Stichwort RAF
Die Todesnacht in Stammheim
Irmgard Möller: "I
ch war und bin überzeugt davon, dass es eine Geheimdienstaktion war."
10/07

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T: Eine der wichtigen Fragen, um die es bei den Auseinandersetzungen um die Todesursachen immer wieder ging, war die nach der Kommunikation zwischen euch. Die Überlegung war, daß ihr, wenn es einen kollektiven Selbstmord gegeben hätte, unter den Bedingungen der Kontaktsperre eine Möglichkeit gehabt haben mußtet, euch darüber zu verständigen. Außerdem mußtet ihr eine Möglichkeit gehabt haben zu erfahren, daß die »Landshut« von der GSG 9 erstürmt worden, die Befreiungsaktion also endgültig gescheitert war. Karl Heinz Roth hat in dem erwähnten Interview gesagt, sie hätten bei ihren Recherchen herausgefunden, daß der BND das Kommunikationssystem, das zwischen den Zellen existierte, abgehört hat. Das würde bedeuten: Es hat ein Kommunikationssystem gegeben, über das ihr einen Selbstmord hättet verabreden können, der BND hätte diese Selbstmordverabredung aber auch auf jeden Fall mitgehört.

Der Text ist ein Auszug aus dem Gespräch Oliver Tolmeins mit Irmgard Möller. Das vollständige Interview - allerdings ohne Fußnoten - gibt es auf seiner Homepage: http://www.tolmein.de

M: So stimmt das nicht. Daß wir zeitweilig ein Kommunikationssystem über die Leitungen des Anstaltsrundfunks hatten, habe ich ja schon erzählt. Es ist auch richtig, daß der BND uns darüber abgehört hat. Das ist in den letzten Tagen des Stammheimer Prozesses öffentlich thematisiert worden. In der Zeit der Kontaktsperre gab es dieses System aber viele Monate schon nicht mehr. Wir hatten uns gedacht: Was soll so eine aufwendige Geschichte, wenn wir eh abgehört werden.

T: Für euch machte die Kommunikation also nur Sinn, wenn sie abhörsicher war? Man könnte ja sagen, in so einer Zeit, wo es so schwierig ist, zu kommunizieren, wo einem dann nur noch bleibt, über den Flur zu rufen, der ja auch abgehört wird, da ist so ein System doch besser als nichts ...

M: Später habe ich das auch so gesehen. Aber da hatten wir keine Möglichkeit mehr, irgendwas zu installieren. Und als wir es gekonnt hätten, da war uns nicht klar, wofür es möglicherweise noch mal gut sein könnte. Wobei man auch sehen muß: Da wir auf jeden Fall abgehört worden wären, hätte das System, wenn es denn irgendwelche Staatspläne gestört hätte, garantiert nicht lange funktioniert. Es hätte auf jeden Fall Möglichkeiten gegeben, es zu unterbrechen. Uns hätte also nur ein wirklich geheimes Medium genützt, auf das sie keinen Zugriff haben - und das hatten wir eben nicht.

T: Der Untersuchungsausschuß hat später in seinem Bericht festgestellt, daß eure Geräte manipuliert waren. Und Stefan Aust schreibt in seinem Buch »Der Baader-Meinhof-Komplex«: »Es waren mehr oder weniger primitive Lötstellen in den Geräten, aus denen klar ersichtlich war, daß die Anlagen nicht nur zum Musikempfang benutzt wurden, sondern auch für die Kommunikation der Gefangenen untereinander.« Und zwar soll Andreas Baader dafür an seiner Stelle die Rundfunkdrähte mit den Rasierstromleitungen verbunden haben. An dieses Netz sollt ihr dann die Verstärker und Lautsprecher als Mikrophon und Empfänger angeschlossen haben. In deiner Zelle wurden nach der Todesnacht auch 5,50 Meter Diodenkabel gefunden, bei Andreas wurden mehrere Meter und bei Gudrun Ensslin drei Meter Kabel gefunden.

