Algerien und der Islamismus
Rückkehr auf die politische Bühne ?

von Bernard Schmid
10/06

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Sind die algerischen Islamisten zurück auf der politischen Bühne ihres Landes, genau ein Jahr nach der Volksabstimmung vom 29. September 2005 über die «nationale Aussöhung» und über ein Amnestievorhaben ? Bedeutet das die Rückkehr zu Zuständen wie in den frühen 1990er Jahren, bevor der Bürgerkrieg zwischen den Militärs und bewaffneten Islamisten in dem nordafrikanischen Staat anfing? Solche und ähnliche Fragen wirft derzeit ein Teil der algerischen Presse auf. Die Tageszeitung ‘Liberté’ veröffentlichte etwa am Montag, Dienstag und Mittwoch der vergangenen Woche eine mehrteilige Serie (http://www.liberte-algerie.) unter dem Titel «Algerien gegenüber dem neuen Islamismus».  

Sicherlich sind ihre Mutmabungen besser mit Vorsicht aufzunehmen: Da die Debatte «für oder wider den politischen Islam» in den neunziger Jahren die algerische Landschaft völlig polarisiert hat, leiten nunmehr einige politische Kräfte ihre Existenzberechtigung und Legitimation zum Gutteil aus ihrer stetigen Opposition gegen die islamistische Bedrohung ab. Auch wenn die objektive Situation und die Ausgangsbedingungen für eventuelle Erfolge der Islamisten sich also gegenüber den Jahren um 1991 radikal verändert hätten, so müssten manche Kräfte doch die Ausmabe eines solchen Gefahrenpotenzials in ähnlichem Umfang darstellen wie damals.

Dennoch stellt sich die Frage nach den eventuellen Chancen, die die algerischen Islamisten bei einem neuen politischen Anlauf mitbrächten. Allem Anschein nach sind sie dabei, neue Kräfte zu sammeln, nachdem der staatliche Druck auf sie nachgelassen hat. Im Zuge der von oben angeordneten «nationalen Aussöhnung» sind ihnen in den vergangenen Monnaten einige Angebote gemacht worden. Am vorigen Mittwoch (27. September) hat Präsident Bouteflika jetzt verkündet, dass die Frist, binnen derer den noch immer bewaffnet kämpfenden Islamisten in Algerien eine Amnestie und günstige Konditionen zur Wiedereingliederung angeboten worden sind, nunmehr definitiv zu Ende sei. Anlass zu einer Bilanzierung... 

Von Deutschland nach Algerien 

Die algerischen Islamisten versuchen sich zu reorganisieren. Einer ihrer  Spitzenfunktionäre ist seit kurzem zurück in Algier -- nach 14 Jahren im deutschen Exil, in denen er im Grobraum Köln/Bonn ansässig war und Kontakte knüpfte, und dabei in der Nähe von Aachen wohnte. Am Abend des 17. September 2006 landete er auf dem Flughafen der algerischen Hauptstadt: Rabah Kebir, während der Jahre 1991/92 Führungsmitglied der Islamischen Rettungsfront (des FIS, französisch le Front islamique du salut), die infolge ihres Sieges bei den damaligen Parlamentswahlen gerichtlich verboten und aufgelöst wurde, und später Chef ihrer Auslandsführung.  

Kébir kehrte im Rahmen der Amnestieregelung zurück, die infolge der durch Präsident Abdelaziz Bouteflika im vorigen Jahr ausgerufenen Réconciliation nationale (nationalen Versöhnung) gilt. Demnach konnten einerseits die noch bewaffnet agierenden Islamisten Straffreiheit genieben, wenn sie vor dem 31. August dieses Jahres die Waffen niederlegten. Da die noch vorhandenen bewaffneten Grüppchen das Angebot gröbtenteils ablehnten, wurde ein paar Wochen lang über eine Verlängerung dieser Frist debattiert; aber in einer Ansprache vor Richtern hat Präsident Bouteflika am Mittwoch dieser Woche eindeutig erklärt, dass (vgl. >> http://www.elwatan.com/spip.php?page=article&id_article=50993 ) es doch keine Hinauszögerung der Ausschlussfrist geben wird. Andererseits wurde auch den im ausländischen Exil sitzenden Kadern, Aktivisten und Funktionäre der algerischen Islamisten eine Einstellung der gegen sie laufenden Strafverfolgung und Nichtvollstreckung der in der Vergangenheit über sie verhängten Urteile in Aussicht gestellt. Das betrifft in Europa potenziell rund 1.000 algerische Islamisten. Aber merkwürdig ist, dass Kébir erst nach dem Ablauf des Amnestieangebots, das bis Ende August befristet war, in das nordafrikanische Land zurückkehrte. Im Frühsommer hatte er zunächst seine Einreise im Juli  dieses Jahres (vgl. http://www.algeria-watch.org/fr/article/pol/amnistie/kebir_alger.htm ) angekündigt. Doch dann landete er auberhalb der gesetzlichen Frist in Algier. Sein früherer Rechtsanwalt Ali Yahia Abdenour erklärt sich (vgl. http://www.lexpressiondz.com/T20060920/ZA4-18.htm ) verwundert: «Wer hat seine Rückkehr autorisiert? Im Prinzip kann nur das Gesetz darüber (d.h. über seine Straffreiheit) entscheiden. Aber in diesem Fall ist der Text eindeutig, die Frist ist abgelaufen.» Allgemein angenommen wird, dass Kébir sich vor seiner Reihe politische Rückversicherungen beim Präsidenten Bouteflika und bei Premierminister Abdelaziz Belkhadem einholte.   

An jenem 17. September erwarteten ihn zahlreiche Fotographen und Journalisten, aber auch Dutzende von Anhängern und ehemaligen Parteifreunden sowie ein enormes Sicherheitsaufgebot am Flughafen. In Empfang genommen wurde Kébir unter anderem von Madani Mezrag, dem ehemaligen Chef der «Islamischen Rettungsarmee» AIS, die von 1994 bis 1999 als bewaffnete Organisation mit 4.000 bis 7.000 Kämpfern existierte. Mit dabei waren auch Mustaphali Kartali und Ahmed Benaïcha, die in jener Phase im südlichen Umland von Algier bzw. in Westalgerien die bewaffneten Verbände anführten. Alle Vorgenannten gehören zu jenen ehemals bewaffneten Islamisten, die in den Jahren 1999/2000 diese Kampfform aufgegeben haben. Dagegen wurde der frühere Parteiideologe Ali Belhadj, der als Vertreter des ultraradikalen Flügels gilt und bis heute den bewaffneten Kampf nicht verurteilen mochte, von den Vorgenannten nicht bis zu Rabah Kebir vorgelassen. Es gelang ihm nicht, ihn zu begrüben, da Kebir die Maschine des aus Frankfurt/Main kommenden Air France-Fluges überraschend durch den Hinterausgang verlassen hatte. Der einstmals berüchtigte Prediger (in dieser Hinsicht hat er heute Auftrittsverbot) Belhadj konnte so nicht bis zu dem Rückkehrer vordringen, was namentlich vom ehemaligen islamistischen Militärchef Madadani Mezrag verhindert wurde. Der bisherige Exilpolitiker Rabah Kébir befand sich in Begleitung seiner Ehefrau sowie zweier seiner bisherigen Leitungskollegen in der Auslandsführung des FIS, Abdelkrim Ould Adda (bislang in Belgien ansässig) und Mohamed Ghematti. 

24 Stunden nach seiner Ankunft hielt Rabah Kebir eine Pressekonferenz in einer Villa im Stadtteil Bouzaréah ab, die einem unabhängigen Abgeordneten und Geschäftsmann namens Ahmed Boufracha gehört, welchselbiger in den frühen 80er Jahren die damalige erste bewaffnete islamistische Untergrundbewegung unter Mustapha Bouyali aktiv unterstützt hatte. Dabei gab der frisch aus dem Exil zurückgekehrte Parteifunktionär nähere Auskunft über seine zukünftigen Ambitionen.  

Zunächst einmal wolle man nur «den inneren Frieden konsolidieren», im Rahmen der Politik der «nationalen Aussöhnung» von Präsident Bouteflika. Aber perspektivisch fügte der frühere FIS-Politiker hinzu: «Im geeigneten Moment werden wir ein politisches Projekt der Öffentlichkeit präsentieren. Wir werden nicht auf unsere politischen Rechte verzichten.» Das politische Vorhaben, an das er und seine Anhänger dächten, richte sich – so fuhr Kebir fort (>> vgl. http://www.lesoirdalgerie.com/articles/2006/09/19/article.php?sid=43396&cid=2 ) --  «nicht ausschlieblich an die Ehemaligen des FIS, sondern eher an die Jugendlichen/jungen Leute, die noch nie in der Politik aktiv waren». Ob er auf Dauer in Algerien bleiben möge oder aber alsbald in sein deutsches Exil zurückkehre, das machte Kébir dabei indirekt vom Vorankommen dieses politisches Vorhabens abhängig. Auch in einem längeren Interview, das die (klar anti-islamistische) Tageszeitung ‘Liberté’  am Mittwoch dieser Woche publizierte, bekräftigt Kébir: «Dieser Besuch (in Algerien) ist nur ein Besuch, um den Boden zu testen. Danach werde ich entscheiden, mich definitiv anzusiedeln oder nicht. (...) Und wenn die Bedingungen es erlauben, eine Funktion in diesem Land auszuüben, die meine dauerhafte Anwesenheit erfordert, dann werde ich es tun.» Die Frage einer möglichen Kandidatur zu den algerischen Parlamentswahlen im Jahr 2007 lieb Kébir (auf Nachfrage hin) offen.  

