MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE
10/07

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onlinezeitung
KAPITEL XII
LOUIS ALTHUSSER
Theo Brackmann, Steffen Kratz, Beate Verhörst
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A. ALTHUSSERS PROBLEMSTELLUNG: SITUIERUNG SEINER SCHRIFTEN IN IHREM POLITISCH-THEORETISCHEN KONTEXT (1965 FF.)

Ansatz und Intention der Althusserschen Innovation innerhalb der neueren marxistischen Theoriebildung können bei einer ausschließlichen Beschränkung auf seine Dialektikkonzeption nur um den Preis einer entscheidenden Verkürzung seines Denkens rezipiert werden. Ohne den Anspruch erheben zu wollen, Althussers Philosophieren hier in seinen Inhalten, seiner Entwicklung und Stoßrichtung darzustellen,(1) soll vor der eigentlichen Diskussion seiner Dialektikkonzeption doch versucht werden, durch eine knappe Skizzierung einiger zentraler Problemstellungen und Resultate seine Schriften zumindest ansatzweise in ihrem politisch-theoretischen Kontext zu situieren.

Althusser versteht seine Texte als Untersuchungen über „die spezitische Natur der Prinzipien der von Marx begründeten Wissenschaft und Philosophie,"(2) betont aber, daß sie „gleichzeitig Eingriffe in eine bestimmte Lage,"(3) eine theoretische, ideologische und politische Konjunktur(4) darstellen mit dem Ziel, eine „Demarkationslinie zu ziehen zwischen der marxistischen Theorie einerseits und den dem Marxismus fremden ideologischen Tendenzen"(5) in ihren verschiedenen Varianten wie Ökonomismus und Humanismus.

Neben der spezifischen Situation in der KPF, deren Mitglied er seit 1948 ist, sieht Althusser diese Konjunktur vor allem bestimmt durch die Krise der kommunistischen Weltbewegung, die Ereignisse des Pariser Mai 1968 sowie die unter dem Namen „Kritik des Personenkults" seit 1956 begonnene zaghafte Entstalinisierung, wobei die ideologischen Folgen des Stalinismus imm.er noch fortbestehen in einer „Version des Dialektischen Materialismus, die den Materialismus in eine Ontologie der Materie verwandelt, deren ,Gesetze' die Dialektik formulieren würde,"(6) um den Preis einer Stillegung des kritisch-schöpferischen und revolutionären Potentials des Materialismus sowie der Dialektik, der „Herabstufung der Philosophie zur praktischen Ideologie, die die politische Ideologie der Partei verdoppelt, indem sie ihr die Garantie dialektischer .Gesetze' liefert."(7)

Neben diesem Mißbrauch der Dialektik zur Verklärung des Bestehenden, der die wirklich marxistische Analyse der Fehler und Abweichungen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung verhindert und sie damit letzlich perpetuiert, erblickt Althusscr im Gefolge der halbherzigen Liberalisierung nach dem 20. und 22. Parteitag der KPdSU m der marxistischen Theoriebildung eine Tendenz zu einer sich auf die Marxschen Frühschriften stützenden kleinbürgerlichen Interpretation der Marxschen Werke, die er mit dem Begriff „theoretischer Humanismus" bezeichnet.(8)

Diese theoretisch-ideologische Konjunktur führt Althusser zu einer gründlichen Neulektüre der Marxschen Schriften (wie auch derjenigen von Lenin und Mao), deren Ergebnisse zunächst vor allem in „Das Kapital lesen" protokolliert wurden.(9) Dabei wendet er sich gegen eine (letztlich hegelianisch inspirierte) analytisch-ideologische Lektürekonzeption, die die Schriften des reifen Marx durch die Brille der Frühschriften liest bzw. umgekehrt oder aber die innere Einheit eines Textes dadurch zerstört, daß sie danach trachtet, in eklektischer Manier (noch) idealistische und (schon)materialistische Elemente auseinanderzudividieren.(10) Demgegenüber fordert und praktiziert Althusser eine „symptomatische Lektüre,"(11) die die interne Problematik herausarbeitet, die den jeweiligen Diskurs strukturiert. Dazu aber reicht eine buchstabengetreue Interpretation nicht aus, Aufgabe einer solchen Lektüre ist es vielmehr, auch die Leerstellen eines Diskurses aufzuspüren, d.h. seine nicht unmittelbar zugängliche Tiefenstruktur zu rekonstruieren. Das was Marx etwa im „Kapital" praktizierte, aber selbst noch nicht zu denken in der Lage war bzw. nur metaphorisch ausdrücken konnte, gilt es also auf die Ebene rigoroser wissenschaftlicher Begrifflichkeit zu heben.

Eine zentrale Frage in diesem Forschungszusammenhang ist das Problem, worin die Spezifika der Marxschen Dialektik bestehen und wie sie sich im Unterschied zur Hegelschen definiert. Althusser geht davon aus, daß Marx' explizite Äußerungen zu seiner Dialektik und seinem Verhältnis zu Hegel im wesentlichen so pauschal und metaphorisch sind (z.B. das berühmte Diktum: „Sie steht bei ihm auf dem Kopf, man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern Inder mystischen Hülle zu entdecken"),(12) daß die wissenschaftliche Klärung des Marxschen Dialektik-Begriffes immer noch als Desiderat aussteht,(13) zumal die Forschung nach Marx sich im wesentlichen entweder in der Kommentierung seiner spärlichen Äußerungen erschöpft hat oder aber versuchte, die Marxsche Dialektik unbesehen mit Hilfe der Kategorien der Hegelschen „Wissenschaft der Logik" zu bestimmen, ohne die Gefahr zu reflektieren, daß damit die spezifische Problematik Hegels in den Marxismus eingeschmuggelt wird.

Bei der Beantwortung der Frage „Worin besteht die .Umstülpung' der Hegelschen Dialektik durch Marx? Welches ist der spezifische Unterschied, der die marxistische Dialektik von der Hegelschen unterscheidet?,"(14) geht Althusser davon aus, daß ihre Lösung in praktischer Form schon vorliegt, einerseits im „Kapital" und anderen theoretischen Werken des Marxismus, andererseits in der Geschichte und den Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung und den theoretischen Reflexionen darüber. Es handelt sich also nur darum, die „theoretische Formulierung einer in der Praxis existierenden Lösung" zu leisten,(15) „d.h. von dem, was in der Mehrzahl der .berühmten Zitate' praktische Anerkennung einer Existenz ist, zu ihrer theoretischen Erkenntnis fortzuschreiten."(16)

