Gegen und jenseits des Staates
Ein Interview mit John Holloway

von John Holloway und Marina Sitrin
10/07

trend
onlinezeitung

Im Februar 2007 sprachen John Holloway und Marina Sitrin über die neuen sozialen Bewegungen in Lateinamerika, über Macht, den Staat und präfigurative Politik (Organisationsformen, die die Welt widerspiegeln, die geschaffen werden soll; d. Ü.). Das Gespräch ist eine Fortführung einer 2004 begonnenen Diskussion zu den gleichen Themen. http://auto_sol.tao.ca/node/view/1052

MS: Unser letztes Interview/Gespräch fand 2004 statt. Damals lag unser Fokus hauptsächlich auf der Frage der Staatsmacht und speziell auf der Nicht-Übernahme derselben. Der größte Teil unseres Gespräch basierte auf den autonomen sozialen Umbrüchen, die in Lateinamerika stattfanden und stattfinden. Heute, im Februar 2007, behaupten viele Leute, dass sich seitdem in Lateinamerika viel verändert hat. Ich denke dabei speziell an die sieben "linken" Regierungen, die nun formell an der Macht sind, von Bolivien und Venezuela über Ecuador bis hin zu Nicaragua, und ich denke an die Leute, die sagen, dass "jetzt" die Linke an der Macht ist. Hat die Veränderung, über die die Leute reden, tatsächlich stattgefunden? Liegt die wichtige Verschiebung in der formellen Macht , als was es die meisten KommentatorInnen ansprechen? Soll das überhaupt der Ausgangspunkt unseres Gesprächs sein?

JH: Ja, ich glaube, das ist ein guter Ausgangspunkt. Wir leben nicht in einer trostlosen Zeit. Das ist vielleicht der wichtigste Punkt. In manchen Briefen von Freunden aus Europa beziehen sich diese eindeutig auf Johannes Agnolis Argument, dass es speziell in solch trostlosen Zeiten wie der jetzigen wichtig sei, subversive Gedanken am Leben zu halten. Aber wenn man in Lateinamerika lebt, ist es ganz offensichtlich, dass das keine trostlose Zeit ist. Sie mag unerfreulich sein, Angst einflößend (im Moment besonders in Mexiko), aber sie ist nicht aussichtslos, sondern aufregend, voller Kampf und voller Hoffnung. Die Bedeutung des Aufstiegs der "linken" Regierungen liegt darin, dass sie die Stärke des Kampfes auf dem Kontinent als Ganzem widerspiegeln, und das ist sehr wichtig.

Ich sage "Widerspiegelung", aber diese Regierungen sind auch eine Antwort auf die Zunahme sozialer Kämpfe, eine sehr komplizierte und widersprüchliche Antwort. In allen Fällen stellen sie den Versuch dar, den Kampf zu kontrollieren (statify), ihm eine staatliche Form zu geben, was natürlich bedeutet, den Kampf zu entschärfen und ihn in Organisationsformen zu kanalisieren, die mit der Reproduktion von Kapital kompatibel sind. Einige der "linken" Regierungen sind ganz offen reformistisch und repressiv (Argentinien, Brasilien, Uruguay), andere (speziell Venezuela) sind anscheinend ein echter Versuch, die Staatsform an ihre Grenzen zu bringen, sie für wirkliche Kontrolle durch die Basis zu öffnen. Wie weit das von innerhalb der Staatsstrukturen und von innerhalb einer von einer Führungsperson bestimmten Organisation aus funktionieren kann, bin ich sehr skeptisch, aber sicherlich ist der Weg der venezolanischen Regierung bis jetzt viel interessanter, als man erwartet hätte.

Die eigentliche Bedeutung der "linken" Regierungen ist also NICHT die Fassade, sondern dass der Kontinent hinter der Fassade brodelt.

MS: Es ist dieses Brodeln auf dem Kontinent und wo es stattfindet, worüber ich mehr reden möchte. Ich stimme zu, dass die wirkliche Inspiration in Lateinamerika heute hinter der Fassade der "linken" Regierungen liegt, bei den sozialen Bewegungen. Im besonderen denke ich da an die eher autonomen Bewegungen, von den Zapatistas und der APPO (was heißt das?) in Mexiko bis hin zur Coordinadora del Agua y por la Vida in Bolivien, den autonomen Bewegungen der erwerbslosen Arbeiterinnen und Arbeiter in Argentinien und den Hunderten von nun wiedergewonnenen und besetzten Arbeitsplätzen nicht nur in Argentinien, sondern auch in Brasilien, Uruguay, Paraguay, Chile etc. Welche Auswirkung haben deiner Meinung nach die neuen "linken" Regierungen auf diese eher autonomen Bewegungen? Eröffnen sie den Bewegungen mehr Raum?

