Die gefühlte Bedrohung

von Werner Ruf
10/07

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Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst! Luk. 6, 41-42.

Mit dem Ende des Kalten Krieges, mit der Implosion der Sowjetunion und der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation kam dem Westen der Kommunismus als einigendes Feindbild abhanden. Ein neues Feindbild wurde benötigt, das zeitgleich mit dem 2. Golfkrieg medial aufgebaut und als neues Erklärungsmuster weltweiter Konflikthaftigkeit propagiert wurde.(1) Dies brauchte einige Zeit, aber nun scheint es so weit zu sein, dass die deutsche Bevölkerung mehrheitlich davon überzeugt ist, dass der ‚Kampf der Kulturen’ auch hierzulande Einzug gehalten hat. Laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie, die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Auftrag gegeben wurde,(2) sind 56% der Befragten davon über- zeugt, dass der Islam uns bedroht. Vor zwei Jahren waren es noch 46%. Daten vor dem 11. September 2001 liegen leider nicht vor. Der gleichen Umfrage zufolge glauben 58% der Deutschen, dass es hierzulande zu Spannungen mit der muslimischen Bevölkerung kommen wird – 2006 waren es noch 44%, 2002 30%. „Der Islam ist von Fanatismus geprägt“ sagen 83% (2004: 75%), “der Islam ist rückwärtsgewandt“ 62% (2004: 49%), „der Islam ist intolerant“ meinen 72% (2004: 66%), und er ist „undemokratisch“: 60% gegen- über 52% im Jahre 2004.

Diese Ergebnisse verwundern nicht, blickt man auf eine Studie, die jüngst an der Universität Erfurt erstellt wurde:(3) 31 Beiträge der 133 Magazin- und Talksendungen der Jahre 2005 und 2006 behandelten den Islam im Zusammenhang mit Terrorismus/Extremismus, 22 bezogen sich auf internationale Konflikte, 21 auf Integrationsprobleme. Bezogen auf die Gesamtheit der Beiträge waren 81% negativ konnotiert. Auch wenn es sicherlich falsch wäre, den Medien die Alleinschuld für die oben angegeben Umfrageergebnisse anzulasten, so dürften sie doch eine erhebliche Rolle spielen beim Zustandekommen der Sichtweisen der Bevölkerung.

Es wäre mehr als intellektuelle Neugier, könnten wir uns die Ergebnisse der FAZ-Umfrage nochmals, nach der von Papst Benedikt II. in seiner Rede an der Universität Regensburg am 12. Sept. 2006 vom Zaun gebrochenen Debatte(4) vor Augen führen. Unter Rück- griff auf ein Zitat aus der (wohl fiktiven) Diskussion des oströmischen Kaisers Manuel II. Palaiologos (1391 – 1425) mit einem persischen Gesandten stammt jener Satz, dass der Prophet Mohammed geboten habe, den von ihm verkündeten Glauben „mit dem Schwert zu verbreiten.“ Dass dieses Zitat unter den Muslimen Auf- ruhr verursachen musste, ist mehr als verständlich: Unterstellt doch der Papst, der es besser wissen müsste, dass von dieser Ausbreitung „mit dem Schwert“ die monotheistischen Juden und Christen genauso betroffen wären wie die polytheistischen und animistischen „Heiden“. Die über eineinhalbtausend Jahre währende Existenz einer schier endlosen Vielzahl christlicher und jüdischer Gemeinden im Nahen Osten – darunter die zur katholischen Kirche gehörenden Maroniten – hätten ihn eines Besseren belehren müssen.