Dabei zeigt sich, daß es, wenn man nicht in vordialektische Fragestellungen zurückfallen will, unmöglich ist wie in Anschluß an bestimmte Äußerungen von Engels(17) behauptet worden ist - das spekulative „System" Hegels von der revolutionären „Methode" zu trennen, denn es ist „unvorstellbar ..., daß die Hegel sche Ideologie nicht das Wesen der Dialektik bei Hegel selbst angesteckt haben sollte."(18) Wenn Marx von der „mystischen Hülle" der Hegelschcn Dialektik spricht, so meint er damit letztlich nichts anderes „als die mystifizierte Form der Dialektik selbst."(19) Es kann sich also nicht darum handeln, den „rationellen Kern" der Hegelschen Dialektik aus ihrer „mystischen Hülle" durch eine schmerzlose Operation herauszuschälen, gefordert ist vielmehr eine „Entmystifizierung," d.h. „ein Eingriff, der das, was er extrahiert, verändert."(20) Damit ist das Problem klar formuliert: „Wenn die marxistische Dialektik ,in ihrer Grundlage' selbst der Gegensatz der Hegelschen Dialektik ist, wenn sie rationell und nicht mystisch-mystifiziert-mystifizierend ist, (dann muß) dieser radikale Unterschied sich in ihrem Wesen, d.h. in ihren eigenen Bestimmungen und Strukturen offenbaren."(21)

Vor der detaillierten Analyse der Strukturunterschiede der Hegelschen und Marxschen Dialektik sollen abschließend noch einige kurze Bemerkungen zur theoretischen Wirkung und Rezeption der Schriften Althussers gemacht werden. Die umfangreichen Diskussionen, die Althussers Beiträge zur Dialektik, zum Historischen Materialismus, zum Ideologieproblem und zur Neubestimmung des marxistischen Philosophiebegriffs in Frankreich ausgelöst haben, können hier nicht referiert werden. Es sei nur daraufhingewiesen, daß seine Forschungen bei seinen Mitarbeitern und von ihm beeinflußten Autoren zu fruchtbaren Ansätzen auf verschiedenen Gebieten der marxistischen Theorie geführt haben. Historischer Materialismus (E. Balibar); Epistemologie (D. Lecourt, M. Fichant); Ideologietheorie (M. Pecheux); Politische Theorie (N. Poulantzas); Sprach- und Literaturwissenschaft (P. Macherey, E. Balibar); Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse (M.Tort)u.v.a.m.

Zur deutschen Situation ist zu sagen, daß eine adäquate Althusser-Rezeption immer noch aussteht, obwohl seine Schriften inzwischen fast vollständig übersetzt wurden.(22) „Die Thesen Althussers, die Analysen, in denen sie entwickelt, und die Begriffe, in denen sie gedacht werden, kollidieren ganz offenbar mit zu vielen ideologischen .Evidenzen,' die für das Selbstverständnis vieler Marxisten immer noch konstitutiv sind, als daß sie ohne nachhaltige Verunsicherung aufgenommen werden können."(23) Die bisher erschienenen Beiträge zu Althusser zeichnen sich vor allem durch Polemik (z.B. Das Argument 94. Antworten auf Althusser) und das Operieren mit einem pauschalen Strukturalismus-Vorwurf (24) (Jaeggi, Schmidt) aus. Da sie sich hauptsächlich mit Althussers Rekonstruktion des Historischen Materialismus beschäftigen bzw. seine Erkenntnis- und Philosophiekonzeption thematisieren, das eigentliche Thema dieses Artikels - sein Dialektikmodell -aber weitgehend ausgeklammert bleibt, muß ein summarischer Hinweis auf einige bisher erschienene Titel an dieser Stelle ausreichen.(25)

B. KONFRONTATION HEGEL-MARX

1. Die Struktur der Hegelschen Dialektik

Althusser gewinnt seinen Begriff der Marxschen Dialektik einerseits und der Hegelschen Dialektik andererseits durch eine permanente Konfrontation beider Standpunkte. Dies ist für Althusser keine beliebige Vorgehensweise, sondern Ausdruck seines Philosophieverständnisses. Philosophie, die in letzter Instanz „Klassenkampf in der Theorie"(26) ist, existiert nur durch ihre „konfliktuelle Differenz"(27) zu anderen Positionen. Sie definiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur über den „Umweg" anderer Positionen, durch Abgrenzung, durch das Ziehen von Demarkationslinien. Um das Verständnis zu erleichtern, soll hier jedoch erst die Struktur der Hegelschen Dialektik und dann die der Marxschen Dialektik dargestellt werden, um in einem letzten Abschnitt zur Frage des Hegelschen Erbes überzugehen.

Die Darstellung der Hegelschen Dialektik soll mit der vorläufigen Analyse von drei Beispielen aus Hegels „Phänomenologie des Geistes," der „Philosophie der Geschichte" und der „Rechtsphilosophie" begonnen werden.

Die „Phänomenologie" beschreibt die Erfahrungen des Bewußtseins, das durch die Aufhebung seiner früheren Gestalten immer reicher wird, bis es schließlich in das absolute Wissen einmündet. Die Widersprüche im Entwicklungsprozeß des Bewußtseins scheinen zunächst durchaus komplex zu sein, doch erweist sich diese Komplexität letztlich als die einer „kumulativen Verinnerlichung,(28) denn während des ganzen Durchganges durch seine verschiedenen Gestalten und die ihnen latent entsprechenden Welten stellt das Bewußtsein, das strukturell immer die gleiche Erfahrung macht, immer nur sein eigenes Wesen unter Beweis. Die auf jeder Stufe aufgehobenen Gestalten und Welten berühren das gegenwärtige Bewußtsein nicht als effektive, von ihm real unterschiedene Bestimmungen, sie sind nur Erinnerungen dessen, was es geworden ist. Die Vergangenheit existiert prinzipiell nur in der Modalität der Erinnerung, Anspielung oder Antizipation. „Weil die Vergangenheit immer nur das innere Wesen (an sich) der Zukunft ist, die sie einschließt, ist diese Anwesenheit der Vergangenheit das sich selbst gegenwärtige Bewußtsein, und keine echte, außer ihm liegende Bestimmung. Als Kreis der Kreise hat das Bewußtsein nur ein Zentrum, das allein es determiniert."(29). Eine echte Komplexität läge aber nur vor, wenn es außerhalb des Bewußtseins andere Kreise mit anderen Zentren gäbe, die es real determinierten.

Dies wird noch klarer in der „Philosophie der Geschichte." Jede historische Epoche wird hier durch eine Vielzahl von Bestimmungen konstituiert (Ökonomie, Politik, Justiz, Sitten, Religion, Künste, Philosophie etc.), allerdings reflektiert sich „diese Totalität ... in einem einzigen inneren Prinzip ..., das die Wahrheit aller dieser konkreten Bestimmungen ist."(30) Die römische Welt ist z.B. in all ihrer empirischen Mannigfaltigkeit nur die Manifestation des einfachen inneren Prinzips der abstrakten juristischen Persönlichkeit; so kann auch der diesem Prinzip innewohnende Widerspruch nur ein einfacher sein. Sein bewußter Ausdruck ist das stoische Bewußtsein, „das wohl auf die konkrete Welt der Subjektivität zielt, sie aber verfehlt."(31) Dieser Widerspruch hebt das römische Reich zugunsten seiner Zukunft, des mittelalterlichen Christentums, auf.