M: Das ist alles sehr phantasievoll, macht aber keinen Sinn. Ich zum Beispiel hatte auf meiner Zelle gar keinen Verstärker. Außerdem: Wie hätten wir in Zellen mit Betonfußboden Kabel verlegen sollen? Und wohin? Und vor allem wofür? Wie unsinnig diese Szenarien sind, läßt sich an einem Beispiel ganz gut deutlich machen. Aust behauptet, wir hätten uns während der Kontaktsperre nur deswegen über Zurufe verständigt, damit die Zellentüren mit den »Kontaktsperrepolstern« schallisoliert werden und wir so die Möglichkeit einer geheimen Verständigung über unser angebliches Zellenrundfunksystem haben. Nur wußten wir zu diesem Zeitpunkt schon längst, daß wir über so ein Kommunikationssystem abgehört worden sind und abgehört werden konnten. Deswegen haben wir uns diese Mühe erspart. An anderer Stelle schränkt Aust dann auch wieder ein. Er meint, daß wir doch nicht so ungeheuer raffiniert waren, sondern daß unsere Manipulationen so primitiv und offensichtlich waren, daß sie bei der Durchsuchung aufgefallen sein müssen und wir deswegen alles nur zurückbekommen hätten, damit wir abgehört werden können. So viel also zum »Kommunikationssysten«.(1)

Nachdem wir mitbekommen hatten, daß wir abgehört wurden, also noch vor der Kontaktsperre, haben wir unsere Kommunikation untereinander auch verändert. Wir haben wichtige Sachen auf Zettel geschrieben und dann vernichtet. Uns war es sehr wichtig, auch untereinander und nur untereinander was austauschen zu können. Das war ja auch mit das Schlimmste an dieser Kontaktsperre, gegen das wir uns am meisten gewehrt haben, daß neben der Kommunikation mit außen auch die untereinander unterbunden wurde - bis auf diese paar Fetzen, die wir uns zurufen konnten und die jeder gehört hat.

T: Ein weiteres Indiz, das gelegentlich erwähnt wird, um zu beweisen, daß ihr nicht nur untereinander Kontakt hattet, sondern sogar, vielleicht auch nur in der Vorbereitungsphase, mit dem Kommando kommunizieren konntet, war, daß es ein Code-Wort gegeben haben soll. Ihr solltet es nach eurer Befreiung sagen, damit das Kommando weiß, daß ihr in Sicherheit seid, und Schleyer freiläßt.

M: Es hat überhaupt kein Code-Wort gegeben, deswegen brauchten wir uns auch nicht darüber zu verständigen. Das hätte ja nur Sinn gemacht, wenn wir hätten sicher sein können, daß es niemand mitbekommt; und das konnten wir in Stammheim nun wirklich nicht. Das Kommando hat gesagt, daß wir Gefangenen, nachdem wir freigelassen worden sind, etwas sagen sollen, aus dem hervorgeht, daß wir wirklich in Sicherheit sind.(2) Dabei gingen sie davon aus, daß wir welche vom Kommando so gut kennen, daß uns etwas einfällt, was wirklich außer uns nur die Leute vom Kommando selber kennen können. So was braucht man nicht vorher zu besprechen, das fällt einem in dem Moment ein, in dem es gebraucht wird. Deswegen ist Code-Wort ein ganz falscher Begriff dafür. Wenn du zusammen gekämpft hast, dann gibt es so viele Situationen, die nur du und noch jemand oder vielleicht gerade noch die Gruppe kennen ... Das sicherste Versteck, das niemand öffnen und wo niemand abhören kann, ist dein eigener Kopf.

T: Neben der Frage, ob beziehungsweise wie ihr euch verständigen konntet, geht es immer wieder auch darum, was ihr in der Zeit der Kontaktsperre überhaupt von außen erfahren konntet. Du hast ja von deinem kleinen Ohrstöpsel erzählt. Im Untersuchungsausschuß wurde berichtet, auf Jan Carl Raspes Zelle wäre ein betriebsbereites batteriebetriebenes Transistorradio gefunden worden, in dem der UKW-Teil funktionstüchtig und auf SDR l eingestellt gewesen sein soll.(3) Außerdem wird ein Vermerk zitiert, demzufolge Andreas Baader darum gebeten haben soll, daß »die Radios leiser gestellt werden«, woraus der Untersuchungsausschuß dann wohl den Schluß gezogen hat, daß es doch eine Möglichkeit für euch gab, die Radios aus den Zellen unter euch zu hören.

