Marokko nach den jüngsten "Brotrevolten"

von Bernard Schmid
10/07

trend
onlinezeitung
Der jüngst bei trend.infopartisan erschienene Artikel über die politische Situation in Marokko nach den Parlamentswahlen endete mit dem Satz: „Bleibt abzuwarten, ob dadurch die Monarchie freiheitsfreundlicher oder demokratischer wird. Von alleine, ohne den   Druck   gesellschaftlicher Bewegungen, wohl nicht.“ 

Just bei Erscheinen dieses Artikels wurden neue, brisante Informationen über gesellschaftliche Bewegungen in Marokko in allerjüngster Zeit bekannt. Eine soziale Bewegung, die sich gut mit den „Brotrevolten“ von 1981 und 1984 in Casablanca vergleichen lässt, hat vergangene Woche die marokkanische Regierung zur Rücknahme der Brotpreis-Erhöhung gezwungen.
Die Ankündigung einer Erhöhung des Brotpreises um 30 Prozent (gerechtfertigt mit dem Anstieg des Weltmarktpreises für Weizen) am 10. September dieses Jahres ging dem Beginn des moslemischen Fastenmonats Ramadhan um wenige Tage voraus. Da im Ramadhan der Nahrungsmittelkonsum ansteigt – am Abend und in der Nacht wird

umso mehr gespeist, und zudem werden besonders viele sübe und kalorienreiche Speisen während dieses Monats konsumiert -, handelt es sich um eine besonders „empfindliche“ Periode für die Erhöhung von Grundnahrungsmittelpreisen. Aufgrund des erhöhten Fleisch-, Sübwaren- und weiteren Konsums profitieren zugleich die Händler gewöhnlich von der gestiegenen Anfrage, um gehörig auf die Preise draufzuschlagen. Die Regierung hat darauf nicht nur keine Rücksicht genommen, sondern selbst kräftig auf die Preise draufgeschlagen – sei es durch das Anheben der Preise öffentlicher Bäckereibetriebe oder eine Verringerung der Subventionierung von Grundnahrungsmitteln. Die Brotpreis-Erhöhung stand nicht allein: Auch die Kaffee-, Tee-, Zucker- und Milchpreise kletterten zur selben Zeit.  

Am Sonntag, 23. September demonstrierten daraufhin, je nach Angaben, 2.500 bis 4.000 Menschen (letztere Zahl ist jene der Veranstalter/innen) in Sefrou, einer Stadt im mittleren Atlas, rund 200 Kilometer östlich von Rabat und in der Nähe von Fès. Alsbald schlossen sich den protestierenden Einwohner/innen/v von Sefrou auch rund 500 Bewohner von umliegenden Dörfern an. Mehrheitlich waren Frauen und Jugendliche auf der Strabe. Die staatlichen Ordnungskräfte griffen gewaltsam ein, um die Demonstrierenden daran zu hindern, bis zur Präfektur (= dem Sitz des juristischen Repräsentanten des Zentralstaats in einer Wilayate, also einem Département o. Verwaltungsbezirk) vorzudringen. Armee und Polizei blockierten allenthalben die Straben. Daraufhin wurden mehrere öffentliche Gebäude attackiert und beschädigt, auch private Gebäude scheinen bei dem ausbrechenden Riot in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Die Protestierenden riefen Slogans „gegen die Erhöhung des Brotpreises, die Verteuerung der Wasser- und Stromrechnungen, die Verteuerung des Zugangs zu Gesundheitsversorgung“, präzisiert etwa eine Nachrichtenmeldung in ‚Le Monde’ vom 27. 09. 

„Sie haben alles zerstört, mit Ausnahme der Portraits des Königs“ (Schade eigentlich!)

 

Die Repression war hart. Rund 50 Personen wurden laut ersten Angaben verletzt, z.T. schwer. Hingegen schreibt das Wochenmagazin ‚Le journal hebdomadaire’ in seiner Ausgabe vom 29. September: „Die Zusammenstöbe forderten über 300 Verletzte“ (Bildunterschrift unter dem oto einer offenkundig verletzt dort liegenden Frau, S. 31).  