Betrachten wir noch das Feld der Sittlichkeit, wie es in der „Rechtsphilosophie" thematisiert wird. Die bürgerliche Gesellschaft ist hier wesentlich durch den Widerspruch definiert, denn sie ist die Sphäre der Einzelbedürfnisse, wodurch es notwendig zu widersprüchlichen Beziehungen und zum Kampf zwischen den Einzelnen (den durch ihre Bedürfnisse Vereinzelten) kommen muß. Nun sind diese Widersprüche aber im Staat als ihrer höheren Einheit aufgehoben, ja die sich in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft widersprechenden Elemente sind nichts anders als die notwendigen Erscheinungsformen der Momente ihrer gegebenen Einheit, des Staates, der somit ihr Wesen darstellt.

Diese drei Beispiele sollten zeigen, daß bei Hegel zwar auf den ersten Blick immer eine Fülle von konkreten Bestimmungen und Widersprüchen vorliegt, die aber nie eine wirkliche Komplexität bilden, weil sie immer wieder zurückgeführt werden auf ein einziges Zentrum, ein einfaches inneres Prinzip, eine Einheit, die als „Wahrheit von ...," als Wesen der äußeren Erscheinungen funktioniert.

Wenn man berücksichtigt, daß dieses einfache Prinzip, auf das alle konkreten Realitäten reduziert werden, bei Hegel immer ein geistiges ist, letztlich das Selbstbewußtsein, die Ideologie einer Epoche, wird deutlich, wie sich Idealismus und Strukturen der Dialektik bei Hegel verschränken. Nur so ist es möglich, daß Hegel die gesamte Weltgeschichte als kontinuierlichen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit durchkonstruieren kann.

Für Althusser ist nun der entscheidende Punkt der Zusammenhang zwischen dem einfachen inneren Prinzip und dem einfachen Widerspruch. Auf der Grundlage eines einfachen inneren Prinzips (Einheit) läßt sich der Widerspruch nämlich nur als einfacher fassen, oder: daß der Widerspruch, der auch bei Hegel das entscheidende weil bewegende Element der Dialektik bildet, ausschließlich als einfacher auftritt, wird erst dadurch möglich, daß Hegel von einer einfachen Einheit ausgeht.

Nachdem die zentralen Kategorien des einfachen und einheitlichen inneren Prinzips und des darauf basierenden einfachen Widerspruchs gewonnen sind, läßt sich das Grundmodell der Hegelschen Dialektik konzipieren. Es erweist sich als das Modell eines „einfachen Prozesses mit zwei Gegensätzen." Hegel geht aus von einer ursprünglichen Einheit, die sich in zwei widersprechende Teile, die die Momente der Einheit bilden, trennt. In dieser ihrer Entfremdung bleibt die Einheit aber trotzdem sie selbst, sie ist gewissermaßen die Einheit in zerrissenem Zustand. Schließlich hebt sie diese ihre Entfremdung (Negation) wieder auf, kehrt zur ursprünglichen Einheit zurück, die jedoch eine Einheit höherer Ordnung ist, bereichert durch ihre Negation, ihre Entwicklung durch die Negativität hindurch. Man sieht, wie . dieses Modell der Trias von An-sich, Für-sich und An-und-für-sich folgt und wie die entscheidenden dialektischen Begriffe Hegels eine organische Einheit mit dieser Trias bilden: Ursprung, Einfachheit (Stufe des An-sich); Spaltung, Negation, Entfremdung (Stufe des Für-sich); Negation der Negation, Aufhebung, Versöhnung, Totalität (Stufe des An-und-für-sich).

Althusser faßt diesen Prozeß folgendermaßen zusammen: „Die Hegelsche Dialektik ist ganz und gar da: d.h. vollständig festgemacht an dieser radikalen Voraussetzung einer einfachen ursprünglichen Einheit, die sich durch die Kraft der Negativität in sich selbst entwickelt und die in ihrer ganzen Entwicklung jedesmal in einer .konkreteren' Totalität immer nur diese ursprüngliche Einheit und Einfachheit wiederherstellt."(32)

In diesem Zitat tauchen die Begriffe der Selbstentwicklung und der Totalität auf, die noch der Erklärung bedürfen. Zunächst aber sei gesagt, daß der organische Zusammenhang der dialektischen Begriffe bei Hegel mit dem vorausgesetzten Gedanken einer ursprünglichen Einheit eben auch bedeutet, daß jede Dialektikkonzeption, die sich dieser Begriffe bedient, letztlich die Vorstellung einer Einheit, ihrer Zerrissenheit (Entfremdung) und ihrer schließlichen Wiederherstellung produzieren muß.

Die Kategorie der Totalität taucht auf der Stufe des An-und-für-sich auf, sie wird aber bei Hegel verstanden als der gesamte Prozeß vom An-sich zum An-und-für-sich, sie ist „die entfremdete Entwicklung einer einfachen Einheit, eines einfachen Prinzips, das selbst ein Moment der Entwicklung der Idee ist: Sie ist also, streng genommen, die Erscheinung, die Selbstmanifestation dieses einfachen Prinzips, das in allen seinen Manifestationen fortbesteht, also selbst in der Entfremdung, die seine Wiederherstellung vorbereitet."(33)

Die Totalität ist so bestimmt als der Gesamtprozeß, der die Bestimmungen eben jener Totalität entfaltet. Jene Bestimmungen sind ihr anfängliches Setzen oder die Behauptung, ihre Entwicklung oder ihre Negation und ihre schließliche Rückkehr in den Anfang, in die Einheit durch die Negation der Negation. Erst das prozeßhafte Ganze der drei Momente bildet die Totalität, und wenn Hegel das Ganze als das Wahre faßt, so kann man auch verstehen, in welcher Weise die Totalität als die Wahrheit ihrer Bestimmungen (Momente) gilt. Deren „Wahrheit" dagegen ist nur eine unentwickelte, in Bezug auf die Totalität eine „Unwahrheit."

Hier wird ersichtlich, daß Hegels Totalitätskonzeption die einer expressiven Totalität ist, in der jede konkrete Bestimmung als Ausdruck der Totalität füngiert und eine partielle Realisierung ihres Wesens darstellt. Diese nach Althusser von Leibniz entlehnte Vorstellung der pars totalis macht jede Erscheinung zur Manifestation des Wesens der Totalität, ohne jedoch mit ihr zusammenzufallen. Der Widerspruch hat nur die Funktion, die Totalität zu entwickeln durch die Explizierung eines einfachen Prinzips, er ist nur Mittel der Selbstspaltung und -entwicklung einer einfachen ursprünglichen Einheit. Der Gesamtprozeß der Totalität oder die Selbstentwicklung der Totalität als Prozeß macht auch die Figur des Kreises in der Hegelschen Philosophie verständlich. Die Totalität ist nämlich zum einen an keiner Stelle einer effektiven Veränderung unterworfen, ist immer nur der Entfaltungsprozcß eines einfachen Prinzips, das lediglich in verschiedener Form (etwa im entfremdeten Zustand) erscheint, zum anderen aber ist das Prozeßende die Rückkehr in den Anfang. Der Prozeß, die Hegelsche Totalität, hat Kreisform, genauer: sie ist ein Kreis von Kreisen, wenn man die verschiedenen Ebenen der Hegelschen Philosophie in Betracht zieht.