M: Die Wärter haben versucht, eine Geräuschkulisse herzustellen: Schlagermusik. Und ich habe von dem, der unter mir gelegen hat, nichts gehört, und soviel ich weiß, die anderen auch nicht. Aber die wichtigen Sachen, die habe ich ja auch so mitbekommen und rübergerufen, also die kannten wir auf jeden Fall. Und Jan hatte ganz sicher kein Radio.

T: Ein weiterer wichtiger Punkt war damals (und ist heute) die Frage, wie ihr euch im Trakt Waffen beschaffen konntet. Karl Heinz Roth sagt in dem Interview mit »konkret«, daß sich im Verlauf der Recherchearbeit herausgestellt habe, daß Waffen in den Zellen waren, die aber mit dem Wissen staatlicher Einrichtungen, ohne daß genau bekanntgeworden sei, welche das waren, dort hineingekommen waren.

M: Wir hatten keine Waffen. Die Vorstellung, daß wir Waffen in den Zellen versteckt hätten, ist auch deswegen kurzsichtig, weil wir im Verlauf der Kontaktsperre mehrfach umziehen mußten - und vorher nicht wußten, wann und wohin. (4) Wenn wir Waffen gehabt hätten, wären wir bestimmt anders damit umgegangen, als sie gegen uns selber zu richten. Wir hätten uns geschützt oder auch versucht rauszukommen, aber uns bestimmt nicht jeder für sich umgebracht.

T: So gesehen würde ja das Szenario, das Bundeskanzler Helmut Schmidt nach dem Deutschen Herbst auf einer Veranstaltung entwickelt hat, Sinn haben: Andreas hat versucht, jemanden vom Kanzleramt zu euch in den Knast zu holen, er hatte eine Waffe und hätte versuchen können, den als Geisel zu nehmen?

M: Hat er aber nicht! Wenn wir eine Selbstbefreiungsaktion aus dem Knast gemacht hätten, hätten wir das sicher anders eingefädelt. Solche Szenarien sind angesichts der realen Verhältnisse, die wir dort erlebt haben, völlig unrealistisch. Wir sind ständig durchsucht worden, alles wurde überwacht. Und: Wir hatten eben keine Waffen. Wie auch ? Außerdem hatte Andreas, wie sogar aus dem Protokoll, das in der Dokumentation der Bundesregierung abgedruckt ist, noch erkennbar ist, ein politisches Ziel, als er mit dem Kanzleramt reden wollte. Das war keine verkappte Aktion. Es ist zwar allgemein sehr beliebt, führt aber wenig weiter, immer um drei Ecken zu denken: Was könnten wir womit vielleicht auch noch beabsichtigt haben. Die Wirklichkeit, mit der wir 1977 konfrontiert waren, hat uns für solche Gedankenartistik wenig Gelegenheit gegeben. Wir lebten in einem Extremzustand, unter der totalen Kontaktsperre eben.

T: Daß ihr Waffen in Stammheim hattet, behauptet aber nicht nur der Untersuchungsausschuß des Baden-Württembergischen Landtags, es gibt sogar einen Zeugen, der sagt, er selber habe geholfen, die Pistolen zu euch reinzuschmuggeln. Und zu dieser Geschichte von Volker Speitel hat es später noch eine Variante von Peter Jürgen Boock gegeben, der behauptet hat, mehrere Waffen präpariert zu haben.(5)

M: Es ist ja immer schwer zu beweisen, daß etwas nicht stattgefunden hat. Zu Volker Speitel kann ich auch nicht viel sagen, weil ich selber mit ihm gar nichts zu tun hatte. Aber Hanna"(6) kannte ihn, weil er ursprünglich bei der Stockholm-Aktion mitmachen wollte. Er hat sich aber ein paar Wochen davor abgesetzt und ist erst später wieder im Büro von Rechtsanwalt Klaus Croissant aufgetaucht. Die Waffen, also drei Pistolen und Sprengstoff, will er im Frühjahr 1977 präpariert haben. Angeblich soll Rechtsanwalt Arndt Müller die in einem Aktendeckel versteckt und dann während der Verhandlungen an Jan, Andreas und Gudrun weitergegeben haben, die sie dann aus dem Gerichtssaal in die Zellen schafften.
Wer weiß, wie unsere Anwälte kontrolliert wurden, kann diese Version nicht glauben. Es gab schon von Anfang an die Propaganda, die Anwälte wären Kuriere, Boten und unsere Handlanger — deswegen wurden sie gründlich und penibel untersucht.(7) Jedes Blatt wurde von den Beamten angeschaut. Schon der Versuch, auf diesem Weg Waffen reinzuschmuggeln, wäre der helle Wahnsinn gewesen. Ein ganz überflüssiger zudem, denn aus Stammheim rauszukommen wäre angesichts des Festungscharakters dort auch mit drei Pistolen und etwas Sprengstoff kaum möglich gewesen, und wir setzten ja darauf, daß wir von der RAF von draußen befreit werden.