Es wäre absurd, einen Zusammenhang zwischen Reli- gion und Gewalt leugnen zu wollen. Jedoch: Warum sucht dieser Papst, der als Josef Kardinal Ratzinger viele Jahre lang Vorsitzender der Glaubenskongregation des Vatikan war, nach Beispielen im Islam? Die Glaubenskongregation ist die Nachfolgerin der Inquisitionskommission, in deren Namen auf der iberischen Halb- insel während und nach der von der kastilischen Krone betriebenen reconquista Hunderttausende Juden und Muslime bestialisch gefoltert und ermordet wurden. Fällt diesem Papst nicht ein, dass zeitgleich mit dem

1. Kreuzzug in Europa die ersten groß angelegten Pogrome gegen Juden stattfanden? Weiß er etwa nichts von den Hexenprozessen, den zigtausenden Frauen, die außerehelich schwanger wurden, öffentlich gedemütigt, gequält oder zum Selbstmord getrieben wurden? War es nicht zum Wohlgefallen der katholischen Kirche, dass im Spanien Francos nur eine einzige protestantische Kirche verdeckt hinter hohen Mauern existieren durfte? Wurden nicht auch – bei uns in Deutschland – bis in die 70er Jahre Personen von den Heiligen Sakramenten die- ser Kirche ausgeschlossen, wenn sie eine „Mischehe“ (mit einem protestantischen Partner) eingingen?

Wie kann dieser oberste Vertreter der Kirche sich auf die Vernunft und die Aufklärung berufen, wo doch gerade diese Kirche die Schriften eines Immanuel Kant und anderer Aufklärer auf den Index, die Liste der verbotenen Bücher, gesetzt hat? Ja, er beruft sich auf die Vernunft – aber welche? Heißt es doch in seiner Rede:

„Versuchen wir, auch anderen die Vernunft des Glaubens zugänglich zu machen …“ Die „Vernunft des Glaubens“ kann wohl nicht die der Aufklärung sein, nein: hier wird der Glaube zur Vernunft erklärt – und das ist und bleibt allemal der antiaufklärerische katholische mit seinem intoleranten Universalitätsanspruch. Doch nicht nur die katholische Kirche ist bis in die jüngste Vergangenheit durch ein enges Verhältnis zu religiös motivierter Gewalt gekennzeichnet: Man lese die antijüdischen (und anti-muslimischen) Tiraden eines Martin Luther, die fast wie Blaupausen für die KZs er- scheinen!5

Keine der Kirchen hat das Recht, für sich die Aufklärung und auf ihr basierend die Werte der Freiheit und der Menschenrechte zu reklamieren, die gerade sie Jahrhunderte lang aufs Schärfste bekämpften, wie dies beispielsweise, den Papst sekundierend, der Vorsitzende(5). An die Landesherren appelliert Luther: „erstlich, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. … Zum andern, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben eben dasselbige darinnen, das sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun wie die Zigeuner, auf dass sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Lande …“ Bienert, Walter (Hrsg.): Martin Luther und die Juden: ein Quellenbuch. Evangelisches Verlagswerk, Frankfurt/ Main 1982, S. 149f. der Deutschen Bischofkonferenz, Kardinal Lehmann tut, wenn er schreibt: „Es bedarf keiner ins Detail gehenden Analyse, um festzustellen, dass sich die islamische Welt insgesamt mit diesem Begriff der Freiheit und damit auch mit dem gesamten Konzept der Menschenrechte außerordentlich schwertut.“(6) Dieselbe Kirche verweigert bis heute Frauen den Zugang zum Priesteramt.

Bisher wurde in den Medien noch der Versuch ge- macht, zwischen „dem Islam“ einerseits und „islamistischen Terroristen“, „islamistisch motivierter Gewalt“ u. Ä. zu unterscheiden. Dass dies ohnehin ein brüchiges Konstrukt war, ergibt sich aus dem einfachen Tatbestand, dass die Individuen durch Zuordnung zu Kollek- tiven, seien diese national oder religiös, in ihren grundlegenden Eigenschaften definiert, in essentiellen Charakteristika gleichgesetzt werden. Dieser Mechanismus führt dazu, dass nicht nur die Trennlinien zwischen den Kollektiven klar gezogen werden können, sondern auch dass den jeweiligen Mitgliedern der Kollektive – eben den Völkern oder neuerdings auch den Kulturen oder Religionen – gemeinsame Eigenschaften und ihr Handeln und ihre Denkweise determinierende Verhaltensweisen zugeschrieben werden: Eine solcherart gewissermaßen ontologisch vorgegebene Identität erscheint dann – von innen wie von außen – als feste und berechenbare Größe. Und Kollektive bedürfen zu ihrer Eigendefinition immer eines Anderen, der in der Regel als bedrohlich und gefährlich dargestellt wird.(7)