Die griechische Welt hat ebenso wie die römische und christlich-germanische Welt in ihrer Totalität Kreisform, und die Weltgeschichte insgesamt, die  alle diese Welten in sich begreift, hat wiederum Kreisform, sie ist der Kreis dieser Kreise, Kreis von Kreisen. Geht man auf die Ebene des Gesamtsystems, d.h. der „Enzyklopädie," wo die Weltgeschichte selbst lediglich ein Moment ist, das den Übergang vom objektiven zum absoluten Geist bewerkstelligt, so hat auch dieses insgesamt Kreisform, ist Kreis von Kreisen (Logik, Naturphilosophie, Geistesphilosophie).

Betrachtet man die Dialektik, die diesen Prozeß als Kreis entstehen läßt, so ist sie wesentlich eine Dialektik der Negativität, ihre Schlüsselbegriffe sind die der Negation und der Negation der Negation, die es erst ermöglichen, die Hegelsche Totalität in ihrer Selbstentwicklung als Prozeß darzustellen. „Die Negativität kann jedoch das bewegende Prinzip der Dialektik, die Negation der Negation, nur als die rigorose Reflexion der Hegelschen theoretischen Voraussetzungen der Einfachheit und des Ursprungs enthalten. Die Dialektik ist Negativität als Abstraktion der Negation der Negation,"(34) die ihrerseits wiederum abstrahiert ist von der Aufhebung der Entfremdung der ursprünglichen Einheit. Kurz: Die Hegelsche Dialektik weist nicht nur an ihrem Rande, sondern in ihrem Zentrum eine Ideologische Struktur auf (vgl. hierzu den Abschnitt D.).

Althusser hat eine solche ideologisch strukturierte Dialektik als absoluten „idealistischen Irrsinn"(35) bezeichnet, da dadurch die Dialektik über die zentrale (Entwicklungs-)Figur der Negation der Negation in die Lage versetzt wird, „ihre eigene Materie zu produzieren."(36)

2. Die Struktur der Marxschen Dialektik

Für Althussers Versuch einer theoretischen Formulierung der materialistischen Dialektik bildet der Widerspruch als zentrale Kategorie der Marxschen Dialektik den Ausgangspunkt seiner Analysen. Lenin, der Dialektik als „Studium des Widerspruchs im Wesen der Dinge selbst" bzw. als „Lehre von der Einheit der Gegensätze"(37) definierte, sowie Mao, der in seiner 1937 verfaßten Schrift „Über den Widerspruch" durch die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwiderspruch, Haupt- und Nebenaspekt des Widerspruchs und im Gesetz der ungleichen Entwicklung der Widersprüche die Spezifizität des Widerspruchs materialistisch weiterzudenken versuchte, gelten ihm als die zentralen marxistischen Theoretiker, die die von Marx begründete Methode weiterführten.

In der theoretischen Spezifizierung des bereits bei Marx vorhandenen dialektischen Begriffs des Widerspruchs durch Lenin und Mao wird die Existenz eines komplexen Prozesses aufgewiesen, der nicht einen einfachen, sondern verschiedene komplexe Widcrsprüche in sich enthält. D.h. es gibt, wie Mao richtig gesehen hat, keinen einfachen Prozeß mit bloß einem Gegensatzpaar, sondern immer schon gegebene komplexe Prozesse, deren Struktur durch das Nebeneinanderbestehen von mehreren ungleichen Widersprüchen gekennzeichnet ist. Das „Einfache" kann demnach immer nur als Resultat eines komplexen Prozesses auftreten, d.h. in Form einer im Prozeß der Abstraktion aus der Komplexität des immer-schon-gegebenen-komplex-strukturierten Ganzen herauskristallisierten einfachen Kategorie. Die Einfachheit ist also nicht ursprünglich, sondern erscheint als produzierte Kategorie am Ende des wissenschaftlichen Abstraktionsprozesses; die „komplexen Prozesse sind immer schon gegebene Komplexitäten, deren Reduzierung auf ursprüngliche einfache nie versucht wird, weder faktisch noch potentiell."(38) Althusser rekurriert hierbei auf Marx, der in der „Einleitung" von 1857 über die Anwendung der Begriffe der politischen Ökonomie reflektiert und dabei zeigt, „daß es unmöglich ist, zur Entstehung, zum Ursprung des einfachen Universalen der .Produktion' zurückzugehen";(39) denn jeder im Prozeß der wissenschaftlichen Produktion figurierende einfache Begriff, wie z.B. der Begriff„Arbeit," setzt die Existenz eines strukturierten gesellschaftlichen Ganzen immer schon voraus. „Wir haben es also in der Wirklichkeit niemals mit der reinen Existenz der Einfachheit zu tun, ob sie nun Wesen oder Kategorie ist, sondern mit der Existenz von .Konkretem,' von komplexen und strukturierten Prozessen."(40)

Althusser lokalisiert hier die zentrale methodologische Prämisse der Marxschen Theorie der Gesellschaft bzw. seiner Geschichtsauffassung (Historischer Materialismus), nämlich die Anerkennung des immer schon Gegebenen einer „strukturierten komplexen Einheit."(41) Auf dieser Basis läßt sich die materialistische Dialektik allererst begründen, denn die spezifische Struktur des marxistischen Widerspruchs ist „in der Marxschen Geschichtsauffassung begründet."(42) Marx hat die Realität einer Gesellschaftsformation in der Metapher von Basis und Überbau zu denken versucht, hat also reale, distinkte Instanzen unterschieden und ihnen eine Anordnung innerhalb einer Topik gegeben. Damit grenzt er sich bei der Bestimmung des Verhältnisses der verschiedenen gesellschaftlichen Instanzen von dem idealistischen Reduktionsverfahren ab, wonach eine dieser Instanzen (etwa die Basis) bzw. ein außerhalb der gesellschaftlichen Realität angesiedeltes Prinzip als Wahrheit aller Instanzen füngiert.