Die Geschichten von Speitel sind aber auch im Detail kein bißchen glaubwürdig. Zum Beispiel hat er erst ausgesagt, er habe die Waffen im März 1977 von Illegalen über einen Kurier bekommen. Später hat er behauptet, die Illegalen hätten ihm die Sachen selbst gegeben, auf jeden Fall könne er sich aber gar nicht mehr erinnern, wer denn der Kurier beziehungsweise wer denn die Illegalen gewesen seien. Als nächstes hat er dann behauptet, Sieglinde Hof mann hätte ihm eine Pistole gegeben, und ein halbes Jahr später erinnerte er sich ganz genau daran, daß sie ihm zwei Pistolen gegeben hätte. Da meinte er dann auch, das könnte eventuell auch Juni 1977 gewesen sein — dabei war Juni 1977 der Stammheimer Prozeß zu Ende, die Anwälte konnten die Waffen also, selbst wenn sie es gewollt hätten, zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr auf diesem Weg reinbringen.

Und die Lügenmärchen von Boock sind auch nicht besser. Mal abgesehen davon, daß bei Speitel Boock, der behauptet, die Waffen präpariert zu haben, nicht vorkommt und bei Boock Speitel nicht, der auch angibt, die Waffen für den Transport fertig gemacht zu haben.(8)

T: Es hat dann noch zwei »Insiderinnen« gegeben, die behauptet haben, in Stammheim hättet ihr tatsächlich Selbstmord begangen beziehungsweise versucht. Susanne Albrecht und Monika Helbing, die beide 1977 in der RAF aktiv waren und später zu den DDR-Aussteigern gehörten, haben nach ihrer Verhaftung ausgesagt, es habe damals unter den RAF-Kadern einen Plan gegeben »Suicide Action«, der beinhaltete, daß man sich in einer Situation, in der es gar keine andere Chance mehr gebe, umbringt. Beide berufen sich dabei auf Brigitte Mohnhaupt, die im Frühjahr 1977 entlassen worden war und dann wieder zu den »Illegalen« gegangen ist.

M: Die beiden haben das zu einem Zeitpunkt erfunden, als sie sich entschieden hatten, als Kronzeuginnen für die Bundesanwaltschaft aufzutreten, um Strafmilderung zu bekommen. Das sagt schon mal was über die Motive. Ansonsten kann ich nur sagen, daß für uns Selbstmord nicht in Frage kam. Es gab bei uns auch keine Diskussionen darüber und schon lange keinen Plan.

T: Du hast ja vorhin erzählt, daß die Situation 1977 bei euch so war, daß ihr euch eigentlich nicht mehr vorstellen konntet, noch lange Jahre im Knast zuzubringen. Das spricht für eine gewisse Verzweiflung an den Verhältnissen. Eine Zermürbung. Da kann ich mir vorstellen, daß jemand sagt: Lieber tot sein als noch zehn Jahre hier drin. Karl Heinz Roth hat in dem »konkret«-Interview zum Beispiel gesagt, daß es in einer völlig aussichtslosen Situation auch eine revolutionäre Tat sein kann, sich umzubringen ...