JH: Nein, ich glaube nicht, dass sie den Bewegungen Raum eröffnen. Oder möglicherweise eröffnen sie zwar Raum für die Ziele der Bewegungen, drängen diese aber zu einer anderen Art und Weise der Umsetzung, einer, die mehr in das System passt. Im besten Fall findet eine Enteignung einer Revolution statt: die Regierung verwirklicht viele der Ziele der Bewegung, tut dies aber im Namen der Bewegung, befiehlt also praktisch der Bewegung, sich ruhig zu verhalten oder die Regierung loyal zu unterstützen. Dieses Gefühl bekam ich zum Beispiel in Bolivien. Sicherlich stellt die Regierung von Evo Morales einen signifikanten Bruch mit früheren Regierungen dar, und sie setzt die Forderungen der Bewegung um, die die früheren Präsidenten zu Fall gebracht hatte, aber sie setzt sie in einer verwässerten Form um. Und den sozialen Bewegungen wird die Wahl geboten zwischen bedingungsloser Loyalität oder Marginalisierung durch die Regierung. Es findet also tatsächlich eine Enteignung und Verwässerung der revolutionären Bewegung statt. Meiner Meinung nach trifft das wahrscheinlich auf alle wirklich linken Regierungen zu, wobei ich unter "wirklich links" eine Regierung verstehe, die tatsächlich aus der Bewegung selbst entsteht. In anderen Fällen, wie Argentinien, entsteht die Regierung natürlich nicht aus der Bewegung heraus, sondern bietet einfach eine liberalere Antwort auf die Bewegung als vorhergehende Regierungen.Ist es also besser, eine links- oder rechtsgerichtete Regierung zu haben oder ist es egal? Meiner Meinung nach ist es im Großen und Ganzen wahrscheinlich besser, eine linke Regierung zu haben, wenn auch nicht immer. Im Fall von Mexiko glaube ich, dass López Obrador weniger repressiv und destruktiv gewesen wäre als sich die Regierung Calderón herausstellt zu sein. Aber es hätte sicherlich ein Prozess der Enteignung der Bewegung stattgefunden, der Umwandlung einer auf Autonomie ausgerichteten Bewegung zu einer Bewegung, die eine Regierung unterstützt, die angeblich im Namen der Bewegung handelt. Es ist also wichtig, uns unsere eigene Logik und Organisationsform zu erhalten, unabhängig von der Farbe der Regierung.

MS: Wie erreichen wir das also? Wie sieht das aus? Ich weiß, das ist eine Frage, die sich die Menschen in den verschiedenen Bewegungen selbst und untereinander stellen. Selbst vor der Wahl "linker" Regierungen fragten sich viele Leute, wie eine Organisierung auf der Basis ihrer persönlichen Möglichkeiten und Zeit weitergeführt werden könnte. Nun stellen sich die Fragen noch schärfer. Welche möglichen Wege siehst du? Ein Beispiel: In den 1990ern begann in Argentinien die Gruppe HIJOS, Kinder der Verschwundenen, die Diskussion von einer Diskussion über Diktatur hin zu einer über Community zu verlagern und brachen dadurch mit der Idee der Nichteinmischung (no te metas). HIJOS ist ein horizontal strukturiertes Netzwerk, das mit direkter Aktion und Selbstorganisation arbeitet. Während des vergangenen Jahres lud die Regierung Kirchner Mitglieder von HIJOS ein, an Gerichtsverfahren teilnehmen, in denen potentiell viele für die Morde während der Diktatur zur Verantwortung gezogen werden. Eines der Probleme dabei ist, dass sie dafür eine Vertretung wählen müssen und dass Entscheidungen getroffen werden ohne Zeit zu haben für Rücksprache mit der Gruppe. Das stellt eine Herausforderung dar für die horizontalen Beziehungen und Selbstorganisation, die sie geschaffen haben. Ein anderes Beispiel für diese Art der Herausforderungen kann man in Bolivien sehen, wo sich die autonome Bewegung, die für eine verfassungsgebende Versammlung gekämpft hat, nun ausgeschlossen findet, weil sie die Kriterien des Staates für die Teilnahme nicht erfüllt. Sie können also nicht teilnehmen an etwas, das von ihnen kam. Was ist zu tun? Wie können wir weiterhin unseren eigenen Raum und Zeit schaffen?