Neugründung auf islamistischer Seite? 

Damit dürfte er auch, indirekt, eine Antwort auf die Frage nach einem Drängen auf Wiederzulassung der verbotenen Islamistenpartei -- eventuell unter einem anderen Namen -- gegeben haben. Auf diese Frage ging Rabah Kebir auch näher ein: «Für uns ist die Abkürzung FIS nicht der Koran, es handelt sich dabei um ein Mittel und nicht um ein Ziel. Als die ‘Partei des algerischen Volkes’ (PPA) verboten worden ist, haben andere Parteien die Flamme von ihr übernommen, und es kam zur Unabhängigkeit.»

 

Die historische Referenz muss erklärt werden: Die antikoloniale Partei PPA war vor dem Zweiten Weltkrieg durch die französische Kolonialmacht verboten worden, aber 1945 erhielt die fortexistierende Partei erneut ein legales Aushängeschild in Form der «Bewegung für den Triumph der demokratischen Grundrechte» (MTLD). Daneben verfügten die Antikolonialisten über einen illegalen Apparat und schon früh, ab Ende der vierziger Jahre, über einen bewaffneten Arm. Aber 1953/54 schlitterte die gesamte antikoloniale Partei in eine schwere innere Krise, da es zu heftigen Konflikten zwischen widerstreitenden Tendenzen kam. Einer ihrer Splitter wurde zur «Nationalen Befreiungsfront» (FLN), die infolge des im November 1954 ausgebrochenen Unabhängigkeitskriegs schlieblich die Befreiung von der Kolonialherrschaft herbeiführen würde. Zumindest in der historischen Abfolge –- nicht vom politischen Inhalt her, der bei den antikolonialistischen Nationalisten der 50er Jahre ein völlig anderer war als bei den späteren Islamisten -- nimmt der islamistische Funktionär Kebir darauf nun Bezug. Um zu verdeutlichen: Auch wir werden unsere historischen Ziele doch noch erreichen. 

Dabei ging es ihm aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht um die Form, die der Unabhängigkeitskampf angenommen hatte, als die algerischen Nationalisten –- notgedrungen –- gegenüber der zu Kompromissen nicht bereiten französischen Kolonialmacht zu den Waffen griffen. Rabah Kebir ist kein Vertreter jener «radikalen» Tendenz innerhalb des algerischen Islamismus, die von Anfang an für die Aktionsform des bewaffneten Kampfs eintrat und diese als grundsätzlich notwendig erachtet.  

Ein Vertreter des «gemäbigten» Flügels  

Kebir gehörte 1991/92 zum Führungskern um den zeitweiligen Parteivorsitzenden Abdelkader Hachani, der an die Spitze trat, nachdem die vorherige FIS-Führungsspitze unter Abassi Madani und Ali Belhadj die Machtprobe auf der Strabe (in Form eines rein politischen «Generalstreiks», der aber durch die Arbeitenden des Landes kaum befolgt wurde) gesucht hatte und wegen «bewaffneter Zusammenrottung» inhaftiert worden war. Die darauffolgende Führung unter Kebir und Hachani bremste den auf sofortiges bewaffnetes Agieren drängenden Flügel der algerischen Islamisten aus, da dessen Strategie als selbstmörderisch betrachtet wurde. Stattdessen setzten sie auf eine Option der Wahlbeteiligung und der Kompromisssuche mit der vorhandenen Staatsmacht. Was nicht bedeutet, dass ihre politischen Inhalte dadurch die von progressiven Demokraten geworden wären, eher im Gegenteil. Kebir charakterisierte (vgl. >> http://www.humanite.presse.fr/journal/1999-11-23/1999-11-23-299946 ) die Vision seines Freundes Hachani von einem islamischen Staat als «vom sudanesischen, iranischen und saudischen Modell inspiriert». Alle drei Führungen sind nicht unbedingt durch ihren Humanismus bekannt geworden. Sicherlich musster Hachani als Parteivorsitzender auf Zeit, der für die inhaftierten radikaleren Führer eingesprungen war, sicherlich auch deshalb tough argumentieren, weil seine Legitimität vor diesem Hintergrund nur «geborgt» war und er die Basis der «Radikalen» einbinden musste. Dennoch spricht es eine klare Sprache, solche Vorbilder zu erwähnen.  

Hachani selbst ist heute nicht mehr am Leben, da er am 22. November 1999 in Algier ermordert worden ist, mutmablich durch die Groupes islamiques armés (GIA, «Bewaffnete islamische Gruppen» oder arabisch Jamaa al-islamiya al-mussalaha), die den parteiförmig organisierten Islamisten damals ideologische Aufweichung und Verrätertum vorwarfen. Der laut staatlichen Angaben dafür verantwortliche Mörder, der ehemalige Kleinkriminelle und bekennende GIA-Aktivist  Fouad Boulemia, wurde noch im Dezember 1999 inhaftiert. Am 12. April 2001 wurde er in einem eintägigen Kurzprozess zu umstrittenen Konditionen zum Tode verurteilt, wobei die Justiz ihn als Einzeltäter behandelte, ohne nach den Hintermännern zu fragen – damals wollte man offenkundig möglichst schnell Fakten schaffen und Schuldige präsentieren, ohne allzu sehr in der jüngsten Vergangenheit des Bürgerkriegs herum zu wühlen, die man seitens der Staatsmacht als «endlich abgeschlossenes Kapitel» betrachtete. (Und ferner wurde Fouad Boulemia nochmals am 1. August 2004, dieses mal wegen der Teilnahme am Massaker von Hunderten Zivilisten im September 1997 in Bentalha in der Nähe von Algier, wiederum zum Tode verurteilt. Vgl. http://web.amnesty.org/report2005/dza-summary-fra) Am 10. März 2006 kam er infolge der «Politik der nationalen Aussöhnung» und des damit zusammen hängenden Amnestieerlasses auf freien Fub (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Fouad_Boulemia ). 

Ein logischer Doppelcharakter 

Jenseits von purer Taktik und ihrer Erfordernisse widerspiegelt dieser «Linienstreit» aber auch die politische Natur des (radikalen) politischen Islam, der sich grundsätzlich durch eine gewisse Janusköpfigkeit in seinen Erscheinungsformen auszeichnet. Denn einerseits handelt es sich um eine im Kern konservative bis reaktionäre Bewegung, was ihr Herangehen an Fragen der «Moral» im gesellschaftlichen Zusammenleben, an die Rechte des Einzelnen, was ihre Haltung gegenüber Familienstrukturen, Frauenemanzipation und die Infragestellung überkommener Lebensformen betrifft. In allen diesen Bereichen wären die grobe Mehrzahl der Figuren und Organisationen des politischen Islam im europäischen Koordinatensystem irgendwo «rechts» angesiedelt. Deshalb kann es auch auf den ersten Blick normal erscheinen, dass Vertreter des politischen Islam (gerade) auch an die Strukturen vorhandener autoritärer Regime anknüpfen können, sofern sie Spielräume für sich vorfinden. Aber das ist noch nicht alles! Denn auf der anderen Seite verstehen sich viele radikal-islamistische Bewegungen selbst subjektiv durchaus nicht als Bewahrer einer etablierten Struktur, sondern als Rebellen gegen eine ungerechte (Welt-)Ordnung. Dabei heben sie insbesondere auf die Vorherrschaft des Westens bzw. Nordens, auf – tatsächliche oder vermeintliche – wirtschaftliche und «kulturelle» Dominanz über ihre Länder, auf Kriege und Unterdrückungsmabnahmen gegen muslimische Nationen und/oder Länder der «Dritten Welt» ab. Insofern beziehen viele Anhänger solcher Bewegungen gerade aus dem Angriff auf eine als ungerecht empfundene Ordnung (deren Ungerechtigkeit sie sich durch ihre «Gottlosigkeit» erklären mögen) ihre subjektive Motivation. Aber dies erschwert wiederum die Kompromissfindung zwischen solchen islamistischen Bewegungen –- ihren Aktivisten, oder zumindest ihrer Basis –- und den vorhandenen, die Staatsmacht ausübenden Regimen. 

