Zerschlagt die Universität!

Von
André Gorz

10/07

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1. Die Universität kann nicht funktionieren, also muß man verhindern, daß sie funktioniert, damit diese Funktionsunfähigkeit ans Tageslicht kommt. Keine irgendwie geartete Reform kann diese Institution lebensfähig machen; also muß man die Reformen bekämpfen, sowohl hinsichtlich ihrer Auswirkungen als auch ihrer Ziele und zwar nicht weil sie gefährlich, sondern weil sie illusorisch sind. Die Krise der Universität reicht (wie wir zeigen werden) über den Hochschulbereich hinaus und umfaßt in ihrer Gesamtheit die gesellschaftliche und technische Arbeitsteilung; also muß diese Krise zum Ausbruch kommen.

Man kann darüber diskutieren, wie und auf welche Weise diese Krise herbeizuführen ist. Es gibt gute und weniger gute Möglichkeiten. Allerdings ist Diskussion und Kritik nur dann sinnvoll, wenn sie von denen kommt, die eingesehen haben, daß der Reformismus unbedingt abzulehnen ist und zwar als Ganzes.

Von unseren LeserInnen bekamen wir anläßlich des Todes von Andre Gorz einen älterer Artikel von ihm, der hier nicht so bekannt sein dürfte, aber als Kritik des kapitalistischen Bildungssystems - durchaus im Sinne der Radikalität von Marxens Kritik an der Arbeitsteilung - durchaus noch Aktualität hat. Zudem ist er in Verteidigung der gewaltsamen Proteste an den französischen Unis 1968 usw. geschrieben, auch das ist erinnernswert.

2. Die offene Krise der Universität als Institution reicht zurück in die beginnenden sechziger Jahre: damals wurde der Plan Fouchet eingeführt. In dem Augenblick, wo die meisten Schüler eines Jahrgangs sich zur Abschlußprüfung melden und die meisten Abiturienten sich an den Universitäten immatrikulieren wollen, geraten die von der Bourgeoisie eingesetzten sozialen Auswahlmechanismen ins Wanken und ihre Ideologie und ihre Institutionen geraten in eine Krise.

Die Bildungsideologie verspricht – über das Studium – gleiche Aufstiegschancen für jedermann. Diese Gleichheit ist – wie Bourdieu und Passeron aufgezeigt haben – schon immer fiktiv gewesen. Allerdings waren in der Vergangenheit Auswahlmechanismen und -kriterien »objektiv« genug, um Klassencharakter und Willkür hinreichend zu verdecken: Aufnahme oder Ablehnung erfolgten nach einem ein für alle Mal festgelegten Katalog von »Begabungen« und »Fähigkeiten«. Die Linke hat nie gegen die klassenmäßigen Auswahlkriterien gekämpft – sie hätte dann gegen die Auswahl selbst und das Schulsystem als Ganzes kämpfen müssen – sondern sie kämpfte für das Recht aller, in die Auswahlmaschine eintreten zu dürfen.

Der widerspruchsvolle Charakter dieser Forderung blieb solange verborgen, als das Recht zwar theoretisch allen offenstand, die überwiegende Mehrzahl aber keine Möglichkeit hatte, praktisch davon Gebrauch zu machen. In dem Augenblick aber, wo mithilfe einer weitverbreiteten Bildung es für die meisten möglich wird, von einem in der Theorie bestehenden Recht praktisch Gebrauch zu machen, wird der Widerspruch deutlich: wenn die Mehrzahl zu den Hochschulen Zugang erhält, verlieren diese ihre Funktion als Instrument der Auslese. Das Recht, studieren zu dürfen und das Recht, die soziale Stufenleiter emporzuklettern, laufen nicht mehr parallel. Wenn auch vielleicht noch alle studieren können, so können jedenfalls keineswegs mehr alle auch mit einer privilegierten Stellung rechnen. Sind aber einmal die Auswahlmechanismen ins Wanken geraten, so wird die Gesellschaft versuchen, zusätzliche Mechanismen zu schaffen, oder aber sie wird zu Studienbeschränkungen administrativer Art Zuflucht nehmen.