Die Gebäudemetapher und die Rede von der „letzten Instanz" können dies deutlich machen. In der Determination der Topik erscheint die Determination in letzter Instanz als die wirklich letzte Instanz, die marxistische Topik bedeutet somit nichts anderes, als „daß die Determination in letzter Instanz durch die ökonomische Basis nur gedacht werden kann in einem differenzierten, also komplexen und gegliederten Ganzen, in welchem die Determination in letzter Instanz die reale Differenz der anderen Instanzen, ihre relative Autonomie und ihre eigene Wirksamkeit gegenüber der Basis selbst fixiert."(43)

Die Kategorie der „letzten Instanz" hat also eine doppelte Funktion: Die Determination in letzter Instanz durch die Ökonomie bedeutet die Besetzung einer materialistischer Position gegenüber idealistischen Geschichtsphilosophien, und zugleich bedeutet die Determination durch die Ökonomie in letzter Instanz die Einnahme einer dialektischen Position und die Absetzung von mechanistischen Auffassungen, die die Ökonomie als das einzig Bestimmende ausgeben, was schon nach Engels bedeutet, „jenen Satz (von der Determination in letzter Instanz, d.V.) in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase"(44) zu verwandeln.

Die Ebene, auf der das Problem der marxistischen Dialektik angegangen werden kann, ist damit erreicht; diese hat nämlich die Aufgabe, das Denken der Beziehungen zwischen jenen realen, distinkten Instanzen, ihrer Einheit, Widersprüchlichkeit und spezifischen Wirksamkeit zu ermöglichen. Althusser will dies ausdrücken, wenn er sagt, daß „das Spiel der materialistischen Dialektik abhängt von der Anordnung einer Topik,"(45) wodurch die Hegelsche „Figur des Kreises und der Sphäre zerschlagen wird."(46) Erst die marxistische Topik gestattet „den Gedanken, daß einer Gesellschaftsformation etwas Reales passieren und daß man durch den politischen Klassenkampf in die reale Geschichte eingreifen kann."(47)

Die Spezifik materialistischer Dialektik kann auch durch die Unterscheidung verschiedener Kausalitätsmodelle verdeutlicht werden. Mit seiner Konzeption einer „strukturalen (= dialektischen) Kausalität" versucht Althusser, sich von mechanistischen und hegelianischen Modellen ideologischer Dialektik-Interpretation radikal abzugrenzen: so einerseits von der „linearen Kausalität," die von der Annahme einer einfachen Ursache und ihrer Wirkungen ausgeht, also „marxistisch" gewendet, die Basis als einzige Ursache aller Überbauphänomene erfaßt (Ökonomismus); so andererseits von der „expressiven Kausalität," die ausgehend vom hegelianischen Modell des Verhältnisses von Totalität und ihren Elementen (pars totalis) alle Teile des Ganzen (einschließlich der Ökonomie) als Momente einer Totalität begreift, die sich als einheitliche (als „Prinzip") letztlich in allen ihren einzelnen Bestimmungen nurmehr ausdrückt. Es ist dies die hegelianische Konzeption, die etwa von G. Lukäcs wieder aufgegriffen wird, bei dem das Prinzip der Totalität zwar durch die ökonomischen Verhältnisse, konkret die Warenstruktur, bestimmt wird, dieses Prinzip sich nun aber in allen Momenten der gesellschaftlichen Totalität gleichermaßen ausdrückt. Dialektische Analyse wird so zum Aufsuchen homologer Strukturen (L. Goldmann) bzw. Analogien (G. Lukacs) zwischen dem zugrunde liegenden Prinzip und konkreten gesellschaftlichen Phänomenen.

Das immer schon gegebene komplex strukturierte Ganze läßt sich in Modellen linearer und expressiver Kausalität nicht erfassen; das bei Marx aufgeworfene Problem der Determination in letzter Instanz, d.h. der relativen Autonomie des Überbaus, läßt sich weder mechanistisch noch hegelianisch lösen. Althusser versucht diese Problemstellung in der Konzeption einer strukturalen Kausalität einzufangen. Zwar spielt bei Marx die Ökonomie die determinierende Rolle, aber sie spielt diese Rolle nur in einem komplexen Gefüge. Es gilt zu begreifen, wie die ökonomischen Verhältnisse andere reale . Verhältnisse, z.B. die politischen, determinieren und wie diese wiederum auf die ökonomischen Verhältnisse zurückwirken. Mithin geht es um die Problematik der Einwirkung einer Struktur auf ihre Elemente.

Althusser hat an dieser Stelle den Begriff der Überdeterminierung, des überdeterminierten Widerspruchs, eingeführt. Es zeigt sich nämlich, „daß der .Widerspruch' von der Struktur des ganzen sozialen Körpers untrennbar ist, in dem er sich auswirkt, untrennbar von seinen formellen Existenzbedingungen und den Instanzen, die er regiert, daß er also selbst, in seinem Kern, durch sie berührt ist, in einer einzigen und gleichen Bewegung determinierend, aber auch determiniert, und zwar determiniert durch die verschiedenen Ebenen und die verschiedenen Instanzen der Gesellschaftsformation, die er belebt: wir können ihn in seinem Prinzip überdeterminiert nen~ nen."(48) Denn „die Überdeterminierung bezeichnet im Widerspruch folgende wesentliche Qualität: die Reflexion, im Widerspruch selbst, seiner Existenzbedingungen, d.h. seiner Situation in der Struktur mit Dominante des komplexen Ganzen."(49) D.h. die konkrete Bestimmung des Widerspruchs erfolgt aus dem konkreten Verhältnis zwischen seiner potentiellen Situation (d.h. der Stelle, die er prinzipiell in der Hierarchie der Instanzen im Verhältnis zur letzlich determinierenden Instanz: der Ökonomie einnimmt) und seiner faktischen Situation (seiner dominierenden oder untergeordneten Rolle in der aktuellen Konjunktur). Dabei ist das komplexe Ganze den Widersprüchen gegenüber nichts Äußerliches, wie die Hegelsche Totalität ihren Erscheinungen gegenüber „außen" ist, sondern „jeder Widerspruch, jede wesentliche Gliederung der Struktur und das allgemeine Gliederungsverhältnis in der Struktur mit Dominante bilden ebenso viele Existenzbedingungen des komplexen Ganzen selbst."(50) Denn die ganze Existenz der Struktur des komplexen Ganzen „besteht in ihren Wirkungen."(51)

Wenn nun das komplexe Ganze als eine Vielzahl von Instanzen erscheint, in der mehrere Widersprüche wirksam werden, wenn also der Widerspruch immer überdeterminiert ist und die einsame Stunde der letzten Instanz niemals schlägt,(52) dann muß gezeigt werden, in welcher Weise dieses Ganze eine Einheit bildet, damit es sich nicht als bloßer Pluralismus differenter Strukturen darbietet. Das komplexe Ganze bildet erst dadurch eine Einheit, daß es als eine gegliederte Struktur mit Dominante existiert, erst dadurch, daß man im Ganzen ein komplexes Verhältnis von Widersprüchen ausmachen kann, wobei ein Hauptwiderspruch den anderen (Neben)Widersprüchcn ihren Platz anweist, wodurch sich zwischen den Widersprüchen ein Verhältnis von Dominanz und Unterordnung ergibt. „Daß ein Widerspruch die anderen beherrscht, setzt voraus, daß die Komplexität, in der er erscheint, eine strukturierte Einheit ist."(53)