Wie geht das zusammen, warum können beide  Charakterzüge sich oftmals ein und derselben Bewegung wiederfinden? Es lässt sich im Falle islamistischer Bewegungen nur durch die Struktur der Nord-Süd-Beziehungen erklären. Die beiden US-amerikanischen, aber ursprünglich aus Afghanistan bzw. aus Österreich stammenden, AutorInnen Zalmay Khalilzad und Cheryl Bernard schrieben dazu 1984 in einem Buch über die Entstehung der «Islamischen Republik» im Iran (The Government of God, deutsch 1988: Gott in Teheran) im Kern richtig: «Pseudo-moderne Eliten (...) sitzen an den Schalthebeln der Macht und arrangieren sich mit den Grobmächten und dem internationalen System. Daneben aber existieren die traditionellen Eliten fort und behalten bedeutende Teile ihres Einflusses, sowohl materiell als auch kulturell und ideell. Während sie unter anderen Umständen als die Grobgrundbesitzer, die rückständigen Traditionalisten und die privilegierten Eliten, die sie tatsächlich sind, bekämpft würden, hat die Struktur der Nord-Süd-Beziehungen ihnen eine nationalistische und sogar revolutionäre Note verliehen. (...)sie bedienen sich des Vokabulars der nationalen und kulturellen Befreiung und Selbstbehauptung und der entsprechenden Volksstimmung.»  

Diese Beobachtung ist im Kern richtig, auch wenn sie gerade auf Algerien nur eingeschränkt übertragen werden kann: Den materiellen Einfluss der alten (einheimischen) Eliten hatte hier schon die französische Kolonisierung  gebrochen, die Algerien als Siedlungskolonie benutzte und daher schon im 19. Jahrhundert daran ging, massive Landenteignungen und Vertreibungen durchzuführen. Aus diesem Grunde griff die europäische Unterwerfung des Landes hier wesentlich tiefer in die vorhandene Sozialordnung ein, als dies oftmals in anderen Kolonien der Fall war, die «lediglich» als Rohstofflieferanten benutzt wurden. Aber als gemeinsamer Erfahrungshintergrund, der zum Anklammern eher an traditionelle Werte und Sozialstrukturen (oder das, was man dafür hält) als das «Eigene» gegen das aggressiv hereinbrechende «Fremde» führt, lässt sich diese Schilderung auch hier heranziehen.  

Jene gesellschaftliche Modernisierung, die in Europa mit dem bürgerlichen Stadium der Gesellschaften bzw. dem Durchbruch des modernen Kapitalismus einher ging, fällt beispielsweise für die nordafrikanischen Gesellschaften zeitlich zusammen mit der Erfahrung kolonialer Eroberung und Unterjochung. Oder zumindest (im Falle Marokkos und Tunesiens, die nicht direkt kolonisiert wurden) mit der Erfahrung der Ungleichheit und «Minderbemitteltheit» gegenüber den Europäern unter ihrer «Protektorats»herrschaft. Viele Neuerungen im gesellschaftlichen Zusammenleben, wie etwa die Auflösung traditioneller Familienstrukturen –- die ohnehin historisch wohl irgendwann erfolgt wäre –- ebenso wie die Ausdifferenzierung sozialer Rollenmuster, die wachsende soziale Ungleichheit und moderne wirtschaftliche Ausbeutungsformen, wurden und werden vor diesem Erfahrungshintergrund als unterschiedliche Facetten eines «groben Ganzen» wahrgenommen. Nämlich als Früchte, als Ausfluss eines gewaltförmigen Eindringens von auben in das vorher Bestehende. Wer sich in den aktuell bestehenden  Verhältnissen einrichten kann oder möchte, wird sich davon vielleicht nehmen, was ihm oder ihr zugute kommt, und den Rest verwerfen. Wer aber die vorhandene Ordnung als fundamental ungerecht betrachtet, kann leicht auf die Idee verfallen (vor allem sofern er mit entsprechenden ideologischen Angeboten in Berührung kommt), alle diese vielfältigen Facetten von Veränderungen gegenüber der vor-kolonialen Gesellschaftsordnung als Ausdruck «fremder Aggression» wahrzunehmen. Die algerischen Islamisten etwa sprechen in diesem Zusammenhang gern vom Wirken von < Hizb França > (Die Partei Frankreichs), und fassen dann sowohl die Eliten mit dicken Guthaben in Europa und die französischsprachigen Intellektuellen in Algerien als auch Feministinnen oder emanzipierte Frauen, Marxisten, Journalisten und allgemein ihre politische Gegner unter diesen Begriff. Madani Mezrag benutzte diesen Begriff erst kürzlich wieder, in einem Interview (>> vgl. http://www.afrique-du-nord.com/forum/viewtopic.php?pid=6170 ) vom 30. August 2006, um die angeblichen Gegner der «nationalen Aussöhnung» zu stigmatisieren, die deren Vorankommen verschleppt hätten. 

Beispielsweise die Frauenemanzipation, die mit traditionellen Werten der «eigenen» Gesellschaft nicht in Übereinstimmung steht, kann deshalb durch die Islamisten als irritierende Erscheinungsform einer «fünften Kolonne der westlichen/nördlichen Aggressoren, die darauf abzielen, unsere Sozialordnung zu unterminieren» interpretiert werden. Wenn man nur möchte, kann fast alles in dieses Raster eingepasst werden. Eine solche Vision der Dinge kann durchaus auch verschwörungstheoretische Züge annehmen, wenn man alle möglichen, sehr unterschiedlichen sozialen Phänomene auf den Nenner «fremde Aggression» als quasi alleinigen Erklärungsfaktor zu bringen versucht. Was einem (vielleicht aus gutem Grund) an der vorhandenen Gesellschaft nicht passt, kann als Ergebnis des Kontrollverlusts über «das Eigene», als Ausdruck von «Überfremdung» interpretiert werden. Diese Motivation ist just in Algerien, wo die koloniale Periode besonders tief und (aufgrund der Entrechnung der «eingeborenen» Mehrheitsbevölkerung) schmerzhaft in die vorherigen Sozialstrukturen eingegriffen hat, besonders stark. Zumal die französische Staatsmacht in den späten 1950er Jahren, während des schon längst ausgebrochenen algerischen Unabhängigkeitskriegs, auf heuchlerische Weise die «Emanzipation der algerischen Frau» zu ihrem angeblichen ureigenen Anliegen erhob – das angeblich ihren Verbleib als Kolonialmacht in Algerien legitimieren sollte. 

Die wahre Brisanz des islamistischen Projekts entsteht nun dadurch, dass es einen solchen Kontrollverlust gegenüber fremden Mächten in einem gewissen Sinne, aber eben nur in einem bestimmten Sinne, wirklich gibt –- nämlich in Form der wirtschaftlichen (und militärischen) Dominanz des reichen und als arrogant empfundenen Nordens. Letztere braucht man nicht erst künstlich zu erfinden, es gibt sie nämlich wirklich. Der ideologische Kunstgriff des islamistischen Programms besteht nun darin, diese reale Erfahrung ideologisch so aufzuladen, dass sie vermeintlich auch zur Erklärung für andere gesellschaftliche Erscheinungen wird –- wie etwa dafür, dass Frauen und Jugendliche mehr persönliche Rechte beanspruchen als früher, dass die Bindungswirkung religiöser Glaubensvorstellungen im Alltag abnimmt usw. Statt der realen ökonomischen Dominanz attackieren die Islamisten viel stärker eine imaginierte «kulturelle Aggression gegen die muslimischen Länder». Die Revolte gegen eine Sozial- bzw. gegen eine Weltordnung und ein im Kern reaktionäres Programm können so ineinander greifen, die Übergänge werden fliebend. 

Aus diesem Grunde hat der politische Islam sowohl ein offensichtlich konservatives bis reaktionäres, als auch ein (pseudo-) revolutionäres Antlitz. Bei vielen Parteien überwiegt der eine oder der andere Aspekt, das heibt sie sind entweder (relativ) angepasst konservative Parteien mit gutem Draht zum vorhandenen Establishment –- wie etwa derzeit die Mehrheitsfraktion der türkischen Islamisten, oder die marokkanische «Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit» (PJD), der für die Parlamentswahl im Jahr 2007 ein Wahlsieg prognostiziert wird --  oder aber sie treten als selbsternannte Umstürzler auf. Nichtsdestrotrotz ist absehbar, dass im zweiteren Falle (und sofern eine solche Bewegung sich politisch vollständig durchsetzt) die Gesellschaftsordnung, die im Anschluss an eine solchermaben inspirierte Umwälzung errichtet wird, eine autoritäre ist und nicht etwa emanzipative Züge trägt. Dies hat die iranische Erfahrung ab 1979 demonstrativ belegt.  

Aber was die Entwicklungsdynamik politisch-islamischer Bewegungen (vor ihrer potenziellen Machtübernahme) betrifft, so handelt es sich um einen Widerspruch, der sie unter Umständen zerreiben kann. Dies drohte dem algerischen FIS mehrfach in seiner – kurzen – Geschichte. Nur der äuberst rapide Aufstieg dieser Partei, die 1989 mit dem Zusammenbruch des vormaligen Ein-Parteien-Staates gegründet wurde, zur Massenorganisation innerhalb von wenigen Monaten verhinderte ein Auseinanderbrechen der verschiedenen Fraktionen. Doch immer wieder zog es die Partei, solange sie frei agieren konnte, in (mindestens) zwei Richtungen, die einer pseudo-sozialrevolutionären Bewegung einerseits und einer «verantwortungsbewusst» handenden politischen Partei eher konservativen Charakters andererseits; nebst dritten Kräften, die eine vorwiegend spirituelle und moralisierende Dimension gegenüber den «Niederungen der Politik» vorziehen wollten.   