3. Diese administrativen Beschränkungen – numerus clausus, Auswahl durch Wettbewerb – sind politisch so delikat, daß alle der V. Republik nachfolgenden Regierungen vor ihrer Anwendung zurückschreckten. In der Tat ist jede von vornherein festgelegte Zulassungsbeschränkung die offene und brutale Negierung eines Rechtsprinzips und einer gesellschaftlichen Fiktion, nämlich: daß alle die gleiche Chance haben, gesellschaftlich aufzusteigen, und daß alle, die dazu befähigt sind, auch studieren können.

Diese Rechtsfiktion zerstören, hieße den illusorischen Charakter der bürgerlichen Freiheiten bloßlegen; vor allem aber wäre diese im Namen der technokratischen Rationalität angewendete Beschränkung – das Studium ist teuer und unrentabel, wenn die Diplomierten später nicht aufsteigen können – ein Schlag ins Gesicht der Mittelschichten, oder derjenigen, die so genannt werden, mit deren Unterstützung das kapitalistische Regime nur dann rechnen kann, wenn es ihnen die Möglichkeiten eines allein durch die eigenen Fähigkeiten begrenzten »gesellschaftlichen Aufstiegs« vorgaukelt. Numerus clausus, Vorauswahl, Wettbewerb würden die Illusionen der Leistungsideologie zerstören und somit die mittleren Schichten gegen den kapitalistischen Staat aufbringen; sie würden erkennen, daß ihre soziale Stellung ihr Schicksal ist, und daß sie keineswegs zum »herrschenden Bürgertum« gehören und nur durch den Zufall der Geburt und des (fehlenden) Vermögens keine wirklichen Bourgeois geworden sind, sondern daß sie nichts weiter sind als bedürftiges Fußvolk, subalterne Arbeiter, keineswegs aber ihresgleichen, und dazu bestimmt, der Bourgeoisie zu dienen.

Die Bourgeoisie muß also politisch die Fiktion der sozialen Aufstiegschancen für alle und also auch des freien Zugangs zum Studium für alle aufrechterhalten – und dies ist auch der Sinn der Faurischen Reformen. Allerdings wird nun diese Fiktion von der Wirklichkeit entlarvt: keine Aufnahmebeschränkungen, aber das Studium führt zu nichts. Die vielen Diplome entwerten das Diplom. Viele sind auserwählt, aber nur wenige sind berufen: es gibt zu wenig freie Stellen. Die zahlenmäßige Auslese findet nicht durch die Hochschulen, sondern durch das Angebot an Arbeitsplätzen statt.

In Erwartung, daß »die Macht der Ereignisse« verstanden werde – d. h. daß die Eltern ihre Kinder auf die – übrigens noch zu gründenden – »guten« Fachschulen hinlenken, die ihnen zu »guten« Stellungen verhelfen und nicht zu den Universitäten, aus denen sie als Arbeitslose herauskommen –, läßt der Staat die Universitäten für alle offen, während er gleichzeitig den Wert der Diplome, die sie vergeben, immer mehr vermindert. Kurz: das Gängelband, das man der Universität läßt, ist gerade lang genug, um sich – so hofft man – daran aufzuhängen. Inzwischen schickt man die Bullen in die Universitäten und wartet, daß diese, nachdem man so für Unordnung gesorgt hat, nun völlig in Mißkredit geraten.

4. Diese Widersprüche der bürgerlichen Universität sind auf grundsätzliche Widersprüche zurückzuführen:

– Der Wert, der bislang den Diplomen zuerkannt wurde, beruhte auf ihrer geringen Häufigkeit und der geringen Häufigkeit der Studierfähigen. Wenn nun immer mehr Leute studieren und diplomiert werden, so verliert das Diplom seinen Wert als Auszeichnung, und die hierarchische Arbeitsteilung wird aufgehoben.

– Wenn die Befähigung zum Studium allgemein verbreitet ist – sei sie nun durch ein Diplom gekrönt oder nicht –, so kann sie nicht mehr als Auswahlkriterium gelten: die soziale Schichtenbildung kann nicht mehr vorgeben, auf Fähigkeiten und Verdiensten zu beruhen. Das Recht zu studieren und das Recht aufzusteigen laufen nicht mehr parallel.