JH: Das ist das immer eine schwierige Frage. Es ist eine Sache zu sagen, dass wir die Welt nicht ändern können über den Staat – das erscheint mir ziemlich offensichtlich. Aber es ist sehr schwierig zu sagen, dass wir mit dem Staat überhaupt nicht in Beziehung treten werden. Ich bin Professor an einer staatlichen Universität und wahrscheinlich beziehen viele der Leute, die das lesen (wenn es denn welche gibt), irgendein Einkommen vom Staat. Das ist also keine Frage der Reinheit – die gibt es nicht in einer kapitalistischen Gesellschaft. Es ist eine Frage dessen, wie wir mit den Implikationen unseres Kontakts mit dem Staat umgehen, wie wir es vermeiden, in den Staat als Organisationsform zu verfallen. Eine wichtige Frage ist, ob Bewegungen überhaupt Unterstützung durch den Staat akzeptieren sollten. Die Zapatistas (die ich ganz klar sehr bewundere) vertreten den Standpunkt, dass sie absolut keine Subventionen vom Staat akzeptieren. Angesichts der Situation in Chiapas haben sie wahrscheinlich recht, denke ich, aber diese Haltung bringt für einige ihrer UnterstützerInnen Entbehrungen mit sich, die extrem schwer zu vertreten sind. Die Piqueteros von Solano (die ich ebenfalls sehr bewundere) vertreten die Position, dass sie die Erwerbslosenunterstützung akzeptieren – da sie sich einfach einen kleinen Teil dessen zurückholen, was sie selbst als ArbeiterInnen geschaffen haben –, dass sie aber kollektive Kontrolle über das Geld behalten müssen. Von Bedeutung ist hier vielleicht nicht der Inhalt der Entscheidung (ob man das Geld akzeptiert oder nicht), sondern wie die Entscheidung gefällt wird – nämlich als wirklich horizontale, immer wieder hinterfragte Entscheidung –, und deshalb auch der Kampf um die Erhaltung einer wirklich horizontal-demokratischen Kontrolle über den ganzen Prozess, ein wirkliches mandar obedeciendo. So würde ich das Beispiel der HIJOS sehen, die du erwähnt hast. Das bolivianische Beispiel ist anders, ich sehe es eher als Teil der Enteignung der Revolution, die ich in der vorherigen Antwort erwähnt habe. Es bleibt aber die Frage, wie man gegen diese Enteignung kämpft.

MS: Wie kämpft man gegen diese Intervention und Enteignung? Eine der Herausforderungen, die ich sehe, ist, dass der Staat den Gesprächsrahmen bestimmt. In Bolivien schlägt der Staat bestimmte Maßnahmen vor, die eigentlich gut wären für die Bevölkerung und lädt diese zur Teilnahme an der Umsetzung ein. Soll man nun daran teilnehmen? Und selbst wenn man auf die horizontalste Art teilnimmt, als Gemeinde oder als Kollektiv, wird die Diskussion doch vom Staat vorgegeben. Der Ausgangspunkt der Diskussion ist nun der Staat. Wie kann das wirklich horizontal sein, wenn der Ablauf vorgegeben ist? Du gehörst zum Beispiel zu einer autonomen Gemeinde außerhalb von Cochabamba in Bolivien, von denen es nun viele gibt. Diese Gemeinden diskutieren vielleicht netzwerkartige Beziehungen untereinander und alternative Tauschformen. Nun schlägt die Regierung von Evo die Verstaatlichung der Ressourcen in dieser Gemeinde vor. Wie kann man sich nun weiterhin sowohl autonom organisieren als auch auf den Staat antworten? Kann beides zusammen gelingen? Was unternimmt eine autonome Gemeinde, damit ihr Weg nicht unter die anscheinend guten Absichten des Staates subsumiert wird? Kann es eine Beziehung zum Staat geben, die noch Autonomie zulässt? Und, als letztes, wenn man sich entscheidet, sich weiterhin autonom zu organisieren und die Agenda des Staates nicht zu der der Bewegung oder der Gemeinde werden zu lassen, wie erklärt dann eine Gemeinde anderen Teilen der Gesellschaft, die die Absichten des Staates als gut ansehen, warum sie die Agenda des Staates ignoriert?