Auf diese differenzierenden Unterscheidungen kann seit der Rede des Papstes verzichtet werden. Es ist der Islam, der uns bedroht, wie dies schon seit einiger Zeit die französischen „néo-réacs“, die rechtsgerichteten Philosophen wie Bernard-Henri Lévi, Alain Finkielkraut, André Glucksmann et al. betonen. „Der Islam“ – was ist das eigentlich? Eine Religion mit komplexer Vergangenheit, mit zwei großen Glaubensrichtungen sunna und shi’a, vier Rechtsschulen im sunnitischen Islam, einer Vielzahl regionaler Ausprägungen und zahllosen Formen eines „Volksislam“, ganz abgesehen von jener Vielzahl von Menschen, die zwar aus diesem Kulturraum stammen, aber ebenso säkularisiert sind wie Millionen von Menschen in der „Christenheit“! Macht es Sinn, als „christlich“ all das in einen Korb zu packen, was von fundamentalistischen Evangelikalen in den USA, die in zahlreichen Bundesstaaten das Verbot der Evolutionstheorie im Unterricht durchgesetzt haben, über das finstere Opus Dei bis zur Befreiungstheologie reicht? Wo bleibt in dieser antagonistischen Debatte die große Welt der orthodoxen Kirche? Diese Spannbreiten, die es in allen Religionen gibt, zeigen überdeutlich, wie untauglich solche Verallgemeinerungen sind – eben und gerade auch für „den Islam“! Verdrängt wird in der derzeitigen Debatte nicht nur die dunkle Tradition des Christentums, es hat auch eine seltsame, im Kern fundamentalistisch zu nennende Exegese der Schriften des Islam um sich gegriffen: Bornierte christliche Theologen(8) wie sich als Experten anbietende Sozialwissenschaftler(9) und journalistische Schnellschreiber greifen passende Zitate aus dem kor’an auf und reden über das Rechtssystem der shari’a, die auf die dort enthaltenen, uns heute bestialisch erscheinenden Körperstrafen aus der vormittelalterlichen Zeit reduziert wird. Solch selektiver und tendenziöser Umgang mit den Texten ist unhistorisch, er kann gleichermaßen mit allen Religionen betrieben werden, rechtfertigten doch die Weißen in Südafrika das Apartheid-System mit der Bibel.(10)

Vor dreihundert Jahren waren „wir“ da schon weiter: Als vor allem die katholische Kirche noch mit allen ver- fügbaren Mitteln die Aufklärung bekämpfte, erklärte ein absolutistischer König, Friedrich II. von Preußen: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind; und wenn die Türken (und Heiden) kämen und wollten das Land bevölkern, dann wollen wir ihnen Moscheen (und Kirchen) bauen.“ Wahrlich, wahrlich, so ist man versucht zu sagen, das 21. Jahrhundert scheint vordringlich damit beschäftigt zu sein, die Aufklärung und ihre Botschaft des Humanismus und der Toleranz endgültig zu beerdigen. Sind also in allen Religionen Elemente zu finden, die zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wer- den können, so sind andrerseits alle abrahamitischen Religionen geprägt von einem ihnen gemeinsamen Humanismus, der den Kern ihrer Botschaft darstellt. Dieser scheint immer dann zum Tragen zu kommen, wenn die Religionen (und ihre Repräsentanten) sich vom politischen Tagesgeschäft befreien oder zumindest ein Stück weit davon befreit werden, wie dies in Europa im Zuge der Säkularisierung geschah.

Vom „goldenen Mittelalter“ zum Imperialismus

Es steht außer Zweifel, dass (auch!) in der Welt des Islam keine volle Gleichberechtigung zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften bestand: Als Anhänger einer der vom gemeinsamen Ahnvater Abraham/Ibrahim abstammenden monotheistischen Buchreligionen waren Juden und Christen nicht im Besitz der ganzen Wahrheit: Sie unter- standen einem besonderen Rechtsstatut (dhimmi), mussten höhere Steuern bezahlen, wurden aber nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Zugleich aber hatte der Staat die Pflicht, sie zu schützen.