– Wenn das Studium keine Garantie mehr für den gesellschaftlichen Aufstieg ist, dann kann man es entweder als einen Zeitverlust betrachten und als unnütze gesellschaftliche Belastung, da es sich weder für den Studierenden noch für die kapitalistische Gesellschaft rentiert, oder man betrachtet es als eine allgemeine nicht funktionale Bildung, einen Luxus, den sich die Gesellschaft schließlich leisten kann. In diesem Fall hat aber das unverjährbare Recht auf ein Studium zur Folge, daß dieses Studium, das ohne Aufstieg bleiben wird, für diejenigen, die es aufnehmen, und die später Angestellte, Arbeiter oder sonst irgend etwas werden, einen Wert an sich darstellt.

Hier nun bricht der Widerspruch der Universität offen auf. Gegen das Auswahlverfahren hatte die Studentenbewegung für das unverjährbare Recht jedes einzelnen auf ein Studium gekämpft. Diese Forderung (die solange kleinbürgerlich blieb als sie Aufstiegsmöglichkeiten für alle verteidigte), führte dann logischerweise zu anti-hierarchischen und egalitären Positionen: wenn alle das Recht haben zu studieren, so dürfte das Studium, da es aufhörte das Privileg einer Klasse zu sein, auch kein Recht auf irgend ein anderes Privileg beinhalten. Man mußte dann akzeptieren, daß Akademiker mit der Hand arbeiten, was dazu führte, daß nun die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die von dieser geprägten technischen Arbeitsteilung, sowie jede Form der Hierarchisierung der Aufgaben in Frage gestellt und abgelehnt wurden.

Jedoch kann man hier noch nicht stehen bleiben; denn in dem Moment, wo man akzeptiert, daß das Studium nicht mehr gleichbedeutend mit sozialem Aufstieg ist, muß man Wesen, Inhalt und Sinn des Studiums neu definieren: entsprechen sie keiner »nützlichen Kultur«, so müssen sie einer »rebellischen Kultur« entsprechen; entspricht das Studium also keiner Forderung der Gesellschaft, so muß es den Forderungen derjenigen entsprechen, die diese Gesellschaft zerstören und diese Arbeitsteilung aufheben wollen.

Nun kann aber die Universität ihrem Wesen nach dieser Forderung gar nicht entsprechen: weder ist sie funktional hinsichtlich der Forderungen der kapitalistischen Wirtschaft, noch hinsichtlich der Forderungen jener, die den Kapitalismus stürzen wollen; sie vermittelt weder eine »nützliche Kultur«, noch auch eine »rebellische Kultur« (die sich per definitionem nicht vermitteln läßt); sie vermittelt eine »universitäre Kultur«, das heißt eine von jeder produktiven oder politisch aktiven Praxis entfernte Kultur; kurz, es ist ein Ort, wo man seine Zeit weder auf nützliche noch auf interessante Weise verbringen kann. Und keine Reform kann diese Situation ändern. Es kann also nicht darum gehen, daß man die Universität reformiert, man muß sie vielmehr zerstören, um damit gleichzeitig die vom Volk losgelöste Kultur, deren Ausdruck sie ist, (die Kultur der Mandarine) und die gesellschaftliche Schichtenbildung, deren Instrument sie noch immer ist, zu zerstören.

5. Die Hochschulguerilla verkürzt die Agonie einer zum Sterben verurteilten Institution und enthüllt die Heuchelei der Fachverbände, die sie verteidigen. Wird man sagen, daß die linken Studenten weder etwas anderes an ihre Stelle zu setzen wissen noch die Gesellschaft verändern können, damit dieses andere lebensfähig werde? Natürlich ist klar, daß die Studenten allein weder eine andere Kultur hervorbringen noch die Revolution machen können. Sie können jedoch verhindern, daß die Zuspitzung der Krise der bürgerlichen Institutionen, der Arbeitsteilung und die Auswahl der »Eliten« verschleiert bleiben. Das tun sie, (und das ist es auch, was alle Rufer nach Ordnung – dieser Ordnung oder einer anderen ebenso autoritären und hierarchischen – ihnen vorwerfen). Allein können sie nicht weitergehen; die tatsächliche (und nicht mehr nur ideologische) Zerstörung, ja nicht einmal die tatsächliche Infragestellung der Arbeitsteilung kann nicht an den Universitäten geleistet werden, dies kann nur in den Fabriken und Unternehmen geschehen. Voraussetzung ist die kritische Analyse einer Organisation, deren scheinbare technische Rationalität nichts weiter ist als die Objektivierung und Maske einer ganz und gar politischen Rationalität; was wir brauchen ist die Analyse einer Herrschaftstechnik (s. den folgenden Text über die Arbeitsteilung).