Nicht unwahrscheinlich ist, dass heute -- wo sich die Wogen der Bürgerkriegsperiode und ihrer Nachwehen über die letzten Jahre hinweg geglättet haben -- das Regime selbst an eine Reaktivierung vor allem der konservativen Tendenzen in diesem politisch Gemenge denkt. Würden sich diese auf die eine oder andere Weise als sozialer Ordnungsfaktor einbinden lassen, so könnte dies auf das bestehende Regime sogar stabilisierende Wirkung haben. Voraussetzung dafür ist, dass sich nicht erneut eine brisante Mischung ergibt, die dafür sorgt, dass eine solche Bewegung von einer sich radikalisierenden Basis angetrieben wird und sie sich jeglicher Kontrolle durch das Establishment zu entziehen droht. 

Prämissen zu einem Dialog mit dem Regime? 

Rabah Kebir könnte, so scheint man jedenfalls seitens des Regimes zu meinen, für einen solchen «Dialog» mit den Machthabern durchaus in Frage kommen. In diesem Sinne hat man ihn anscheinend schon früher, jedenfalls auf relative Weise, zu schonen versucht. 

Die Umstände der früheren Ausreise Rabah Kebirs ins deutsche Exil sind bis heute von Mutmabungen und Gerüchten umrankt. Infolge des Abbruchs der Parlamentswahlen, welche die Islamische Rettungsfront (FIS, arabisch Dschabha al-islamiya lil-inqad) faktisch gewonnen hatte, zwischen den beiden Wahlgängen im Januar 1992 kam auch Rabah Kebir ins Visier der Behörden. Am 28. Januar 1992 wurde er daraufhin wegen «Anstiftung zum Aufruhr» inhaftiert. Die Partei wurde wenig später gerichtlich aufgelöst und verboten. Aber am 31. März desselben Jahres kam er aus der Haft frei, die Strafverfolgung gegen ihn wurde vorläufig eingestellt. Am 2. April wurde er im ostalgerischen Collo unter Hausarrest gestellt. Doch er konnte im August 1992 über die algerisch-marokkanische Grenze ausreisen und trat die Flucht in die Bundesrepublik an; deutlich später wurde er in Algerien in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der algerische Journalist Hassane Zerrouky, ein strikter Gegner der Islamisten seines Landes, schrieb darüber in einem seiner Bücher, das im Jahr 2002 in Paris erschien: «Man kann der Auffassung sein, dass bestimmte Kräfte innerhalb der Staatsmacht seine Flucht organisiert haben, um im Falle einer eventuellen Verhandlung (mit der verbotenen Islamistenpartei) über einen politischen Gesprächspartner zu verfügen.» 

Tatsächlich war das Regime immer wieder, in wechselnden historischen Phasen, auf der Suche nach berechenbaren Ansprechpartnern unter den Islamisten, um deren Einbindung ins bestehende System zu proben. 1994 und 1997 wurden jeweils einige der höchsten Führungsmitglieder des FIS freigelassen. Dagegen blieb der Chefideologe der Partei, Ali Belhadj («Nummer Zwei» in der Hierarchie der Islamischen Rettungsfront und Vertreter des «radikalen» Flügels) inhaftiert, da er jede Abmilderung seiner Gefangenschaft mit einer Ermutigung der terroristisch agierenden GIA beantwortete. Im August 1994 war seine Haft in Hausarrest, den er in einer Staatsresidenz zu guten Konditionen und mit Telefon- und Fax-Anschluss zubringen sollte, umgewandelt worden. Doch im September wurde bei einem getöteten GIA-Anführer, Chérif Gousmi, ein Brief von Belhadj mit der Aufforderung zum Fortführen des mörderischen Kampfes dieser Gruppen gefunden. Ali Belhadj, der die Echtheit dieses Briefs nie geleugnet hat, wanderte daraufhin im Oktober 1994 wieder ins Militärgefängnis von Blida. 

Rabah Kebir als Chef des FIS-Apparats im Ausland hingegen erwies sich in der Optik des algerischen Staates durchaus als «moderat» bzw. berechenbar. Im Sommer 1997 schloss die bis dahin auf algerischem Boden agierende «Islamische Rettungsarmee»  (AIS, Armée islamique du salut) – der ehemalige bewaffnete Arm der Partei -- einen Waffenstillstand mit den Vertretern der Staatsmacht. Rabah Kebir, der Chef des Auslandsapparats der «Islamischen Errettungsfront» war und zudem von Deutschland aus um die Mitte der 90er Jahre eine wichtige Rolle bei der Beschaffung von Waffen für die AIS gespielt hatte, bildete dabei eine der wichtigsten politischen Stützen für den Waffenstillstandskurs und untermauerte ihn von Bonn aus mit Kommuniqués und Erklärungen. Hintergrund dafür war, dass man seitens des FIS erkannt hatte, dass der Versuch einer bewaffneten Machtübernahme auch auf längere Sicht hin nicht von Erfolg gekrönt sein würde. Zumal der gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Terror der autonomen, auf eigene Faust agierenden Gruppen und Grüppchen wie insbesondere der GIA die noch in der Gesellschaft vorhandenen Sympathien für das islamistische Gesellschaftsprojekt definitiv zu zerstören drohte. Die parteiförmig organisierten Islamisten mussten also bestrebt sein, nicht mit diesen zum Äubersten gehenden Terrorbewegungen verwechselt oder idenfiziert werden zu können. Dazu schien ab 1997 das Niederlegen ihrer Waffen durch die AIS, die (im Gegensatz  zu den autonomen Terrorgruppen wie den GIA) durch die Partei selbst kontrolliert wurde, unumgänglich. Nicht alle, aber doch die Mehrzahl der bisherigen Anführer des FIS stimmten mit dieser Linie zum damaligen Zeitpunkt überein.  

Kebir ging jedoch später einen Schritt weiter und befürwortete, im Namen der Auslandsführung des (in Algerien verbotenen) FIS, eine Teilnahme an den algerischen Präsidentschaftswahlen von 1999 und an jenen von 2004. Während manche anderen Teile der verbotenen Partei für einen Boykott dieser Wahlgänge eintraten und ihnen gar jegliche Legitimität absprachen, formulierte Rabah Kebir in beiden Fällen einen Aufruf zur Stimmabgabe. 1999 rief er im Namen des ehemaligen FIS zur Wahl des nationalkonservativ-islamischen früheren FLN-Ministers Ahmed Taleb Ibrahimi auf, der als ehemaliger hoher Staatsfunktionär einige zentrale Ideen und Wertvorstellungen der Islamisten teilte. Wie alle anderen Kandidaten (mit Ausnahme des dann gewählten Abdelaziz Bouteflika) auch, zog Taleb Ibrahimi dann aber seine Kandidatur 24 Stunden vor Öffnung der Wahllokale zurück -- da die übrigen Bewerber die Staatsmacht beschuldigten, einen breit angelegten Wahlbetrug zugunsten des «offiziellen Kandidaten» Bouteflika in die Wege geleitet zu haben.  

Bei der nächsten Präsidentschaftswahl im April 2004 rief Rabah Kebir dann sogar zur Wiederwahl des Amtsinhabers Bouteflika (>> vgl. de http://www.algerie-dz.com/article252.html  ; http://www.algerie-dz.com/article264.html ) auf. Und er bescheinigte ihm eine in Ansätze positive Bilanz, sowohl was die Schritte zu einer Überwindung der vormaligen Bürgerkriegssituation (Bouteflika hatte 1999 über 6.000 Islamisten aus dem bisherigen Untergrund amnestiert, im Austausch gegen die Abgabe ihrer Waffen) als auch die wirtschaftliche Lage anging. Auf beiden Feldern konnte tatsächlich eine Mehrzahl der Algerier spürbare Verbesserungen konstatieren, die jedoch wenig mit der persönlichen Amtsführung Bouteflikas zu tun hatten. Den allmählichen Austritt Algeriens aus dem Bürgerkrieg der neunziger Jahre konnte man vor allem auf die Niederlage einer der beiden militärischen Konfliktparteien, nämlich der bewaffneten Islamisten, zurückführen.  

Und die wirtschaftlichen Kennziffern Algeriens verbesserten sich ganz mechanisch aufgrund der Entwicklung des Rohölpreises auf den Weltmärkten: Als Abdelaziz Bouteflika erstmals sein Amt antrat, betrug der Erdölpreis auf den internationalen Märkten kaum 10 Dollar; doch als er wiedergewählt wurde, pendelte er zwischen 35 und 40 Dollar. Heute hat er ein nochmals deutlich höheres Niveau erreicht. Für ein Land wie Algerien, das zu 97 Prozent seiner Deviseneinnahmen vom Rohöl- sowie Erdgasexport abhängt, bringt dies automatisch und völlig unabhängig von der Person seines Präsidenten eine gewisse Aufhellung seiner wirtschaftlichen Situation mit sich.  