Die rasante Expansion des Islam vor allem nach Westen ist wohl nicht „Feuer und Schwert“ zu verdanken, sondern der vom Islam eingeführten gerechteren Eigentums- und Sozialordnung und dem strengen Monotheismus, der dem auf der iberischen Halbinsel herrschenden Arianismus entsprach. Dies dürfte die einleuchtende Erklärung für den – militärisch nicht zu erklärenden – Siegeszug jener knapp 3000 Reiter auf der iberischen Halbinsel sein.(11)

Warum aber werden die Zeiten des intensiven, to- leranten Kulturkontakts zwischen „Morgenland“ und „Abendland“ verschüttet, die gerade auf den Gemein- samkeiten der monotheistischen Religionen beruhen? Da wird jüngst die „jüdisch-christliche Tradition“ beschworen – aber handelt es sich nicht eher um eine jüdisch-christlich-muslimische? Es war doch das von Humanismus und gegenseitiger Toleranz geprägte Zusammenleben von Menschen, zumal von Wissenschaftlern in Toledo, Granada, Córdoba, die dazu führten, dass die griechische Philosophie (und daneben elementare Regeln der Hygiene) im „Abendland“ erst entdeckt wurde. Ohne die Arbeiten von al Farabi, Ibn Ruschd und Ibn Sina – die beiden letzteren wurden zwecks Verwischung der Spuren ihrer Herkunft flink als Averroes und Avicenna latinisiert – wäre die griechische Philosophie nie ins „Abendland“ gekommen. Und ohne die griechische Philosophie hätte es wohl weder Renaissance noch Aufklärung gegeben. In diesen Kontext gehören auch die revolutionierenden Erkenntnisse der Araber in der Medizin und in den Naturwissenschaften, die der ratio, der Vernunft, als Basis der Aufklärung zum Durchbruch verhalfen. Eine Hochzeit der Toleranz und des gegenseitigen Respekts „der Kulturen“ kenn- zeichnet die Aufklärung: Montesquieu schrieb seine Lettres Persanes, Lessing Nathan der Weise, Goethe den West-Östlichen Diwan. Es waren die Ideen der Aufklärung, vor allem aber die Ideale der Französischen Revolution, die an der Wende zum Imperialismus gerade im Orient mit Begeisterung aufgenommen wurden, versprachen doch diese auf der Grundlage von liberté, égalité, fraternité die Befreiung von der osmanischen Herrschaft und die Perspektive der Schaffung eines geeinten säkularen arabischen Staa- tes.(12) In vielen muslimischen Staaten entstanden nationalistisch-modernistische Bewegungen, die sich jung- afghanische, jungtunesische oder jungtürkische usw. nannten. Aus der jungtürkischen Bewegung ging Mustapha Kemal („Atatürk“), der Begründer der modernen Türkei hervor. Die jungtunesische Bewegung forderte in einem Manifest zu Beginn des 20. Jh., „die islamische Welt von Rückständigkeit und Aberglauben zu befreien und der ‚natürlichen Entwicklung’“ zum Durchbruch zu verhelfen „… in Einklang mit den Prin- zipien der Französischen Revolution, liberté, égalité, fraternité, die die Grundsätze des Korans sind.“(13)