JH: In diesem Interview bestimmst du den Ablauf durch deine Fragen. Wenn mir die Fragen nicht gefielen, (aber sie gefallen mir – sie gefallen mir sehr gut), würde ich sie nicht einfach ignorieren, ich würde so antworten, dass meine Agenda wieder auf´s Tapet kommt. Ein Gespräch hat immer zwei Seiten. Wenn du mir erzählst, dass du in unserem Namen das Gas verstaatlichen wirst, dann sage ich: "Sehr gut, aber wenn es in unserem Namen geschieht, dann überlasse uns die Verwaltung." Das Problem ist eher die Form, nicht wahr, als der Inhalt, eher das Wie als das Was der Politik. Diesen Punkt müssen wir immer wieder betonen. Das zentrale Problem mit Evo und mit Chávez ist nicht so sehr, was sie machen, sondern die Art und Weise, in der sie es machen, die damit verbundene Organisationsform.

Mit anderen Worten, unser Verhältnis zum Staat ist nicht nur gegen ihn gerichtet und nicht nur auf jenseits des Staates ausgerichtet, sondern gegen-und-jenseits. Die einzige Autonomie für uns ist eine, die sich gegen-und-jenseits bewegt, mit soviel Betonung auf dem Jenseits wie möglich – und dabei mit unserem eigenen Projekt weiterzumachen, dabei aber das Projekt als eine Bewegung gegen-und-jenseits zu verstehen. Es gibt keinen reinen Exodus, nur widersprüchliche Bewegungen, um etwas aufzubrechen.

MS: Wo siehst du diese Brüche? Diese Brüche, die gleichzeitig etwas erschaffen? Das Gegen und Jenseits?

JH: Überall. Für mich ist das eine Frage des Blicks, nämlich die Augen aufzumachen und die Welt nicht unter dem Blickwinkel der Vorherrschaft zu sehen, sondern der Gehorsamsverweigerung. Das Gegen-und-Jenseits sehe ich als Verweigerung-und-Kreation: "Nein, wir werden nicht tun, was das Kapital von uns verlangt, wir tun das, was wir für nötig und wünschenswert halten." Die Zapatistas sagen: "¡Ya basta! Genug der Unterdrückung, wir werden mit unserem eigenen Projekt weitermachen, selbst Juntas de Buen Gobierno schaffen, ein eigenes Gesundheits- und Bildungssystem einrichten. Und wir werden nach außen strahlen und widerklingen, wir werden nicht nur ein geschlossenes autonomes Gebiet sein, sondern ein Riss in diesem Herrschaftssystem, ein Riss, der sich ausbreitet." Aber es gibt natürlich andere Beispiele über Beispiele. Manchmal müssen die Menschen die Sache einfach in die eigene Hand nehmen, weil sie keine andere Wahl haben, da der Staat einfach nicht präsent ist. Das war so in El Alto in Bolivien, wo die fest verankerte Tradition der Selbstverwaltung in den letzten Jahren eine wichtige Quelle der Kraft war für die Aufstandsbewegung – wieder nicht nur eine Autonomie, sondern ein Riss im herrschenden System. Manchmal passiert das in einem viel kleineren Rahmen, eine Gruppe von Leuten trifft sich und beschließt, ihr Leben von nun an dem zu widmen, was sie für wichtig halten, sei es das Land zu bestellen oder ein alternatives Café zu eröffnen. Hier in Puebla gibt es ein schönes zapatistisches Café, Espiral 7, das zu einem Mittelpunkt für die ganze Gegen-und-Jenseits-Bewegung wurde. Aber oft passiert das auch auf einer viel unspektakuläreren Ebene, Einzelpersonen oder Gruppen von Freunden, die beschließen, ihr Leben nicht den Bedingungen des Geldes anzupassen, sondern ihre eigene Agenda aufzustellen.

