Holm Andrej (Hg.) Revolution als Prozess, Selbstorganisation und Partzipation in Venezuela

Von den Mühen der Ebene
von Peter Nowak

10/07

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Viel wird zur Zeit über die Entwicklung in Venezuela diskutiert. Dabei scheiden sich vor allem an der Person des charismatischen Präsidenten Hugo Chavez die Geister. Manche sehen in ihn einen neuen Fidel Castro und andere im In- und Ausland beschimpfen ihn als Populisten, Kommunisten und Nazi. Manche bringen es sogar fertig, alle drei Charakterisierungen für Chavez gleiczzeitig zu verwenden.

Auch AutorInnen, die den Umwälzungsprozess in Venezuela mit kritischer Sympathie verfolgten, konzentrieren sich vor allem auf den politischen und persönlichen Weg von Chavez. Eine löbliche Ausnahme war das in der Cuba Libre schon besprochene Buch "Venezuela Bolivariana“ von Dario Azzellini. Er legte den Focus auf die gesellschaftlichen Prozesse der Veränderung jenseits des Präsidenten. Nun hat die Gruppe MovimentoR im VSA-Verlag ein Buch herausgeben, an dem künftig niemand vorbeikommen wird, der oder die über die Entwicklung in Venezuela diskutiert.

In 9 Kapiteln untersuchen sozialkritische Intellektuelle, was sich in Venezuela auf den Sektoren der Stadtteilarbeit, der Bildung, des Gesundheitswesens, der Medien und der Wirtschaft geändert hat und wie die venezolanische Linke auf die Entwicklung im Land reagiert.

Dabei werden in keinem Beitrag die Entwicklungen in Venezuela glorifiziert. Der Titel des Beitrags von Dario Azzellini „Von den Mühen der Ebene“ ist in dieser Hinsicht sicher programmatisch. Über die unterschiedlichen Sektoren der Selbst- und Mitbestimmung informiert uns der Autor. Als gelungenes Beispiel wird die Aluminiumfabrik Alcasa genannt, die unter dem marxistischen Ex-Guerillero Carlos Lanz zum Musterbetrieb für Arbeiterselbstverwaltung und soziale Initiativen geworden ist und dabei die Produktion sogar noch um mehr als 10% steigern konnte. Das Schwarze Schaf im Bereich der Arbeiterselbstverwaltung wird auch noch nicht verschwiegen. Das größte Papierunternehmen Lateinamerikas Invepal kam ebenfalls unter Arbeiterselbstverwaltung. Die Belegschaft wählte den Gewerkschafter Edgar Pena zum Arbeitsdirektor. Doch der wurde wegen Misswirtschaft und Korruption Anfang 2006 wieder abgesetzt. Zur Zeit wird die Fabrik von der Linkschavistin und venezolanischen Ministerin Cristina Iglesias kommissarisch verwaltet. In der Belegschaft werden neue Kooperative-Modelle diskutiert.

Partizipative Demokratie

Auch in anderen Bereichen wird immer wieder über Fehler berichtet, die eigentlich sinnvolle Projekte wie bestimmte Bildungsmissionen lahm legen. Doch immer wieder werden von der Basis selber Lösungswege für die Behebung der Missstände benannt und sie haben mittlerweile auch die Instrumentarien, um diese umzusetzen. Dazu gehört die soziale Kontrolle von Basisbewegungen und Initiativen, die eben nicht nur mit bestimmen, sondern auch über die Geldvergabe für Stadtteilprojekte entscheiden können und Einblick in sämtliche Dokumente und in die Buchführung haben. Die beiden Stadtsoziologen Andrej Holm und Matthias Bernt bezeichnen diese Rätebewegung von unten als wichtiges Element des Modells der partizipativen Demokratie, die in Venezuelas Verfassung festgeschrieben ist. Im Gegensatz zum Modell der repräsentativen Demokratie europäischer Prägung, wo die BürgerInnen ihre Stimme abgeben und dann die gewählten Politiker agieren lassen sollen, geht das partizipative Modell von einer ständigen Gegenmacht von unten aus. Die Grundlage wird im Stadtteil gelegt, wo eben die BewohnerInnen nicht nur mitbestimmen sondern selber entscheiden können. Bei allen Problemen in dieser Entwicklung, die auch Bernd und Holm offen ansprechen, sehen sie Autoren in diesem Modell „auf jeden Fall einen neuen Ansatz, der nicht nur in Venezuela eine Demokratisierung der Stadtentwicklung einleitet, sondern auch für uns einige Denkanstösse bereithält“.