Aufbesserung der wirtschaftlichen Situation 

Im Zeitraum von 2001 bis 2005 haben sich die jährlichen Deviseneinnahmen Algeriens auf das Zweieinhalbfache erhöht. Sie stammen fast ausschlieblich aus dem Export von Erdöl und Erdgas. Dabei sind die Gesamtmengen, die exportiert wurden, kaum oder nicht gewachsen: Beim Erdgas sind sie sogar rückläufig, dagegen hat das Volumen des exportierten Rohöls um rund 25 Prozent zugenommen. Gleichzeitig aber hat sich der Geldwert allein der Rohölexporte in Devisen auf 384 Prozent ihres vorherigen Niveaus gesteigert. Dies alles ist eine mechanische Auswirkung der Preiserhöhung des Rohstoffs auf den internationalen Märkten. Aber zugleich bleibt Algerien vollständig abhängig von diesen beiden Ziffern (dem Aufkaufpreis für Rohöl und Gas) – auf Gedeih und Verderb. Und auch auf diesem Sektor bleibt Algerien strukturell zumindest zum Teil von ausländischen Firmen abhängig, die im Fördergeschäft aktiv sind. Laut Angaben des früheren Premierministers Ahmed Benbitour (in El Watan vom 7. September dieses Jahres) führten multinationale Unternehmen im vergangenen Jahr 4,7 Milliarden Dollar in Algerien erzielter Profite ins Ausland ab, und im laufenden Jahr könnten es 8 Milliarden Dollar werden. Dies entspräche allein der Hälfte der Exporterlöse von 2001 oder einem Viertel der Exporteinnahmen von 2004. 

Im Moment fällt aus diesen Gründen aber auch etwas für die algerische Bevölkerung ab. Laut Zahlen des ehemaligen Finanzministers Abdelatif Benachenhou, die im Quotidien d’Oran vom 21. September publiziert wurden,  betrug der Binnenkonsum der algerischen Haushalte im Jahgr 2001 noch 1.847 Milliarden Dinar (rund 18 Milliarden Euro). Im vergangenen Jahr seien es hingegen 2.527 Milliarden algerische Dinar gewesen. Allerdings muss dabei wohl der Inflationseffekt berücksichtigt werden. Tatsächlich befindet sich aber mehr Geld im Umlauf. Und im Jahr 2000 waren, der offiziellen Statistik zufolge, 30,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Algerien arbeitslos. Heute sind es nach offiziellen Angaben noch 15,5 Prozent, und für das Ende des Jahrzehnts werden (laut staatlichen Angaben) 8 bis 9 Prozent anvisiert. Das macht einen riesigen Unterschied.  

Zwar sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genieben, da man in Algerien inzwischen aus den Industrieländern gelernt hat, wie man solche Statistiken schönt bzw. zu politischen Zwecken auf geeignete Weise hinbiegt. Die von der Nachrichtenagentur Reuters zitierte wirtschaftliche Beraterfirma Ecotechnics schätzt, dass (>>http://permanent.nouvelobs.com/etranger/20060925.REU42060.html?0603 )  im Augenblick die reale Arbeitslosigkeit nach europäischen Mabstäben in Wirklichkeit eher bei 24 Prozent liegt. Und jenes Geld, das durch die gestiegenen Erdöleinnahmen ins Land fliebt, kommt natürlich nicht überall hin, um den überreichlich vorhandenen sozialen Bedürfnissen Abhilfe zu verschaffen. Es wird benutzt, um die Auslandsschulden Algeriens vor den programmierten Fristen abzuzahlen, und deshalb in einen gesonderten «Reservefonds» (der mittlerweile circa 65 Milliarden Dollar enthält) statt in den normalen Staatshaushalt registriert. Dem «gewöhnlichen» Regierungsbudget, aus dem die Sozial- und Infrastrukturausgaben resultieren, basiert aktuell auf der Fiktion eines Rohölpreises von 19 Dollar, während der wirkliche Rohölpreis zwischen 60 und 70 Dollar schwankt. Und innerhalb des Landes wird das vorhandene Geld oft über klientelistische Kanäle verteilt.  

Insofern kann man nicht behaupten, dass alle gravierenden sozialen Probleme Algeriens zur Zeit behoben seien.  Es genügt, einen Blick auf die Unterschiede zwischen den Kernstädten und den Vorstadtsiedlungen, die in nur 2.000 bis 3.000 Metern Entfernung liegen, zu werfen. In den kleineren Städten des Landes sind Riots und «Brotrevolten», meistens aus Anlässen wie Forderungen nach Trinkwasser in den Rohrleitungen, nach Jobs oder Sozialwohnungen, quasi alltäglich. Seit einem Regierungsbeschluss vom 20. Oktober 2004 geht die Staatsmacht nunmehr gegen solche spontan ausbrechenden Protestbewegungen, ebenso wie gegen «wilde» Streiks (gegen die der Beschluss sich vorrangig richtete), nunmehr ausdrücklich repressiv vor. Aber dennoch hat die Lage vieler Bevölkerungskreise in Algerien sich gegenüber der, die man noch vor 5 Jahren antraf, spürbar gewandelt. Geld ist im Umlauf, wenn es auch oft über Schwarzmarktkanäle zirkuliert. Junge Leute haben bestimmte Aussichten auf Jobs, und wenn es auch nur im Dienstleistungssektor wie im Akal Hafif (= Fastfood) ist. Für viele Menschen drückt der Horizont nicht mehr ganz so tief, wie noch vor wenigen Jahren.  

Aber wehe dem Land an dem Tage, an dem Rohölpreis wieder nach unten kippt... ! Dann dürfte sich die Frage nach einer möglichen neuen Dynamik des politischen Islam eventuell noch einmal neu stellen. Derzeit erscheint dieselbe durch die Beruhigung der innenpolitischen und der wirtschaftlichen Sitution klar eingedämmt. 

Streit innerhalb des islamistischen Spektrums 

Um die Positionen Kébirs, und generell um die richtige Strategie unter den sich verändernden Bedingungen in Algerien, gab es schon früh Streit. Konflikte fanden sowohl zwischen der Auslandsführung des FIS unter Rabah Kébir und einem Teil der innerhalb des Landes verbliebenen (und aus der Haft entlassenen) Parteifunktionäre statt, als auch unter den Exilpolitikern verschiedener Tendenzen des FIS. Am 3. und 4. August 2002 hielt ein Teil des Auslandsapparats der Partei einen Kongress in Brüssel ab, den ersten des FIS seit über 10 Jahren -- der Auslandskongress hatte ursprünglich im Herbst 2001 und mutmablich in London stattfinden sollen, doch dann wurden die Planungen dafür durch den 11. September und dessen Auswirkungen verhindert. Der im Folgenden dann doch noch veranstaltete Exilkongress erklärte Rabah Kébir für abgesetzt (vgl. >> http://www.algeria-watch.org/farticle/fis-ais/congres_bruxelles.htm ), zugunsten des in Genf ansässigen Physikers Mourad Dhina vom «radikaleren» Flügel des FIS. Dies wiederum wurde von anderen Teilen des FIS nicht anerkannt, zumal man Rabah Kébir und seine Anhänger gar nicht erst zur Teilnahme an dem Kongress zugelassen hatte. 

In Algerien, wo zumindest Teile der Exilfunktionäre des FIS nun wieder Fub zu fassen scheinen, hat sich die islamistische Landschaft nunmehr klar zwischen zwei Gegenpositionen polarisiert. Der frühere Parteivorsitzende des 1989 gegründeten und 1992 verbotenen FIS, Abassi Madani hat Algerien wenige Monate nach der Beendigung seiner Haft (die seit 1997 in Hausarrest umgewandelt worden war) im Jahr 2003 verlassen und ist in den Golfstaat Qatar ausgereist. Dort lebt er bis heute. Abassi Madani hatte lange Jahre als «über den widerstreitende Tendenzen stehende» Integrationsfigur, und zugleich (vor allem aus Sicht der Hardlinern) tendenziell als Opportunist gegolten. Nunmehr bleibt auf der einen Seite der frühere Chefideologe und –prediger, der allem unter den ideologisch gefestigten und gestählten Elementen der Islamisten hohe Popularität genoss und möglicherweise noch immer geniebt: Ali Belhadj. Auch er wurde im Juli 2003 aus der zwölfjährigen Haft entlassen, zu der er nach den Strabenkämpfen vom Juni 1991 verurteilt worden war. Eine Haftperiode, die er aber –- im Gegensatz zu Abassi Madani und manchen anderen Parteifunktionären –- aufgrund seiner absoluten Kompromisslosigkeit bis zur letzten Minute im Militärgefängnis von Blida verbringen musste.  

