fällen den
Standpunkt des zu bearbeitenden Autoren teilten. Bereits die
Erarbeitung der „Modelle" erfolgte zusammen mit Studenten in
Seminaren und Tutorien zu den verschiedenen
Dialektik-Positionen. Die auf dieser Grundlage erstellten ersten
Fassungen wurden dann in weiteren Veranstaltungen erneut zur
Diskussion gestellt. Wichtige Problemstellungen, Präzisierungen
und Akzentuierungen verdanken die „Modelle" diesen Diskussionen.
Die Ergebnisse der verschiedenen Diskussionsgänge aufzunehmen
oder beiseite zu
lassen, blieb jedoch der Entscheidung der Verfasser überlassen,
so daß diese für den Inhalt ihres Beitrages jeweils allein
verantwortlich sind: in den Kapiteln dieses Buches wird also
keine Gruppenmeinung wiedergegeben.
Auf diesem Hintergrund sind die vorliegenden „Modelle
materialistischer Dialektik" zu sehen. Den Verfassern ist
darüber hinaus der Hinweis wichtig, daß ihre Beiträge in
mehrerer Hinsicht offen sind: Sie stellen zunächst nur einen -
allerdings notwendigen - ersten Schritt dar, den der Aneignung
der jeweiligen Position. Aussteht als zweiter notwendiger
Schritt der einer expliziten kritischen Auseinandersetzung mit
den verschiedenen Modellen. Weiterhin werden einige Modelle hier
überhaupt zum ersten Mal zu explizieren
versucht. In den anderen Fällen werden den in der
Sekundärliteratur bereits herausgearbeiteten
Dialektikkonzeptionen grundsätzliche Alternativen
gegenübergestellt bzw. neue Aspekte und Akzentuierungen
hinzugefügt. Das bedeutet Offenheit auch auf der Ebene der
Aneignung: Überall da, wo die Diskussion erst beginnt, ob
insgesamt oder im einzelnen, ist Unabgeschlossenheit wohl
unumgänglich.
Darüber hinaus bleibt die Offenheit insofern bestehen, als
die Verfasser erwarten, daß bei der Überprüfung sich manches als
korrekturbedürftig oder fehlend erweisen wird. Die weitere
Diskussion wird dies zeigen.
Abschließend noch einige Bemerkungen zur Form und zur
Benutzung des Buches. Da es um keine „Geschichte der
materialistischen Dialektik seit Marx" ging, also keine
lückenlose Vollständigkeit oder Kontinuität angestrebt war,
sondern eine Auswahl der in der jetzigen Dialektik-Debatte
relevanten Positionen, ist keine chronologische Anordnung
gewählt worden. Stattdessen wurden die für die Gesamtdiskussion
grundlegenden Konzeptionen von Marx, Engels, Lenin und Mao Tsetung
an den Anfang gestellt. Ihnen folgen die in einem relativ engen
inhaltlichen (wenn auch nicht immer zeitlich engen)
Diskussionszusammenhang stehenden Positionen von Lukasc,
Korsch, Bloch, Adorno und Marcuse. Schließlich wird diese
Auswahl ergänzt durch vier weitere Konzeptionen, die eine
besondere Rolle spielen sowohl in dem jeweiligen nationalen
Zusammenhang, aus dem sie stammen, als auch durch ihre
weitgehende Unabhängigkeit von dem Diskussionszusammenhang der
zweiten Gruppe: Gramsci, Kosik, UdSSR/DDR und Althusser.
Allen Modellen vorangestellt wird ein Beitrag, der versucht,
ihre Voraussetzungen zu klären.
Die einzelnen Positionen hängen - in
allerdings unterschiedlichem Maße -
voneinander ab; insofern ist es empfehlenswert (zumindest für
„Anfänger") zunächst die ersten vier bzw. fünf Kapitel zu lesen,
da in ihnen die Grundlagen für die weitere, sich verzweigende
Entwicklung zu finden sind. Danach ist eine beliebige
Fortführung der Lektüre möglich, da alle Kapitel prinzipiell in
sich abgeschlossen sind.
In allen Kapiteln ist zu .finden:
- der Versuch der Darstellung einer
spezifischen Dialektikposition mit dem
daraus resultierenden Modell materialistischer Dialektik.
(Dabei sind abhängig vom behandelten Autoren, der
Sekundärliteratur und den Ergebnissen der Bochumer Diskussion
unterschiedliche Schwerpunkte und entsprechende Formen der
Darstellung gewählt worden.)
- die Quellenliteratur, auf die sich
die Darstellung stützt und an der sich der Leser weiter - auch
für die Überprüfung des hier Dargestellten - orientieren kann.
- eine Einbeziehung der Sekundärliteratur. Es werden in der
Regel die für die Rezeption wesentlichen Autoren und Titel
angegeben. Darüber hinaus wird versucht, den Tenor in
knappster Form darzustellen.
Die Anmerkungen befinden sich hinter jedem Beitrag. Alle
Literatur -Quellen- wie Sekundärliteratur -, die in den Texten
zitiert wird, ist am Ende des Bandes in einer ausführlichen,
alphabetisch nach Verfassern geordneten Gesamtbibliographie
zusammengefaßt.
Über die Informationsmöglichkeiten über einzelne Modelle
materialistischer Dialektik hinaus bietet der Band so insgesamt
einen Überblick über das Spektrum der in der Diskussion
befindlichen Positionen. Dieser Überblick wird ergänzt durch die
umfangreiche Bibliographie am Ende des Bandes, die zwar als
Auswahlbibliographie Akzente setzt, aber trotzdem bereits über
eine erste Orientierung über die Literatur zum Komplex
materialistischer Dialektik hinausgeht.
Das erste Kapitel leitet in die Modelle ein, indem die
systematischen und methodologischen, insbesondere aber die
historischen Voraussetzungen materialistischer Dialektik
aufgezeigt werden, auf die die hier behandelten Autoren immer
wieder rekurrieren. Es versucht von daher einen Rahmen für die
folgenden „Modelle materialistischer Dialektik" abzustecken.
Editorische Anmerkungen
Der Aufsatz ist das Vorwort
des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge
der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz
Kimmerle, Den Haag 1978, S. 3 - 6
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