Vielleicht geht überhaupt einfach darum, unseren eigenen Plan zu machen. Das Wesen des Kapitalismus ist, dass er ein System von Befehlen ist, was wir tun sollen. Dagegen zu rebellieren heißt zu sagen: "Nein, wir werden bestimmen, was wir tun, wir werden unseren eigenen Plan machen." Mit anderen Worten, innerhalb des Gegen-und-Jenseits wollen wir, dass das Jenseits so weit wie möglich die Richtung und die Geschwindigkeit für das Gegen vorgibt. Klar, in der Praxis kann das ziemlich schwierig sein, aber das große Problem der Linken ist, dass wir die meiste Zeit das Kapital die Agenda bestimmen lassen, und dann laufen wir hinter her und protestieren. Für die Otra Campaña zum Beispiel bedeutete die Repression in Atenco, dass die Regierung in dem Augenblick praktisch die Kontrolle über die Agenda wiedererlangt hatte, als Marcos beschloss, die Tour durch das Land zu unterbrechen. Gewiss war und ist der Kampf gegen die Repression entscheidend, aber es ist äußerst wichtig für uns, nicht die Kontrolle über unseren eigenen Rhythmus im Kampf zu verlieren. Das haben die Zapatistas im Großen und Ganzen bisher sehr gut geschafft, und das ist auch ein Punkt, auf den zum Beispiel bei den MTD Solano, eine der beeindruckendsten Piquetero-Gruppen in Argentinien, Wert gelegt wird.

Sobald man beginnt, den Fokus auf diese Gegen-und-Jenseits zu richten, diese Risse in der Herrschaft, dann beginnt sich das eigene Bild der Welt zu verändern. Wir fangen an, sie nicht (oder nicht nur) als eine Welt der Herrschaft zu sehen, sondern als eine Welt voller Verweigerung-und-Kreation, voller Würde.

MS: Viele Akademiker, speziell die, die auf Englisch schreiben, schreiben kritisch über die horizontalen Bewegungen in Lateinamerika. Sie behaupten, dass die Bewegungen fehlgeschlagen sind wegen ihres mangelnden Verständnisses von Klasse und Macht (Dass sie sie nicht übernehmen wollten/wollen). Nun schreiben dieselben Leute, z. B. James Petras oder Tariq Ali, vom Sieg der Linken und ignorieren in den meisten Fällen, was viele Menschen in den Bewegungen tatsächlich ersehnen oder erschaffen. Für mich ist das einseitig, engstirnig und historisch unrichtig und bringt uns zurück in den Rahmen der 1960 - 90er Jahre. Aber das sind die Texte, die die meisten Leute lesen, die etwas darüber heraus finden wollen, was in Lateinamerika passiert. Glaubst du, dass das die Bewegungen schädigt?

JH: Im allgemeinen bin ich für eine breite Vorstellung des Begriffs Genosse, dass wir alle, die nein zum Kapitalismus sagen, als Genossen betrachten sollten (zumindest als Genossen des Nein, wenn schon nicht als Genossen des Ja), aber manchmal ist das schwer aufrecht zu erhalten. Ich stimme dem zu, dass es eine außergewöhnliche Blindheit gibt gegenüber dem, was passiert, eine Art verzweifelte Anstrengung, die Kämpfe von heute in gedankliche Rahmen zu pressen, die in der Jugend der Kommentatoren entworfen wurden. Es ist, als ob sie Scheuklappen tragen, die es ihnen einfach nicht erlauben zu sehen. Für sie hat mit Chávez und Evo und manchmal sogar Kirchner und Lula die Linke gesiegt und sie sehen nicht, dass diese Wahlerfolge bestenfalls extrem widersprüchliche Elemente eines sehr realen Anschwellens von Kämpfen in Lateinamerika sind. Ich weiß nicht, ob diese Texte großen Einfluss auf die Bewegungen selbst haben, sie verbreiten aber auf jeden Fall ihre Blindheit speziell unter den Lesern außerhalb Lateinamerikas. Wir brauchen auf jeden Fall mehr solcher Bücher wie dein "Horizontality", damit die Leute hören, was tatsächlich passiert und was Leute tun und sagen.

MS: Viele, die dieses Gespräch lesen, sind schon von den überall auf dem Globus und speziell in Lateinamerika entstehenden Bewegungen inspiriert und werden wahrscheinlich anfangen, oder haben schon angefangen, zu denken, ok, wie bewege ich mich also gegen den Staat und jenseits des Staates? Was bedeutet es und wie könnte es aussehen? Soll ich mich eine Zeit lang einer autonomen Bewegung anschließen? Was sagst du den Leuten, die so etwas fragen?