Juristisch unterliegt Ali Belhadj einem totalen politischen Betätigungsverbot, das er aber seit längerem nicht einhält. 2004 ging er sogar persönlich in den Regierungspalast, um die Unterlagen für eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl abzuholen, wurde aber von dort verjagt. Im Juli 2005 wandte er sich in einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender Al-Jazeera an «meine Brüder» von der Organisation «Al-Qaïda im Zweistromland», die kurz zuvor zwei algerische Diplomaten im Irak entführt hatte. Die Übertragung wurde jedoch unsanft unterbrochen -- frei nach dem Motto: «Horch, was kommt von drauben rein» --, da algerische Sicherheitskräfte noch während des Interviews vor laufenden Kameras und Mikrophon in die Wohnung von Ali Belhadj eindrangen. Kurz darauf wurde bekannt, dass der irakische Al Qaïda-Ableger die beiden Diplomaten ermordet hatte. Dumm gelaufen! Belhadj wanderte für die nächsten Monate wegen «Apologie des Terrorismus» erneut in Haft, obwohl sein Bruder in der Öffentlichkeit feierlich beteuerte, Ali Belhadj habe im nächsten Atemzug seine «Brüder» zur Freilassung der beiden Algerier auffordern wollen -- es sei ihm nur die Verhaftung dazwischen gekommen. In dem Teil des Interviews, der zuvor gesendet worden war, hatte Belhadj freilich vor allem den Kampf der Islamisten im Irak begrübt und die Präsenz der beiden algerischen Staatsrepräsentanten dort als illegitim bezeichnet, da sie die Besatzung legitimiere.    

Im Zuge der in den letzten Monaten durch Präsident Bouteflika angeordneten «nationalen Aussöhnung» kam auch Al Belhadj am 6. März dieses Jahres (vgl. Ankündigung mitsamt Foto >>> http://www.spcm.org/Journal/article.php3?id_article=1172 ) wieder aus der Haft frei. Eine seiner ersten Initiativen bestand darin, am 11. März erneut vor das Gefängnistor zu ziehen, als dort ein anderer Häftling entlassen wurde. Es handelte sich um den 1993 verhafteten, ehemaligen GIA-Anführer Abdelhak Layada, der damals einer der ersten nationalen «Emire» oder Befehlshaber der GIA (Bewaffneten islamischen Gruppen) gewesen war. Damit drehte Ali Belhadj kurzerhand der -- auch unter einigen europäischen Linksintellektuellen in der Vergangenheit zeitweise beliebten –- Legende den Hals um, wonach die GIA in Wirklichkeit durch die algerische Armee oder Geheimdienste gegründet worden seien und angeblich nichts mit den pareteiförmig organisierten radikalen Islamisten in dem nordafrikanischen Land zu tun hätten, sondern diese nur durch ihre Mordtaten diskreditieren sollten. In einem längeren Interview mit Ali Belhadj, das die Pariser Abendzeitung ‘Le Monde' am 04. April dieses Jahres abdruckte, leugnet der ehemalige Chefideologe des FIS seinen Empfang für den ehemaligen GIA-Kämpfer am Gefängnistor auch überhaupt nicht. Er beruft sich lediglich darauf, dass die blutrünstigsten Taten der GIA erst nach 1993, also später als die Verhaftung Layadas, verübt worden seien. 

Das trifft insofern auch tatsächlich zu, als die Kollektivmassaker der GIA an der Zivilbevölkerung ganzer Stadtteile oder Dörfer in Algerien vor allem auf den Zeitraum 1996 - 98 fielen. Damals wählten die GIA, die zunehmende Abwendung der Zivilbevölkerung von ihrer blutig verfolgten islamistischen Utopie verspürend, eine Strategie der Einschüchterung durch blanken Terrir, die sie freilich rapide noch stärker isolierte. Aber bereits 1993 hatten die GIA beispielsweise ein Dutzend kroatische Bauarbeiter in Nordostalgerien massakriert, nachdem diese zuvor von ihren bosnischen Kollegen -– die als Muslime verschont blieben –- getrennt worden waren. Ihnen wurde die Kehle durchschnitten. Auch italienische Seeleute in der Hafenstadt Jijel und eine mit einem Algerier verheirateten Russin hatten die GIA bereits 1993 ermordet. Auch die Attentate der GIA auf algerische Intellektuelle hatten 1993 bereits begonnen. 

Auf der anderen Seite stehen jene Kader des algerischen Islamismus, die zu der Auffassung geraten sind, dass nur eine Strategie, die das seit vorigem Jahr durch das Regime abgegebene Angebot zur «nationalen Aussöhnung» aufgreift, ihnen Erfolg verspricht. Zu ihnen zählt Rabah Kébir ebenso wie der ehemalige Chef der Bewaffneten des FIS, Madani Mezrag. Dies sagt noch nichts über ihre längerfristigen Absichten aus. Zumindest für einen Teil unter ihnen dürfte es sich letztendlich um eine Neuauflage der alten politischen Pläne von «damals», also aus der Hochphase des FIS zwischen 1990 und 92, handeln. Auch wenn Rabah Kebir im Interview mit ‘Liberté’ betont, er sei mit rund dreibig Jahren aus Algerien fortgegangen und mit annähernd 50 dorthin zurück gekommen, so dass sich «(s)eine Ideen und seine Sicht der Dinge naturgemäb entwickelt» hätten. Dies mag auf individueller Ebene durchaus zutreffen, aber die Frage wird längerfristig sein, ob und ggf. welche politische Dynamik eventuell aus den Überresten des algerischen Islamismus noch entspringen kann. 

Aber was hat es nun mit dieser «Politik der nationalen Aussöhnung» (Réconciliation nationale oder al-musalaaha al-wataniya) unter Präsident Bouteflika in Wirklichleit auf sich? Und bietet sie den Islamisten eher Chancen, oder aber versperrt sie ihnen eher Türen, sofern sie einen neuen Radikalisierungsprozess in ihrem Sinne anstreben sollten? 

Bouteflikas «nationale Aussöhnungspolitik»   

Diese «Aussöhnung» war zunächst von oben, durch die Staatsmacht angeordnet worden, bevor das algerische Wahlvolk im Referendum vom 29. September 2005 darüber abstimmen durfte. Im Kern ging es dabei um eine Amnestierung sowohl bewaffnet kämpfender Islamisten und Terroristen als auch der Urheber von Verbrechen (wie «Verschwindenlassen» und Folter) auf staatlicher Seite: Unter all das sollte ein dicker Schlussstrich gezogen werden, und an die Stelle jeglicher Form von Aufarbeitung oder Wahrheitsfindung sollte eine finanzielle Entschädigung treten. Dabei sollten sowohl die Angehörigen der Terroropfer, die von den bewaffneten Gruppen unter der Zivilbevölkerung gefordert wurden, als auch die Familien von Opfern des «Verschwindenlassens» Berücksichtigung finden. Das war insofern neu, als damit der Staat zum ersten Mal – indirekt – eine Verantwortung für die «Verschwundenen» übernommen hat, deren Zahl nunmehr mit rund 7.000 angegeben wurde. Doch unabdingbare Voraussetzung, um in den Genuss einer pekuniären Entschädigung kommen zu können, war der Verzicht auf Nachforschungen über die Verantwortung für die (staatlichen wie auberstaatlichen) Gewaltexzesse, die all diese Opfer hinterlassen haben. Gleichzeitig wurden jene, die den solchermaben verordneten «Frieden» in Sachen Erinnerung stören sollten, mit Strafverfolgung bedroht.  

Der Preis für die Entschädigungszahlungen, nämlich der Verzicht auf die Wahrheit darüber, wer die eigenen Angehörigen ermordet hat, ist hoch. Deshalb gab es damals Kritik sowohl von Seiten der Opfer des bewaffneten Islamismus in Algerien, als auch seitens der Familien von Opfern mutmablich staatlicher Gewalt. Aber kritische und abweichende Stimmen wurden damals, im Vorfeld der Abstimmung, rasch erstickt. 

Die Ergebnisse des Votums vor genau einem Jahr sind nach wie vor umstritten. Da die Opponenten zum Boykott der  Abstimmung aufgerufen hatten, aber kaum jemand zum aktiven «Nein»-Stimmen aufrief, bezweifelt zwar fast niemand die hohe Zustimmungsrate von 97 Prozent. Aber die offiziellen Angaben zur Beteiligung an der Abstimmung –- die angeblich fast 80 Prozent erreichte, obwohl in- wie ausländische Journalisten von überall her über gähnend leere Stimmlokale berichteten – erwecken in breiten Kreisen erhebliche Zweifel. In der Bevölkerung überwog im allgemeinen zwar nicht die aktive Opposition oder dezidierte Ablehnung, aber die Skepsis und resignative Gleichgültigkeit.  

Motive des Präsidenten 

Ganz offenkundig handelt es sich bei dem verordneten Schlussstrich nicht um eine Versöhnung bisher verfeindeter Teile der Gesellschaft untereinander, sondern vor allem um ein Anliegen der Staatsmacht. Ihr ging es darum, in Zeiten, da die Machthaber glauben den sozialen Frieden kaufen zu können – die Staatskassen sind aufgrund des gestiegenen Rohölpreises in den letzten 3 Jahren, zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert, gut gefüllt – für innenpolitische Ruhe zu sorgen.  