M: Karl Heinz Roth hat andere Erfahrungen mit Isolationshaft, als wir sie hatten. Ich erinnere mich an einen Text von ihm, den er nach seiner Entlassung geschrieben hat, da beschreibt er die Haftsituation als völlig erdrückend und überwältigend. Das ist sie zwar auch, aber für uns gab es immer noch ein Widerstandspotential dagegen. Anders als er waren wir auch nicht allein im Knast, sondern als Gruppe und haben uns auch als Gruppe dagegen gewehrt. Das ist ein wichtiger Unterschied. Dazu kommt noch etwas anderes. Wir haben in dieser Zeit in jeder Faser gespürt, daß sie uns vernichten wollen. Das war schon in den Wochen und Monaten vor der Schleyer-Entführung immer wieder Thema gewesen: »Todesstrafe für Terroristen«. Die Jahre der Isolation, die Behandlung, die wir in den Hungerstreiks erlebt haben, und zuletzt auch die Kontaktsperre haben gezeigt: Sie wollen uns tot. Wenn du das merkst, dann wächst in dir ein ungeheurer Wille, ihnen gerade diesen Gefallen nicht zu tun, weiterzuleben, dich nicht vernichten zu lassen. Das war für uns ein ganz wichtiges Moment. Wir wußten, daß wir auch als Gefangene ein politischer Faktor sind. Unser Leiden, die Qualen, denen sie uns ausgesetzt haben, haben auch unseren Willen gestärkt, weiterzumachen und eben nicht aufzugeben.

T: Deswegen, sagt die Bundesregierung, habt ihr das so perfide gemacht, daß der Selbstmord aussah wie ein Mord und damit noch ein letztes agitatives Moment enthielt.(9)

M: Das hätte unserer Moral widersprochen. Das ist wirklich eine wahnwitzige Theorie. Außerdem ist da noch die Frage des Motivs. Wir wollten nicht sterben, wir wollten dasein. Und wir wußten andererseits, daß der Apparat die Vorstellung hatte, mit uns, vor allem mit Andreas und Gudrun, die ganze RAF auslöschen zu können, sich die ganze Guerilla mit einem Schlag vom Hals zu schaffen.

T: Für euch war also schon das schiere Überleben ein kleiner Sieg?

M: Ja, sicher. In dem Moment, wo du ausgerottet werden sollst, du aber weiterlebst, hast du was erreicht und hältst auch daran fest. Was wir tatsächlich vorhatten, war, noch mal einen Hungerstreik machen, um die Entscheidung in diesen Wochen zu beschleunigen. Darum ging es auch, als wir in diesen Tagen darüber redeten, der Regierung »die Entscheidung über uns« aus der Hand zu nehmen — das hieß keineswegs, wie das BKA und der Krisenstab später begierig interpretiert haben, daß wir damit einen Selbstmord ankündigen wollten. Warum hätten wir den auch ankündigen sollen? Um ihnen eine Vorfreude zu machen? Wir wußten ja, daß sie uns lieber tot als lebendig sehen. Für uns war dagegen klar, daß, solange wir drin sind und leben, draußen auch welche sind, die uns befreien wollen.

T: Nun könnte man sagen, daß euch klar war, daß das Scheitern der Schleyer-Entführung auch hieß, daß es keine anderen Befreiungsversuche mehr geben kann, daß das also eine letzte Chance war rauszukommen.

M: So haben wir das aber nicht gesehen. Wir dachten: Wenn das nicht gelingt, wird es einen neuen Anlauf geben. Wir hatten schon einen Atem, der weiter reichte als bis übermorgen. Wir hatten doch auch ein politisches Ziel, sonst hätten wir die Jahre unter diesen Bedingungen im Knast nicht ausgehalten. Und dieses Ziel, das war nicht plötzlich mit dem Scheitern einer Befreiungsaktion verschwunden. Wir hatten also auch eine Verantwortung — und wir wollten als Gruppe zusammen sein. Schon deswegen war es unvorstellbar, daß sich drei oder vier umbringen. Andreas hatte mit dem Kanzleramt reden wollen, um sicher zu sein, daß die sich über die Folgen einer Eskalation auch für sie selbst im klaren waren. Eine Brutalisierung der Auseinandersetzung war für beide Seiten gefährlich: für uns, weil sie die Spur unserer Politik ins Unkenntliche verzerrt hätte, und für sie, weil sie als Regierungspartei früher oder später weggefegt werden würden. Andreas sprach über eine mögliche Gefahr — wie es dargestellt ist, soll es Andreas auch noch denunzieren.