Ein anderes marokkanisches Wochenmagazin, ‚Tel Quel’, beschreibt in seiner Nummer vom 29. September ausführlich die Situation: „Ein (Polizei-)Offizier legt das Feuer an die Lunte, als er einer jungen Demonstrantin einen heftigen Fubtritt verpasst. Die Empörung ist allgemein, und Mitglieder der AMDH (Anm.: marokkanische Vereinigung für Menschenrechte), die gegen den ‚barbarischen Akt’ protestieren, werden sofort festgenomen. Der Zorn schwillt an. Das junge Mädchen steht mit Schwierigkeiten wieder auf, von allen Seiten regnet es Beleidigungen gegen die Polizisten und die Verantwortlichen der Präfektur. ‚In diesem Moment haben Polizisten versucht, die Menge aufzulösen, indem sie mitten hinein prügeln. Aber dieses Mal hat es nicht geklappt. Indem sie einige Schritte zurück gingen, fingen die Jüngsten damit an, Steine in Richtung der Polizisten zu werfen, bevor sie durch die engen Gassen der alten Medina (Anm.: Altstadt nach marokkanischen Begriffen, in Algerien würde man Kasbah sagen) wegliefen’ erzählt ein Augenzeuge vor Ort. Die Stadt fängt Feuer. Die Polizisten, die sich auf die Verfolgung der jungen Demonstranten begeben haben, laufen in den kleinen Gassen in die Falle und bekommen einen Regen von Kieselsteinen ab. Auf ihrem Weg beschädigen die Demonstranten eine Bankfiliale, ein Postbüro, verbrennen des Auto eines Beamten und attackieren den Sitz (Anm.: der Polizeikräfte? der Präfektur?) im vierten Stadtbezirk. ‚Sie haben administrative Dokumente zerrissen und Mobiliar zerdeppert. Sie haben alles zerstört, auber den Portraits des Königs’ vertraut eine offizielle Quelle in Sefrou uns an. Die Polizisten verteilen sich, um die verschiedenen Stadtviertel abzudecken, von wo Akte von Vandalismus vermeldet worden sind. Aber sie bekommen jedes Mal denselben Empfang: Steinwürfe und Haufen von brennenden Autoreifen. (...)“

37 Personen wurden festgenommen. Ihre Vorfühung vor den Richter, im Rahmen eines „Flagrantiprozesses“, fing am vergangenen Freitag an. Unter den Festgenommenen befinden sich auch zwei Mitglieder der marokkanischen Menschenrechtsvereinigung (AMDH), die sich „vermittelnd“ zwischen die Demonstranten und die Ordnungskräfte gestellt hatten – und zwei weitere, die eine Rechtfertigung für die erfolgten Festnahmen erfragt hatten.

 Am Dienstag, 25. September fand daraufhin, in einer Situation hoher Anspannung, ein Sit-im im Zentrum der Hauptstadt Rabat statt. Daran nahmen laut Agenturberichten „mehrere Dutzend“ Personen teil. In Rabat wurde die Vorsitzende der Menschenrechtsvereinigung AMDH durch die Präfektur zu einer Untersuchung vorgeladen. Mitte voriger Woche wurde zugleich bekannt, dass die Erhöhung des Brotpreises zurückgenommen worden sei.  

Repression gegen Streik bei den Bergarbeitern

Es handelt sich bei den Demonstrationen, Riots und Sit-ins der letzten 8 bis 14 Tage um die wichtigste soziale Bewegung der vergangenen Monate in Marokko, zusammen mit dem Streik der Bergarbeiter von Jbel Awam, der zwei Monate andauerte - und dn die Behörden danach durch Repression zu zerschlagen suchten. Am 4. Juli begann der Ausstand der Bergarbeiter „für dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse (Festanstellung), für eine echte Sozialversicherung, für bessere Arbeitsbedingungen und freie gewerkschaftliche Betätigung“. Mehrfach erfolgten Übergriffe der Polizei gegen die Streikenden, die auf überregionaler Ebene auf den Arbeitskampf aufmerksam machten, der bis dahin weitestgehend isoliert blieb.  

Am 6. August wurden sechs Teilnehmer an dem Arbeitskampf verhaftet. Bei einem weiteren Eingriff der staatlichen Ordnungskräfte am Abend des 10. September wurden mehrere Dutzend Menschen verletzt und weitere Dutzende festgenommen. Die Polizei griff ein, um die seit neun Wochen Streikenden daran zu hindern, die Ausfahrt der LKWs aus dem Bergwerk zu verhindern. 37 Personen, darunter die bereits einen Monat zuvor Verhafteten, wurden dem Gericht in der Bezirkshauptstadt Khénitra überstellt. Gleichzeitig nahmen schon am darauffolgenden Vormittag, dem (Dienstag) 11. September, 1.000 Personen an einer Sitzblockade vor dem Sitz der örtlichen Gendarmerie teil. 

Am Mittwoch, 12.  September wurden 29 der Festgenommenen dem „königlichen Strafverfolger“ (= Staatsanwalt) in Khénitra vorgeführt. Ihnen wird die Teilnahme an illegalen Versammlungen, die „Beleidigung“ der Ordnungskräfte sowie die „Beeinträchtigung der Arbeitswilligen“ (und damit ihres „Rechts auf Arbeit“) in der Mine vorgeworfen. 24 der Betroffenen wurden im Laufe jenes Tages freigelassen, wobei das Strafverfahren gegen sie jedoch weiterläuft. Hingegen wurden 5 der Festgenommenen in Haft gehalten. Für sie muss nun eine Solidaritätskampagne durchgeführt werden. Es handelt sich um: Ali Fatah Hammou, Ismail Al Amrani, Mohammed Qissit, Ali Ouzali und Mohammed Zarabi.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel und die Fotos erhielten wir vom Autor am 4.10.2207. - Für die Fotos geht der Dank an Salim Kenz.