Dieser marxistische Einheitstyp („Ganzes") ist radikal unterschieden vom Einheitstyp Hegels („Totalität"). Hegel kennt auf der Ebene der konkreten Sphären einer Gesellschaft keinen dominierenden Widerspruch, sondern alle Widersprüche sind im Hinblick auf das einheitliche Prinzip ihrer Totalität gleichberechtigt. Eine gegebene gesellschaftliche Komplexität aber als Struktur mit Dominante zu fassen, ist die absolute Bedingung, um diese Komplexität als Einheit zum Gegenstand einer politisch-revolutionären Praxis zu machen. Es ist deshalb auch „kein Zufall, daß die Hegelsche Theorie der sozialen Totalität niemals eine Politik begründet hat, daß keine Hegelsche Politik existiert und existieren kann."(54)

In diesem Zusammenhang erhebt sich das Problem, wie mit der Konzeption des überdeterminierten Widerspruchs die Prozessualität der komplexen Einheit (Gesellschaft) bestimmt werden kann und wie die Grundlagen der politischen Praxis des Proletariats analysierbar werden.

Die Gesellschaft als Struktur mit Dominante begreifen heißt, sie als strukturell invariant zu erkennen, bleibt doch die Struktur mit Dominante als solche immer erhalten, denn es existiert in jeder konkreten Situation ein Hauptwiderspruch und eine Dominante. Was sich allerdings verändert, ist die Rolle der Instanzen und Widersprüche dieser Struktur, der Hauptwiderspruch kann zum Nebenwiderspruch, ein Nebenwiderspruch zum Hauptwiderspruch werden. Althusser bezeichnet dieses Phänomen als „Verlagerung", die eine erste Strukturbestimmung der Prozeßdynamik darstellt. Den aktuellen Hauptwiderspruch identifizieren bedeutet, den strategischen Knotenpunkt zu erkennen, an dem revolutionäre Politik ansetzen muß, um die existierende Einheit aufzusprengen.

Damit es aber zu einer explosiven, also revolutionären Situation kommt, bedarf es der „Verdichtung", der Verschmelzung der Widersprüche zu einer tatsächlichen Einheit. Eine solche Verdichtung als Anhäufung und Zuspitzung der historischen Widersprüche war im Rußland von 1917 gegeben. Die russische Revolution wurde erst möglich, „weil Rußland in der von der Menschheit eröffneten revolutionären Periode das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten war .. . weil es gleichzeitig die verspätetste und fortgeschrittenste Nation war, ein ungeheurer Widerspruch, den ihre untereinander uneinigen herrschenden Klassen nicht umgehen, aber auch nicht lösen konnten."(55)

Mit Hilfe dieser im Rahmen seiner Konzeption der Überdeterminierung entwickelten Kategorien, die die jeweilige aktuelle Situation des komplexen Ganzen - den Hauptwiderspruch in ihm und die Art der Verdichtung der Widersprüche - bestimmen sollen, lassen sich die verschiedenen (nichtantagonistischen, antagonistischen und explosiven) Phasen des Prozesses analytisch erfassen:

Nicht-antagonistische Phase: die „Überdeterminierung des Widerspruchs (existiert hier) in der vorherrschenden Form der Verlagerung,"(56) d.h. die Struktur mit Dominante erweist sich in ihrer existierenden Konfiguration als relativ stabil; zwar verlagern sich die Widersprüche, aber sie verdichten sich nicht. Antagonistische Phase: die „Überdeterminierung (existiert hier) in der vorherrschenden Form der Verdichtung,"(57) d.h. die Klassenkonflikte in der Gesellschaft spitzen sich zu und verschmelzen zu einer tatsächlichen Einheit.

Explosive Phase: Althusser bestimmt diese „als den Augenblick der unfesten globalen Verdichtung, der das Zerreißen und das Wiederzusammenfügen des Ganzen hervorruft, d.h. eine Restrukturation des Ganzen auf einer qualitativ neuen Ebene."(58)

C. DAS HEGELSCHE ERBE - RATIONELLER KERN UND MYSTIFIKATION

In seinen ersten Schriften hat Althusser das Verhältnis Hegel-Marx vor allem negativ durch ihre Differenz bestimmt und den Akzent auf die Diskontinuität beider Diskurse gesetzt. So schreibt er 1960 in „Über den jungen Marx" noch sehr allgemein, Marx habe sich im Kontakt mit Hegel Sinn und Praxis der Abstraktion, der theoretischen Synthese und der Prozeßlogik erworben.(59) Der Hegelschen Philosophie mißt er weniger die Funktion einer inhaltlichen „theoretischen Schulung" (formation the"orique) als vielmehr die Funktion einer „Schulung in Theorie" (formation ä la the"orie) bei, „einer Art Pädagogik des theoretischen Geistes vermittels der theoretischen Formation der Ideologie selbst."(60)

Seit „Lenin und die Philosophie" (1968) identifiziert er die Kategorie „Prozeß ohne Subjekt" als das wesentliche Erbe der Hegelschen Dialektik bei Marx.

Eine weitere Präzisierung des Verhältnisses Hegel-Marx leistet Althusser in seinem Habilitationsvortrag (1975). Dort schreibt er: „Ja, Marx stand Hegel nahe, aber zunächst einmal ans Gründen, die man nicht genannt hat, aus Gründen, die noch vor der Dialektik kamen. Gründen, die mit der kritischen Position Hegels gegenüber den theoretischen Voraussetzungen der klassischen bürgerlichen Philosophie - von Descartcs bis Kant - zusammenhingen."(61) Diese Kritik an den theoretischen Prämissen der klassischen bürgerlichen Philosophie macht Althusser vor allem an Hegels Ablehnung jeder Philosophie des Ursprungs und des Subjekts fest, die gleichzeitig Prämissen des Marxschen dialektischen Materialismus darstellt. Sie liefert diese Prämissen insofern, als es nach Althusser einen inneren Zusammenhang zwischen der Ablehnung eines Ursprungs, in welcher Form auch immer, der Dialektik und dem Materialismus gibt. Der Materialismus kann sich nämlich nur behaupten, wenn er sich von jeder Ursprungsphilosophie abgrenzt. Wenn aber die Kategorien des Ursprungs und des Subjekts mit allen ihren Implikationen verworfen werden, müssen andere Kategorien in Umlauf gebracht werden, und dies sind diejenigen der Dialektik.

Dies soll nun an der These, daß die Kategorie „Prozeß ohne Subjekt" den rationellen Kern der Hegelschen Dialektik ausmacht, näher erläutert werden.