Hinzu kommt noch das persönliche Anliegen von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika, eine Statur als grober Aussöhner und Einiger der gespaltenen Nation anzunehmen. Die Tatsache, dass Bouteflikas Amtsantritt Anfang 1999 faktisch mit dem Ende des offenen Bürgerkriegs in weiten Landesteilen zusammenfiel, brachte ihm damals erhebliche Popularität ein: Viele Algerier hielten ihm zugute, dass sie nicht mehr jeden Abend mit Furcht um ihr Leben schlafen gingen. Vor diesem Hintergrund konnte Bouteflika mit der ersten Volksabstimmung über eine (auf 6 Monate begrenzte) Amnestieinitiative, die das Problem der noch verbliebenen bewaffneten Islamisten regeln sollte, im September 1999 einen groben Erfolg landen. In breitesten Kreisen bestand damals Einigkeit, dieses Vorhaben zu unterstützen, um «die Bürgerkriegszustände zu beenden, egal wie». Die Zustimmung zu der damaligen Vorlage Bouteflikas, die nach offiziellen Angaben 98 Prozent betrug, war damals weitgehend tatsächlich echt. Nunmehr dachte Bouteflika, ihm könne eine Neuauflage dieses damaligen Erfolges als «Retter der Nation» gelingen, als er am 1. November 2004 seine neue Initiative zur «nationalen Aussöhnung» ankündigte. Also am 50. Jahrestag des Ausbruchs des Unabhängigkeitskrieges gegen die französische Kolonialmacht (1. November 1954), einem überaus wichtigen und symbolkräftigen Datum.  

 Vor diesem Hintergrund gedachte Bouteflika wohl, sich auch gleich noch seinen Traum von der Quasi-Präsidentschaft auf Lebenszeit zu erfüllen. Als nächster Schritt des Präsidenten, nachdem das Gesetz zur «nationalen Aussöhnung» mit dem Referendum vom September 2005 und der Verabschiedung des Gesetzes im Februar 2006 über die Bühne gebracht worden ist, steht nämlich nun noch eine Verfassungsänderung an. Auch über sie soll, mutmablich in einigen Monaten, eine zusätzliche Volksabstimmung anberaumt werden. In ihr soll es um eine Aufhebung der bisherigen Beschränkungen für die Ausübung des Präsidentenamts (nur zwei Mandate hintereinander sind möglich) sowie um die Schaffung eines strafferen Präsidialregimes gehen. Der Posten des Premierministers soll möglicherweise abgeschafft werden, um das Staatsoberhaupt direkt in die Regierungsgeschäfte eingreifen zu lassen. Auch soll möglicherweise ein Vizepräsidenten-Posten geschaffen werden. Näheres ist aber im Moment noch unbekannt. Ein mögliches Hindernis könnten die bislang rätselhaften Abwesenheitsperioden von Präsident Bouteflika darstellen. Im November und Dezember 2005 hielt er sich etwa in einem Krankenhaus in Paris auf, angeblich nur wegen eines Magengeschwürs, während in Algerien Gerüchte über eine viel schwerere Erkrankung kursierten. Vom 15. Juli dieses Jahres bis zum 4. September war Bouteflika dann «verschwunden», ohne dass man ein Lebenszeichen von ihm vernommen hätte, auch als hoher Staatsbesuch in Algier weilte wie etwa der Sondergesandte von Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Gemunkelt wird, dass Bouteflika eine ernsthafte Krankheit mit sich herumschleppe und plane, bis zu seinem letzten Tag im Amt zu bleiben, um so in die Geschichte einzugehen. Angeblich möchte Bouteflika auch deshalb die verfassungsrechtlichen Beschränkungen seiner Amtszeit, die normalerweise 2009 ausläuft, abschütteln. 

Eher schwache Auswirkungen des «Aussöhnungsangebots» 

Am 28. Februar dieses Jahres trat, nachdem der längere krankheitsbedingte Ausfall Bouteflikas für einige Verzögerungen gesorgt hatte, das Gesetz zur Amnestie und zur finanziellen Entschädigung von Bürgerkriegsopfern bzw. ihrer Angehörigen in Kraft. Es sollte das Fundament für die geplante «nationale Aussöhnung» bilden. Doch die Ergebnisse blieben hinter den hochgesteckten Erwartungen des Inhabers des höchsten Staatsamts zurück.  

Dem neuen Gesetz zufolge hatten die noch bewaffnet kämpfenden Islamisten sechs Monate --  also bis zum letzten Tag im August – Zeit, um ihre Waffen niederzulegen. In diesem Falle sollten sie von dem Amnestieangebot profitieren können. Danach sollten Polizei und Armee den «Unbelehrbaren»,  die in ihren Unterkünften (in den meisten Fällen Kasematten in den Bergen östlich von Algier) blieben, zu Leibe rücken. Die letzte gröbere Amnestieinitiative, jene von 1999, wies ein ähnliches Strickmuster auf: Auch sie wies eine Ausschlussfrist von 6 Monaten auf. Damals hatten über 6.000 Männer aus dem islamistischen Untergrund bei dem Amnestieangebot zugegriffen.  

Doch als Ende August dieses Jahres in Algier eine (vorläufige) Bilanz nach Ablauf der sechs Monate gezogen wurde, war von nur 250 radikalen Islamisten die Rede, die ihre Waffen niedergelegt hätten. Einige Tage später wurde diese Zahl auf «ungefähr 300»  leicht nach oben korrigiert. Dagegen ist nunmehr offiziell die Rede davon, dass nach wie vor 800 bewaffnete Islamisten im Untergrund seien; ansonsten variieren die Angaben über die verbliebenen Kämpfer bisher zwischen 300 und 1.000  Sie gehören überwiegend zur «Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf», dem GSPC (le Groupe salafiste pour la prédication et le combat, oder arabisch: Jamaa al-salafiya lil-dawa wal-qilal).  

Ferner gab Innenminister Yazid Zerhouni am 3. September vor der algerischen Presse zu Protokoll, dass die Sicherheitskräfte binnen eines Jahres «500 Terroristen getötet oder gefangen genommen» hätten. Diese Zahlen bedeuten aber nicht nur, dass die Mehrzahl der noch im Untergrund kämpfenden Islamisten ihre Waffen nicht niederlegen mochte. Sie sind vor allem ein Anzeichen dafür, dass diese Gruppen nach wie vor auch neue Kämpfer aus ihrem Umfeld rekrutieren können. Denn die Gesamtzahl der Ausgestiegenen, der weiterhin Kämpfenden und der Getöteten ist höher als die vor einem Jahr angegebene Gesamtzahl der Angehörigen des islamistischen Untergrunds (damals offiziell 700).  

Ursächlich für die bisher relativ geringen Auswirkungen der Amnestieinitiative dürfte unter anderem sein, dass auberhalb der islamistischen Gruppen ein ideologisches Vakuum herrscht. Seitdem die wirtschaftliche Situation sich, aufgrund des gestiegenen Rohölpreises, aufgebessert hat – heute sind offiziell 15 Prozent in Algerien arbeitslos, im Jahr 2000 waren es offiziell 30 Prozent – gehen viele Menschen ihren Geschäften nach. Eine politische Diskussion findet kaum statt, und wird durch das immer stärkere Präsidialregime in den letzten Jahren auch zunehmend erstickt. Politische Alternativen, die eine Anziehungskraft entwickeln könnten, scheint es auberhalb des Islamismus kaum zu geben – auch wenn dieser, aufgrund der Bluttaten in den 90er Jahren, in den Augen vieler Algerier ebenfalls diskreditiert ist. An seine Stelle ist aber keine andere Utopie, kein anderer Hoffnungsträger getreten.  

Algerische Islamisten und Al-Qaïda 

Chancen auf irgendeine Art des politischen Umsturzes oder der bewaffneten Machteroberung hat der GSPC zwar auf keinen Fall -- nachdem dies schon den weit stärkeren bewaffneten Islamistenbewegungen in den 90er Jahren (die zeitweise bis zu 27.000 Mann, über unterschiedliche Gruppen verstreut, unter Waffen hatten) nicht gelungen ist. Aber noch immer kann die Organisation auf örtlicher Ebene einen beträchtlichen Schaden anrichten.           

Der GSPC hat im Juli und August dieses Jahres rund 100 Menschen getötet, etwa durch Anschläge auf Bürgermeister und Kommunalbedienstete im Bezirk Boumerdès (40 bis 50 Kilometer östlich von Algier) sowie auf Polizisten und Militärs. Einen Schwerpunkt der Kämpfe zwischen Staatsorganen und GSPC bildet die Kabylei, die Region der berberischen Minderheit rund 100 Kilometer östlich der Hauptstadt. Der harte Kern der im  dortigen Bergland in ihren Unterschlüpfen verbleibenden Islamisten machte in den Tagen, in denen die Frist für das offizielle Amnestieangebot auslief, seine Ablehnung durch eskalierende bewaffnete Aktionen klar. 

Am Abend des 29. August, kurz vor dem offiziellen Ende der Frist, starben zwei Polizisten und ein Geschäftsbesitzer bei einer Schieberei mit dem GSPC in der Innenstadt von El-Kseur (in der Nähe der Bezirkshauptstadt und Hafenmetropole Béjaïa). Am 6. September wurde ein Bombenattentat auf den Chef der Sicherheitskräfte von Beni Douala, in der Nähe der Bezirkshauptstadt Tizi-Ouzou, vereitelt. Im Stadtzentrum von Tizi-Ouzou wurden am selben Tag zwei mutmabliche bewaffnete Islamisten erschossen. Laut Polizeiangaben sollen sie neue Anschläge geplant haben. Im Bergland von Akbou, ebenfalls in der berbersprachigen Region, begann die Armee im selben Zeitraum eine gröbere Operation gegen den bewaffneten Untergrund.  