JH: Es gibt nicht wirklich ein Rezept. Sicher, ich treffe viele Leute, die eine Zeit lang in den zapatistischen Gemeinden gelebt haben und ich bin immer sehr beeindruckt von ihnen und dem, was sie gelernt haben. Aber meiner Meinung nach ist der zentrale Punkt wahrscheinlich das zapatistische Prinzip, von da aus zu gehen, wo wir sind, für eine Transformation dessen zu kämpfen, wo wir uns befinden: nicht nur die Bewegung aufzubauen (obwohl das auch wichtig sein kann), sondern zu versuchen, in allem, was immer wir auch tun, unsere eigene Agenda zu setzen. In marxistischen Begriffen heißt das, gegen Wert für Gebrauchswert zu kämpfen, gegen abstrakte Arbeit für kreatives oder nützliches Tun. Und sehr wichtig ist es, sich umzuschauen und zu erkennen, zu lernen, alle Arten und Weisen zu sehen, in denen Menschen schon gegen das Kapital und jenseits des Kapitals kämpfen, um Würde in ihrem täglichen Leben kämpfen. Die destruktivste Idee bei der Linken ist die, dass wir speziell sind, anders. Wir sind es nicht – alle rebellieren auf irgendeine Art: unser Problem ist, die Rebellion zu erkennen und einen Weg zu finden, an sie heranzukommen. Die größte Herausforderung der Zapatistas ist, dass sie sagen, “wir sind ganz normale Leute, und deshalb Rebellen”: das ist vielleicht das Wichtigste – die Alltäglichkeit von Revolution verstehen.

Eine etwas praktischere Antwort: Es gibt ein schönes neues Buch, das vom Trapese-Kollektiv veröffentlicht wird, Do it Yourself (Pluto Press, London, in Kürze), mit einem sehr praktischen Teil zum Thema, was wir tun können, Gemeindegärten einrichten, Sozialzentren organisieren, Organisieren ohne Chefs, unsere Gesundheit und Bildung selbst in die Hand nehmen etc.

MS: Was war einer der am meisten inspirierenden Momente, den du im letzten Jahr gesehen/gefühlt hast? Warum war er so inspirierend?

JH: Zwei Antworten.

Die erste handelt nicht nur von einem Moment, sondern von vielen Momenten, nämlich als ich zu den verschiedendsten Treffen von autonomen Gruppen eingeladen wurde, in Venezuela, Argentinien, Bolivien, Guatemala, hier in Mexiko. Oft ist es einfach eine überwältigende Erfahrung, die in den Kampf involvierten Menschen zu treffen und ihr Engagement und ihren Enthusiasmus zu sehen und auf welche Art die verschiedenen sozialen Beziehungen für so viele Menschen bereits Realität sind. Und speziell die jungen Leute zu sehen, ihr Ausmaß an Verständnis und ihre Fähigkeiten – in Guatemala traf ich zum Beispiel jemand vom Land, 14 Jahre alt, der/die regelmäßig Radiosendungen zu Themen wie dem verhandelten Freihandelsabkommen machte. Die Realität ist allen unseren theoretischen Überlegungen weit voraus.

Das zweite passierte gerade vor ein paar Tagen, ein kurzes Konzert mit Musik aus Veracruz, in das ich zufällig hineingeriet. Die Musiker waren erstaunlich. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass es das ist, worum es im Kommunismus geht, nicht weil es frei war (es kostete keinen Eintritt), nicht wegen des politischen Inhalts der Musik (sie hatte keinen), sondern einfach deswegen, weil für einen Moment die Zeit still stand, ein Moment, in dem Kreativität und Nützlichkeit absolute Priorität hatten vor abstrakter Arbeit, Gebrauchswert vor Wert, Vergnügen vor Verpflichtung. Vielleicht müssen wir von Kommunismus (oder was immer wir Kommunismus nennen) nicht so sehr (oder nicht nur) als Raum sprechen, sondern als Zeit, als dem Aufbrechen der Zeit und der Schaffung und Erweiterung und Multiplikation dieser befreiten Momente.

Editorische Anmerkungen

Den Text spiegelten wir von
http://zmag.de/artikel/gegen-und-jenseits-des-staates#documentContent

Übersetzt von: Eva-Maria Bach