Zunächst einmal muß konstatiert werden, daß Hegel keine anthropologische Geschichtskonzeption vertritt, wie verschiedene Hegelinterpreten (z.B. A. Kojeve) vor allem in Anschluß an die „Phänomenologie des Geistes" behaupten, daß Geschichte also keineswegs der Entfremdungsprozeß eines Subjekts „Mensch" ist. Der Entfremdungsprozeß und der Geschichtsprozeß haben gewissermaßen verschiedene Extensionen, denn Geschichte selbst ist für Hegel schon die Entfremdung von der Natur. Mithin ist Entfremdung nicht ein ausschließliches Merkmal menschlicher Geschichte. Bei Hegel ist aber nun nicht nur der Mensch nicht das Subjekt des Prozesses, sondern Hegel kennt überhaupt kein Subjekt des Prozesses. Auch der „Geist" nimmt keineswegs diese Stelle ein. Die Abwesenheit des Subjekts als Ursprung muß in der Grundlage der Hegeischen Philosophie, in seiner „Wissenschaft der Logik" aufgezeigt werden, wobei sich zugleich erweisen wird, was Hegel an dessen Stelle setzt.

Die „Logik" ist die Wissenschaft der Idee, die Entfaltung ihres Begriffs. Sie hat keinen Ursprung, der Anfang im Sein wird zugleich ins Nichts aufgelöst, und sie hat kein Subjekt, denn keine ihrer Bestimmungen hält sich durch, sondern jede wird im dialektischen Prozeß aufgehoben und in die nächsthöhere Bestimmung überführt.

Was die „Logik" also beschreibt, ist ein Weg, ein Prozeß als Prozeß, dessen Ende in der absoluten Idee erreicht wird, die nun wiederum in ihrer Totalität betrachtet nichts anderes ist als der zurückgelegte Weg selbst. Der Weg, der Prozeß, ist die Selbstentäußerung der Idee, wodurch es möglich wird, daß Anfang und Ende zusammenfallen, einen Kreis bilden. Der Selbstentäußerungsprozeß der Idee trägt Ideologischen Charakter und er trägt ihn eben deswegen, weil in seinem Anfang schon sein Ende als sein Telos steckt.

Hegel hat nun die absolute Idee als absolute Methode, als Dialektik verstanden, der Selbstentäußerungsprozeß der Idee ist die Entfaltung der Dialektik, und zwar einer Dialektik, die jenen ideologischen Prozeß ermöglicht, indem sie selbst Ideologisch strukturiert ist, nämlich in ihren Kategorien und deren Verknüpfung (Negation der Negation).

Was Hegel also an die Stelle des von ihm kritisierten Ursprungs und Subjekts der klassischen bürgerlichen Philosophie setzt, ist ein ideologischer Entfremdungsprozeß, der gerade als Prozeß wieder die Stelle des verschmähten Subjektseinnimmt, und er kann dies nur, weil er ein ideologischer ist.

Demnach gibt es sehr wohl ein Subjekt des Prozesses bei Hegel, aber dieses „einzige Subjekt des Entfremdungsprozesses ist der Prozeß selbst in seiner Teleologie."(62)

Althusser nennt dies das „ungewöhnliche Paradox" Hegels: „Der subjektlose Entfremdungsprozeß (oder die Dialektik) ist das einzige Subjekt, das Hegel kennt. Der Prozeß selbst hat kein Subjekt: Der Prozeß selbst aber ist Subjekt, gerade insofern er kein Subjekt hat.(63)

Jetzt kann auch verdeutlicht werden, worin die Mystifikation besteht, die die Dialektik in Hegels Händen erleidet. Hegel kritisiert die Ursprungsphilosophie und bringt damit die Dialektik ins Spiel, aber er unterwirft diese dann doch wieder einer Philosophie des Ursprungs (= Idealismus), indem er den „Ursprung doch in das Ziel eines Telos (projiziert), welches dann aus seinem eigenen Prozeß seinen eigenen Ursprung, sein eigenes Subjekt macht."(64)

Diese Unterwerfung der Dialektik unter den Idealismus und damit ihre Mystifikation führt letztlich dazu, daß sie eine Ideologische Struktur annimmt. Dies ist natürlich nicht als das Nacheinander einer bewußten Überlegung bei Hegel zu verstehen, sondern die Kritik der Ursprungsphilosophie läuft parallel mit der Erarbeitung einer Dialektikkonzeption, die die Kategorie des Subjekts als Ursprung gerade dadurch ersetzt, daß sie diese Position besetzt. Es zeigt sich, „daß das Paar Subjekt/Ziel die .Mystifikation' der Hegeischen Dialektik ausmacht."(65)

Marx führt dagegen die Ablehnung der Ursprungsphilosophie konsequent zum Materialismus, er unterwirft die Dialektik dem Primat des Materialismus und „untersucht, welche Formen sie annehmen muß, um die Dialektik dieses Materialismus zu sein."(66) Marx erbt also die philosophische Kategorie des Prozesses ohne Subjekt von Hegel, aber auf dem Wege einer Entmystifizierung dieser Kategorie bei Hegel selbst; dies geschieht durch die Eliminierung der Teleologie des Prozesses. „Die Geschichte ist ein Prozeß ohne Subjekt. Und diese Kategorie eines Prozesses ohne Subjekt, die natürlich aus der Hegeischen Teleologie herausgelöst werden muß, ist - wie ich meine -ohne Zweifel das größte theoretische Erbe, das Marx an Hegel bindet."(67)

Die Kategorie des Prozesses ohne Subjekt ist zunächst einmal rein formal. Den entscheidenden Schritt über Hegel hinaus macht Marx, indem er zeigt, „daß es einen Prozeß nur unter der Bedingung von Verhältnissen gehen könne: von Produktionsverhältnissen ..., politischen, ideologischen und anderen Verhältnissen."(68)

Auf der andere Seite aber hat die Kategorie des Prozesses ohne Subjekt eine „negative Stoßrichtung," sie ist ein „Abgrenzungsbegriff," sie zieht eine „Demarkationslinie" zwischen dialektisch-materialistischen Positionen und kleinbürgerlich-idealistischen Positionen,(69) indem sie es verbietet, den Geschichtsprozeß als Entwicklung eines wie auch immer gearteten Subjekts zu fassen.

Anmerkungen: (Die Jahreszahlen in Klammern geben das Erscheinungsdatum des französischen Originals an)

1) Eine instruktive Übersicht bietet Schöttler, „Philosophie/Politik/Wissenschaft. Bemerkungen zum Wandel (in) der theoretischen Problematik bei Louis Althusser," in Alternative 97, August 1974, S. 152-163. Einige Hinweise zu seiner theoretischen Entwicklung liefert Althusser selbst in „Vorwort: Heute" (1965), in Für Marx, Frankfurt/Main 1968, S. 17-30. Siehe hierzu neuerdings Kolkenbrock-Netz/Schöttler, Leninismus - Philosophie -Klassenkampf. Für eine marxistische Althusser-Rezeption in der BRD, in Sandkühler (Hrsg.), Betr.: Althusser. Kontroversen über den „Klassenkampf in der Theorie," Köln 1977.