Doch in der zweiten Septemberwoche konnten die staatlichen Sicherheitskräfte dem GSPC einen relativ schweren Schlag versetzen: In der Hafenstadt Béjaïa hoben Polizei- und Gendarmeriekräfte in zwei peripheren Stadtteilen Chemielabors aus, die dem GSPC allem Anschein nach als Bombenwerkstätten gedient hatten. Die Stadt mit 300.000 Einwohnern hatte bis dahin als «ruhig» gegolten, hatte dem harten Kern des GSPC aber allem Anschein nach längere Zeit als «ruhiges Hinterland» zur Vorbereitung seiner Operationen gedient. Zerschlagen ist die Organisation damit nicht, zumal ein Teil ihrer Aktivisten sich in die Sahara geflüchtet zu haben scheint, wo ihnen eine lockere Kooperation mit Zigaretten- und Autschlugglerbanden zum Überleben verhilft. Eine Reportage der französischen Regenbogenzeitschrift Paris Match vom 21. September berichtet (sensationistisch aufgemacht) von einer Gruppe gefangener GSPC-Mitglieder in jener Zone der Sahara, die Algerien mit den Nachbarländern Mali, Niger und Tschad verbindet.  

«Al Qaïda in der Sahara»? 

Die US-Administration hat die nordafrikanische Wüste deshalb bereits zum neuen «Schauplatz des (weltweiten) Krieges gegen den Terror» und zum «zweiten Afghanistan» erklärt. Zumal der GSPC tatsächlich Verbindungen zum Netzwerk Al-Qaïda unterhält.  

Anlässlich der Gründung des GSPC, der sich 1998/99 von den «Bewaffneten islamischen Gruppen» GIA abspaltete –- weil eine Reihe von Kadern begonnen hatten, ihren blutigen Terror gegen die Zivilbevölkerung für die eigenen Ziele kontraproduktiv zu finden –- appellierten die Gründer an Al-Qaïda. Da das transnationale Netzwerk mit Geldern aus Teilen der saudi-arabischen Elite ausgestattet ist und als finanzkräftig gilt, bat man um finanzielle Unterstützung beim Aufbau einer neuen Organisation in Algerien. Letztere sollte sich stärker auf den Kampf gegen Repräsentanten des Regimes, gegen Polizisten und Militärs konzentrieren als die GIA, die in einer blutigen Flucht nach vorn alle als «Ungläubige» oder Apostaten verdammten, die ihr fürderhin die Unterstützung verweigerten. Solche Unterstützung wurde dem GSPC nach Auffassung der algerischen Presse und der staatlichen Sicherheitskräften (in gewissen Grenzen) auch gewährt.  

Aber bis vor kurzem schien das Netzwerk Al-Qaïda eher skeptisch bezüglich der Aktionen der algerischen Salafistengruppe zu bleiben, diese wurde seitens von Al-Qaïda nie öffentlich erwähnt. Doch im aktuellen Monat bekannte sich Al-Qaïda erstmals öffentlich zu ihren Kontakten zum GSPC: In seiner Botschaft, die am 11. September 2006 publik wurde, appellierte der ägyptische Al Qaïda-Funktionär Ayman al-Zawahiri unter anderem an die algerische Gruppe, «die Koalition der Kreuzfahrer, Franzosen und Amerikaner» zu treffen. In einem Kommuniqué, das am 14. September im Internet publiziert wurde, antwortete die algerische Salafistengruppe, indem sie Al-Qaïda die Treue schwor und gelobte, «unseren Djihad in Algerien fortzusetzen».  

Ein solches offenes Andocken an eine ausländische bzw. transnationale Kraft als Unterstützung wird allerdings durch algerische Quellen, wie durch die Tageszeitung Liberté, eher als Zeichen der Schwäche des GSPC innerhalb Algeriens ausgelegt. Die offene Selbstdarstellung als Teil eines internationalen Netzwerks bringe dem GSPC keine zusätzliche Unterstützung innerhalb Algeriens selbst ein, sondern unterstreiche vielmehr seine völlige Unfähigkeit, heute (oder auch nur mittelfristig) dort die Machtfrage zu stellen. Auch die parteiförmig organisierten Islamisten distanzieren sich überwiegend vom GSPC, und dies insbesondere mit der Begründung, er sei vom Ausland aus gesteuert, während man selbst (islamische) Lösungen in Algerien und für Algerien suchen. In seinem Interview  von dieser Woche in der algerischen Presse erklärt etwa der frisch zurückgekehrte FIS-Funktionär Rabah Kébir: «Ich habe keinerlei noch so winzige Verbindung zu dieser Organisation. Unterdessen bin ich gegen jede Verbindung mit einer ausländischen Partei, da dies nicht im Interesse Algeriens liegt.» Kébir wendet sich ferner gegen «den Import von Modelln, wie dem der Taliban». Hingegen hat sich der «Radikale» Ali Belhadj bislang nicht zu einer Distanzierung vom GSPC hinreiben lassen. Er scheint allerdings auch keine Kontakte zu ihm zu besitzen, jedenfalls deutet bisher nichts darauf hin.    

Dagegen sieht die US-Administration offiziell Nordafrika als neuen, wichtigen Brandherd des internationalen islamistischen Terrorismus. Diese Darstellung ist aber hemmungslos (aufgrund strategischer Eigeninteressen) übertrieben, da es sich de facto nur um Kleingruppen handelt, die die Sahara keineswegs kontrollieren -- sondern die darauf angewiesen sind, dass traditionell dort lebende Nomaden- oder Schmugglergruppen sie über Wasser halten. Den USA dient das Schreckensszenario «Al Qaïda in den Weiten der Sahara», das ein Stück weit eine Fata Morgana darstellen dürfte, unterdessen als Rechtfertigung für das Bestreben, eine ständige Militärpräsenz im gesamten nordafrikanischen Sahararaum zu unterhalten. Die dortigen Operationen werden vom US-Hauptquartier in Stuttgart aus koordiniert. Dorthin lud der US-Oberkommandont im März 2004 staatliche Repräsentanten aus einer Reihe von Ländern Nordafrikas und der Sahelzone (darunter den algerischen General Mohammed Lamari, der bis im darauffolgenden Sommer noch als Chef des Generalstabs amtierte) ein, um über «gemeinsame Strategien zur Terrorismusbekämpfung» zu debattieren. Und US-Truppen trainieren mittlerweile nicht mehr nur mit der Armee Malis, sondern eröffneten 2004/05 auch eine Militärbasis für ihre Special Forces in Südalgerien, rund 200 Kilometer von Tamanrassat entfernt.  

Im Gegensatz zu ihrer Haltung im vorigen Jahr ist die algerische Regierung allerdings inzwischen nicht mehr dazu bereit, ihr den Boden für eine ständige Basis auf dem Boden des Landes zu überlassen –- sondern möchte nur noch eine temporäre Basis, je nach Bedarf im Hinblick auf laufende Operationen, dulden. Seitdem der algerische Staat aufgrund gestiegener Öleinnahmen nicht mehr so tief in der Schuldenfalle sitzt –- 2006 zahlte Algerien seine Schulden an 10 Industrieländer, zuletzt im September an Deutschland, vorzeitig zurück --  und etwas unabhängiger agieren kann, tritt er auch wieder ein bisschen selbstbewusster auf. Der Quasi-Totalausverkauf des algerischen Erdöls an ausländische Konzern, der durch ein Privatisierungsgesetz vom März 2005 besiegelt worden war, ist etwa durch eine Präsidialverordnung vom 30. Juli dieses Jahres wieder stark eingeschränkt worden. Nun möchte die algerische Seite doch an sämtlichen Fördervorkommen mindestens einen Anteil von 51 Prozent behalten, während nach dem vorherigen Gesetz die algerische Beteiligung bis auf 30 Prozent, ja unter Umständen gar bis auf Null abgesenkt werden konnte. Im Moment lässt die algerische Regierung nicht mehr ganz so mit sich umspringen, wie es noch vor einem Jahr den Anschein hatte.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 3.10.06 vom Autor zur Veröffentlichung.
Eine gekürzte Fassung erschien am 30. September 2006 im Internetmagazin telepolis.

Beim UNRAST-Verlag erschien dazu pünktlich zur Buchmesse

Das koloniale Algerien
172 S., 14 EUR [D]
ISBN 3-89771-027-7
Bernhard Schmid stellt anhand der spannend erzählten Kolonialgeschichte die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzung des aktuellen Algeriens heraus, beschreibt die Ursprünge, Richtungen und Bedingungen der politischer Organisierungen in der kolonialen Phase, analysiert den Wandel der FLN von der Gegenmacht zur Staatspartei und entwickelt die Konstanten des politischen Nationalismus Algeriens.