T: Hast du dir in den Jahren danach ein Szenario überlegt, was in dieser Nacht tatsächlich passiert sein könnte ?

M: Ich war und bin überzeugt davon, daß es eine Geheimdienstaktion war. Der BND konnte in Stammheim ein- und ausgehen und hatte nachweislich auch Abhöreinrichtungen bei uns installiert. Und es war bekannt, daß das Knastpersonal selbst für so was nicht vertrauenswürdig genug erschien. Da hat immer mal einer geplaudert und der »Bunten«, »Quick« oder dem »Stern« irgendwelche läppischen Geschichten über uns erzählt. Also wenn was gemacht werden sollte, mußte das an denen vorbeigehen. In dem Zusammenhang ist vielleicht auch noch wichtig, daß das Bewa-. chungspersonal während der Kontaktsperre ausgetauscht wurde — allerdings nicht alle. Die Überwachungskameras im Flur funktionierten auch nicht in dieser Nacht.

T: Gehst du davon aus, daß die Bundesregierung in so eine Mordaktion involviert war, oder könnte das auch eine selbständig durchgeführte Geheimdienstoperation gewesen sein?

M: Ich denke, die Bundesregierung war involviert. Und ich gehe davon aus, daß das auch innerhalb der Nato irgendwie abgesprochen war. Es gab damals auch einen Krisenstab in den USA, der ständig Verbindung mit Bonn hielt. Und die USA hatten ein massives Interesse daran, daß es uns nicht mehr gibt. Gerade von der CIA ist die Methode bekannt, Morde als Selbstmorde darzustellen.

Anmerkungen

1) In Karl-Heinz Weidenhammers Buch »Selbstmord oder Mord«, in dem der Rechtsanwalt das Todesermittlungsverfahren dokumentiert, zitiert er überdies aus den Akten des Verfahrens, daß nach Sachverständigenauffassung mit dem Kommunikationssystem, selbst wenn es in dieser Anordnung betrieben worden wäre, eine Verständigung nur durch Klopfen oder Kratzen an der Hörmuschel hätte stattfinden können.

2) In der Erklärung des Kommandos vorn 10. September 1977 hieß es u.a.: »Sobald die Gefangenen ihr Flugziel erreicht haben, wird Andreas Baader ihnen einen Satz sagen, der ein Wort enthält, der dem Kommando überbracht wird und diesem erlaubt, zu identifizieren und zu versichern, daß sie gut angekommen sind, damit Schleyer freigelassen werden kann.«

3) Allerdings wurde nicht festgehalten, wer diese Entdeckung gemacht hat.

4) Andreas Baader lag zuletzt in Zelle 719, Jan Carl Raspe in 716, Gudrun Ensslin in 720 und Irmgard Möller, die vom 5. bis zum 13. September auf Zelle 721 lebte, in 725. Zu Beginn der Kontaktsperre hatte Baader ebenfalls in Zelle 719 gelebt, war dann am 13. September in Zelle 715 verlegt worden. Dort wurde später ein Versteck gefunden, in dem eine Waffe Platz gehabt hätte, die Baader dann aber bei seiner Verlegung am 4. Oktober zurück in Zelle 719 mit sich hätte nehmen müssen. Angeblich soll er dafür und als künftiges Versteck seinen Plattenspieler benutzt haben. Der war am 6. September beschlagnahmt und am 20. September zurückgegeben worden. Jan Carl Raspe befand sich zu Beginn der Kontaktsperre in Zelle 718 und wurde am 4. Oktober in Zelle 716 verlegt, in der seit umfangreichen Baumaßnahmen im Frühjahr 1977 kein RAF-Gefangener mehr untergebracht gewesen war. Trotzdem soll den Ergebnissen des Untersuchungsausschusses zufolge sich hier ein Waffenversteck befunden haben, das auch trotz mehrfacher gründlicher Durchsuchungen der Zelle nicht gefunden worden war. Eine dritte Waffe wurde in Zelle 723 gefunden, in der vom 6. Juli bis 12. August 1977 Helmut Pohl gelegen hatte und danach niemand mehr. »Hat dieser Häftling, als er am 6. Juli gefesselt von Hamburg nach Stammheim verbracht wurde, körperliche und Einlieferungskontrollen überlistet und die Waffe eingeschmuggelt?« fragt Weidenhammer in »Selbstmord oder Mord«.