2) Althusser, „An die deutschen Leser," in Für Marx, S. 7.

3) Ebenda.

4) Der in der deutschen Diskussion ungewohnt klingende Ausdruck „Konjunktur" meint bei Althusser Lenins „gegenwärtigen Augenblick," d.h. ein spezifisches Kräfteverhältnis von Elementen in einer aktuellen Situation, das nicht einfach „abgeleitet" werden kann, sondern der konkreten Analyse bedarf.

5) Althusser, An die deutschen Leser, S.u.

6) Althusser, Geschichte beendet, endlose Geschichte, Vorwort zu Lecourt, Proletarische Wissenschaft ? Der „Fall Lyssenko" und der Lyssenkismus, Westberlin 1976, S. 15.

7) Ebenda, S. 16-17.

8) Hauptexponent dieser Richtung in der KPF war Roger Caraudy. Vgl. zu dieser Problematik bes. Althussers Aufsätze „Marxismus und Humanismus" (1964) und „Ergänzende Anmerkung über den .realen Humanismus'" (1965) in Für Marx. S. 168-202.

9) Althusser/Balibar, Das Kapital lesen (1965), Reinbek bei Hamburg 1972 (im Folgenden DKL).

10) Die dieser Lektürekonzeption zugrundeliegende Ideologie analysiert Althusser in „Über den jungen Marx" (1960); in Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/ Westberlin 1977, bes. S. 12-25.

'11) Eine nähere Kennzeichnung der „symptomatischen Lektüre" findet sich in Althussers Einführung zu DKL. Diese Lektüre führt Althusser zu der Annahme eines „epistemologi-schen Einschnitts" im Werk von Marx, der eine noch ideologische Problematik in den Frühschriflen von der wissenschaftlichen Problematik ab 1845 deutlich absetzt. Dieses Problem kann hier nicht näher erörtert werden. Vgl. hierzu etwa Althusser, Vorwort: Heute, S. 30-41.

12) Marx, Nachwort zur 2. Auflage des „Kapital," in MEW, vol. 23, S. 27.

13) Vgl. zu dieser Problematik vor allem Althussers Aufsätze „Widerspruch und Über-determinierung" (1962), in Für Marx., bes. S. 52-57, und „Über die materialistische ' Dialektik" (1963), ebenda, bes. S. 114-124 (im Folgenden WuÜbzw.MD).

14) MD. S. 121.

15) a.a.O., S. 103.

16) a.a.O., S. 122.

17) Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie," in MEW 21,S. 268.

18) WuÜ.S.54.

19) a.a.O., S. 55.

20) a.a.O., S. 56.

21) Ebenda.

22) Die oft unzureichenden und verfälschenden Übersetzungen sind einer adäquaten Rezeption allerdings nicht sonderlich förderlich. Vgl. hierzu Schöttler, „Vorwort" zu Althusser, Elemente der Selbstkritik (im Folgenden Elemente), Westberlin 1975, S. 16-19. Zur bundesdeutschen Althusser-Rezeption siehe auch Kolkenbrock-Netz, „Neue Antworten auf Althusser? Zu einigen Tendenzen der Althusser-Rezeption," in Sozialistische Politik Nr. 37/38, Dez. 1976, S. 107-116.

23) Kolkenbrock-Netz/Schöttler, Leninismus - Philosophie - Klassenkampf, S. 67.

24) Althussers eigene Einschätzung des Strukturalismus findet sich in Elemente (1974), S. 63-70.

25) Jaeggi, Ordnung und Chaos. Strukturalismus als Methode und Mode, Frankfurt/Main 21970. Ders., Theoretische Praxis. Probleme eines strukturalen Marxismus, Frankfurt/Main 1976. Schmidt, „Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte," in Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/Main 1969, S. 194-265. Ders., Geschichte und Struktur. Fragen einer marxistischen Historik, München 1971. Arenz/Bischoff/Jaeggi, „Einleitung" zu Was ist revolutionärer Marxismus?, Westberlin 1973, S. VII-LXIV. Projekt Klassenanalyse, Louis Althusser. Marxistische Kritik am Stalinismus?, Westberlin 1975. Das Argument 94, Antworten auf Althusser, Dez. 1975, S. 921-984. Sozialistische Politik Nr. 37/38, Dez. 1976, „Philosophie und Politik bei Althusser - Kritische Beiträge" (i), S. 73-116. Sozialistische Politik Nr. 39, April 1977, „Philosophie und Politik bei Althusser - Kritische Beiträge" (2), S. 107-143. Sandkühler (Hrsg.), Betr.: Althusser, Köln 1977.

26) Althusser, „Antwort an John Lewis," in, Arenz/Bisschoff/Jaeggi (Hrsg.), Was ist revolutionärer Marxismus?, S. 67.

27) Althusser, „Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein?," in ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 52.

28) WuÜ,S.66.

29) a.a.O., S. 67.

30) Ebenda.

31) WuÜ, S. 68.

32) MD, S. 142.

33) a.a.O., S. 149.

34) a.a.O., S. 162.

35) Elemente, S. 8l.

36) Ebenda.

37) Lenin, „Konspekt zu Hegels .Wissenschaft der Logik,' "in Werke, vol. 38, S. 214.

38) MD, S. 139

39) a.a.O., S. 140. Das französische „universel" wäre hier besser mit „Allgemeines" als mit „Universales" zu übersetzen.

40) a.a.O., S. 141.

41) a.a.O., S. 144.

42) WuÜ, S. 73

43) Ist es einfach, S. 66

44)  Engels, „Brief an Bloch," in MEW 37, S.463.

45) Elemente, S. 79.

46) Ist es einfach, S. 66.

47) a.a.O., S. 67.

48) WuÜ, S. 65-66. 4

49) MD S. 156.

50)  a.a.O., S. 151.

51) DKL, S. 254.

52) WuÜ, S. 81.

53) MD, S. 146.

54) a.a.O., S. 150.

55) WuÜ, S. 61.

56) MD, S. 164.

57) a.a.O., S. 165.

58) Ebenda.

59) über den jungen Marx, S. 36.

60) Ebenda.

61) Ist es einfach, S. 62.

62) Althusser, „Über die Beziehung von Marx zu Hegel", in ders., Lenin und die Philosophie, Rcinbek bei Hamburg 1974, S. 65.

63) Ebenda. Die deutsche Übersetzung wurde anhand des französischen Originals korrigiert.

64)  Ist es einfach, S. 64.

65) Elemente, S. 79.

66) Ist es einfach, S. 63.

67) Über die Beziehung von Marx zu Hegel, S. 64.

68) a.a.O., S. 66.

69) Althusser, „Bemerkungen zu einer Kategorie: Prozeß ohne Subjekt und ohne Ende/ Ziel," in Was ist revolutionärer Marxismus?, S. 93.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 12. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 273-290

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