Der Mediziner Wolfram Metzger würdigt in seinen Beitrag über die venezolanische Gesundheitspolitik die Rolle der kubanischen Ärztinnen und Ärzte und weist faktenreich alle von in- und ausländischen Gegnern des kubanisch-venezolanischen Joint-Ventures zurück. Er beschreibt auch die Bemühungen reaktionärer Kreise in den USA, die auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Deutschland unterstützt werden, kubanische Ärzte aus Venezuela abzuwerben und zur Flucht in die USA zu veranlassen. Dabei werden sie mit den guten Verdienstmöglichkeiten gelockt, die sie dort hätten. Ca. 50 Ärzte sollen bisher darauf reingefallen sein. Die große Mehrheit der MedizinerInnen ist aber in Kuba nicht nur hervorragend in ihrem Fach ausgebildet worden sondern hat auch die soziale Kompetenz erlangt, die sie befähigt, ihre Arbeit mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten höher zu würdigen als individuelle Karrieremöglichkeiten.

Umgestaltung der Medienlandschaft

Am Beispiel der venezolanischen Medienpolitik wird die Diskrepanz zwischen der bei uns veröffentlichten Meinung und der Realität im Land besonders offensichtlich. Während hierzulande auch von JournalistInnenorganisationen das Ende der Pressefreiheit an die Wand gemalt wurde, weil die terristischen Frequenzen neu verteilt worden sind und ein großer Kommerzsender dabei leer ausging, beschreibt Malte Daniljuk die Reaktionen der alternativen Medien des Landes. Die begrüßten die Entscheidung als Beitrag für eine Demokratisierung der Medienlandschaft, die nicht mehr nur Stimme der Oberschicht sein soll. Diese geht dagegen verständlicherweise auf die Barrikaden und ihre KlassengenossInnen in aller Welt unterstützen sie dabei. Das beginnt in Deutschlands bei Springers Welt und endet nicht bei jener Wochenzeitung Jungle World, die sich im Chavez-Bashing von niemanden übertreffen lassen will und in ihrer Berichterstattung nur den Rechtsruck des akademischen Kleinbürgertums im Zeichen knapper Stellen ausdrückt.
Zum Glück hängt von ihnen der bolivarianische Prozess in Venezuela nicht ab. Dafür sind die Basisbewegungen und die Linke des Landes entscheidet. Jan Kühn berichtet kenntnisreich, wie sich schon in den 90er Jahren in den Stadtteilen erste Elemente jener partizipatorischen Demokratie herausbildeten, die es möglich gemacht haben, dass Chavez zum Präsidenten gewählt wurde und die ihn in seiner Amtszeit kritisch begleitet haben. „Wir sagen nicht, was die Regierung will. Die Regierung sagt, was wir schon viel länger vertreten“, ist ihre Devise. Solange hier das Leitmotiv für den Prozess in Venezuela liegt, kann man zuversichtlich sein, dass die großen Mühe der Ebene überstanden werden.

 

Holm Andrej (Hg.)
Revolution als Prozess, Selbstorganisation und Partzipation in Venezuela
Hamburg 2007, 169 Seiten,
ISBN 978-3-89965-259-8,
14,80 Euro

VSA-Verlag