5) Im Interview mit der »taz« am 16. Juni 1992.

6)  Hanna Krabbe, früher im Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK), 1975 an der Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm beteiligt und zu lebenslanger Haft verurteilt, war mehrere Jahre mit Irmgard Möller in Lübeck gefangen. Sie wurde 1996 als letzte der kleinen Gruppe entlassen.

7) Der niederländische Verteidiger Piet Bakker Schut beschreibt diese Prozedur m seiner Habilitationsschrift »Stammheim«: »Tasche mit Verteidigungsunterla-gen hinstellen, alle Jacken und Hosentaschen ausleeren, Jacke ausziehen und einem der beiden Beamten übergeben, Überprüfung der Jacke und des gesamten Körpers einschließlich des Geschlechtsbereichs, Überprüfung der ausgezogenen Schuhe mittels Metallsonde und durch Biegen, Überprüfung aller losen Gegenstände (z.B. bei Kugelschreibern durch Aufschrauben, Zigaretten durch Betasten), danach — oder zwischendurch — Überreichen der mitzunehmenden Papiere und Ordner an einen der Beamten, der die Ordner mit dem Rücken nach oben hält und sie von unten durchblättert, Prüfung der Ordner mit der Metallsonde. Zudem wurde der Inhalt normaler Ordner auch noch in dünne Gefängnisordner umgeheftet.« (Stammheim, S. 501)

8) Eine weitere, weder mit der Speitel- noch mit der Boock-Version kompatible Variante stammt von Hans Joachim Klein, der zeitweilig RZ-Mitglied war und nach dem Überfall auf ein Treffen der OPEC-Ölminister in Wien 1975 spektakulär ausstieg, indem er in einem Brief an den »Spiegel« vor zwei angeblich geplanten Anschlägen der RZ auf die Vorsteher der Jüdischen Gemeinden in West-Berlin und Frankfurt/Main warnte. An ihm und seinem Buch »Rückkehr in die Menschlichkeit« entzündete sich die erste große »Aussteiger«-Diskussion in der westdeutschen Linken. Anfang Oktober 1978 erzählte er im Interview mit der französischen Zeitung »Liberation«: »Sobald ich erfahren habe, daß die GSG 9 ihre Aktion in Mogadischu erfolgreich durchgeführt hatte, dachte ich, daß irgend etwas in Stammheim passieren würde. Eine selbstmörderische Aktion oder ein Selbstmord. Glaub nicht, daß ich ein Wahrsager bin. Ich wußte, daß sie seit 1975 Waffen im Knast hatten. Schon zur Zeit des Prozesses in Stammheim wußte ich, daß sie eine Handgranate ins Gericht werfen wollten. Sie hatten einen Weg gefunden, um sie hereinzubekommen, aber sie haben nicht gesagt, welchen. Alles, was ich weiß, ist, daß es nicht durch die Anwälte geschah.«

9) Andreas Baader hatte am 7. Oktober 1977 einen kurzen Brief an das OLG Stuttgart verfaßt: »Aus dem Zusammenhang aller Maßnahmen seit sechs Wo-
chen und ein paar Bemerkungen der Beamten läßt sich der Schluß ziehen, daß die Administration oder der Staatsschutz, der — wie ein Beamter sagt — jetzt permanent im siebten Stock ist, die Hoffnung haben, hier einen oder mehrere Selbstmorde zu provozieren, sie jedenfalls plausibel erscheinen zu lassen. Ich stelle dazu fest: Keiner von uns - das war in den paar Worten, die wir vor zwei Wochen an der Tür wechseln konnten, und der Diskussion seit Jahren klar - hat die Absicht, sich umzubringen. Sollten wir - wieder ein Beamter - hier >tot aufgefunden werden<, sind wir in der guten Tradition justizieller und politischer Maßnahmen dieses Verfahrens getötet worden.« Auch dieser Brief wird von offizieller Seite bemerkenswerterweise als Teil der Selbstmordvorbereitungen bewertet...

 

Editorische Anmerkungen

Das Gespräch erschien in:
Tolmein, Oliver: 'RAF. Das war für uns Befreiung'. Hamburg 1997, Der Textauszug stammt von den Seiten 123-135

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