Nur wenn man von einer solchen Kritik an der Arbeitsteilung ausgeht, kann man wirksam das Schul- und Hochschulwesen kritisieren; die technischen und Berufsschulen, wo direkt, und die Universitäten, wo indirekt die Führungskräfte, die technischen Leiter und das übrige Personal für die kapitalistische Produktion ausgebildet werden. Die Zerstörung der Universität ist also nicht nur Sache der Schüler und Studenten, sie ist vor allem Sache der Arbeiterklasse, wenn die kapitalistische Arbeitsteilung, die schon in der Schule beginnt, überwunden werden soll. Die Krise der bürgerlichen Universität und die Revolte der Arbeiter gegen die Gewaltherrschaft der Fabrik geben diesem Problem (der Überwindung der Arbeitsteilung) seine Aktualität. Und wenn der Zusammenhang dieser beiden Erscheinungen derselben Krise nicht zu einer wirklichen Verbindung zwischen Studenten und Arbeitern führt, und es zu keiner gegenseitigen Kritik der Bildungs- und Herrschaftsmethoden kommt, so ist der Fehler nicht bei den Studenten zu suchen; er liegt vielmehr bei den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung, die alles tun, um die Studenten in das Hochschulgetto einzuschließen, damit sie umso besser die Forderungen der Arbeiter kontrollieren können. Wenn der notwendigerweise mit Gewalt geführte Kampf der Studenten sich auf der Hochschulebene in symbolischen Aufständen zu erschöpfen scheint, so geschieht dies jedenfalls nicht aus einem perversen Geschmack für ziellose Gewalt heraus; man muß vielmehr verstehen, daß nur die Gewalt in der Lage ist, die Mauern des Hochschulgettos – wenn auch nur zeitweise – zu durchbrechen und ein Problem zur Debatte zu stellen, das Reformisten jeder Couleur nicht sehen wollen. Dieses Problem, – das der Krise der bürgerlichen Institutionen und der bürgerlichen Ideologie und das der Arbeitsteilung – ist ein ausgesprochen politisches Problem. Und wenn auch alle Parteien der studentischen Gewalt jede Bedeutung und jeden politischen Sinn absprechen, so wird doch darum aus dieser Gewalt noch kein Vandalismus: es ist eine politische und eine politisch notwendige Gewalt, wenn sie auch allein nicht ausreicht.

Editorische Anmerkungen

Aus: »Les Temps Modernes« Nr. 285, April 1970. Aus dem Französischen von Renate Sami.

OCR-Scan aus: Wolfgang Dreßen (Hrsg.): Sozialistisches Jahrbuch 3. Intellektuelle: Konterrevolutionäre oder Proleten? Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1971, S. 75-80 

Weiteres zu André Gorz gibt es bei den STREIFZÜGEN. Franz Schandl von der Red. Streifzüge schrieb uns deshalb:

Vor einigen Stunden haben wir erfahren, dass unser lieber Freund Andre  Gorz zusammen mit seiner Frau Dorine in den Freitod gegangen ist. Wer sein letztes Buch "Brief an D. Geschichte einer Liebe" liest, wird bei genauer Lektüre auch spüren, warum. Es war aber keine Flucht aus Verzweiflung, sondern ein Entschluss, der wohl schon länger reifte. Kein theatralischer Abgang, aber ein starker.

Mit seinen Werken "Abschied vom Proletariat" und "Wege ins Paradies",  aber auch anderen Schriften hat Andre in eine Richtung gedacht, die später von der Wertkritik aufgegriffen wurde. Besonders freut uns, dass sein letzter Artikel "Seid realistisch -- verlangt das Unmögliche" zuerst in unserer Zeitschrift erschienen ist. Wie stand doch auf dem Cover der letzten Ausgabe der Streifzüge zu lesen: "André Gorz entzückt  das Unmögliche".

Er war uns in den letzten Jahren jedenfalls aufs Engste verbunden und unterstützte unsere Projekte in vielerlei Hinsicht. Für all das danken wir ihm. "Ich habe zweihundert Bäume gepflanzt", schreibt er in seinem  letzten Buch. Wahrlich André, das hast Du.

 Eine ausführliche  Würdigung findet sich demnächst auf dieser Homepage bzw. in der November-Ausgabe der Streifzüge.