Doch sehr schnell mussten die Muslime im Allgemeinen und die Araber im Besonderen erfahren, dass die hehren Ideale der französischen Revolution nicht für die kolonisierten Völker gedacht waren. Die kolonialistische Unterwerfung des Orients bedeutete für die säkularen Eliten Modernisierung und nationalen Befrei- ungskampf, wenn nötig mit Gewalt, für viele gläubige Muslime war sie aber eine religiöse Herausforderung. In ihrem Verständnis war und ist der Islam im vollen Besitz der Wahrheit, der sie dazu befähigt hatte, militärisch, technisch und wissenschaftlich den anderen Völkern überlegen zu sein, wie das ja auch in den ersten Jahrhunderten der Hochblüte des Islam in Mesopotamien und auf der iberischen Halbinsel der Fall war. War nun das Abendland überlegen, so half nur die Rückkehr zum ursprünglichen Islam, um die frühere Überlegen- heit zurück zu gewinnen. Die bedeutendsten Vertreter dieser religiös begründeten anti-imperialistischen Strömung waren Jamal ed-Din al-Afghani (1839-1897) und Mohamad Abduh (1849-1905). Sie forderten die Rückkehr zu den Quellen des Glaubens und die Bezugnahme auf die Vorfahren (salaf), was der Bewegung den Namen Salafiya gab. Muslim sein und die Erfahrung, aufgrund der Zugehörigkeit zu diesem Kulturkreis durch die Kolonialherren diskriminiert und unterdrückt zu werden, gab der Religion eine identifikatorische Komponente und einen politischen Auftrag: „Auf diese Weise wurde aus dem Islam für viele Muslime etwas, was in ihrem Bewusstsein überwiegend – und bei manchen von ihnen sogar ausschließlich – ein Wesenselement ihrer kulturellen Identität darstellt, das gegen äußere Angriffe verteidigt werden muss. … Um diese neue Aufgabe erfüllen zu können, musste der Islam zu etwas werden, auf das man stolz sein konnte."(14)

Die Arroganz des Kolonialismus, der unter dem Ban- ner der „zivilisatorischen Mission“ des Westens daher kam und vorgab, die Kolonisierten aus der Barbarei ins zivilisierte Menschsein zu führen,(15) diskriminierte die Muslime und machte die Religionszugehörigkeit zum Kriterium des Ausschlusses vom Öffentlichen Dienst wie von bestimmten Berufsgruppen und den Islam zum identitären Kristallisationskern des politischen Widerstands. Die krassesten Formen nahm diese Diskriminierung in Algerien an, wo die Muslime einem besonderen Rechtsstatut (statut musulman) unterstellt wurden, das ihnen Elemente des muslimischen Erb- und Familien- rechts beließ, ihnen zugleich aber die politischen Rech- te wie insbesondere das aktive und passive Wahlrecht verweigerte und den Unterricht der arabischer Sprache untersagte. So waren die Algerier („français musulmans d’Algérie“) zwar rechtlich Franzosen mit allen Pflichten wie insbesondere dem Wehrdienst. Zehntausende starben in den beiden Weltkriegen. Als „sujets français“ waren sie jedoch keine „citoyens“. Der Wahlspruch der algerischen Nationalisten war folgerichtig die Antwort auf diese Diskriminierung ihrer Identität: „Der Islam ist meine Religion, Arabisch meine Sprache, Algerien mein Vaterland.“

Im Gegensatz zu den revolutionären Prozessen in Europa, die mehr oder minder gewaltförmig, mehr oder minder radikal die Beseitigung der alten feudalen Ordnung und die Herstellung bürgerlich-demokratischer Rechtsstaatlichkeit erreichten, standen die kolonisierten Völker des Orients (wie auch der anderen Kolonien) vor einer doppelten Unterdrückung: Sie wurden von den Kolonialmächten nicht nur ausgebeutet und entrechtet, ihre kulturelle Identität wurde benutzt, um ein Unter- drückungs- und Diskriminierungssystem aufzubauen, das ihnen die mit dem Menschsein verbundene Gleich- berechtigung versagte. Sie wurden so in doppelter Wei- se einem strukturellen Gewaltverhältnis (Galtung) unterworfen, aus dem Befreiung nur durch Gewalt mög- lich war. Diese Gewalt in mehr oder minder starker Intensität reichte zwar in den meisten Ländern aus, um die politische Unabhängigkeit zu erkämpfen, ihr gelang es aber nicht, einen Systemwandel im Sinne der Umwälzung der international herrschenden ökonomischen und kulturell legitimierten Ordnung herbeizuführen. Die Gewaltanwendung durch die antikolonialen Befreiungsbewegungen galt zwar in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis hinein in die Vollversammlung der Vereinten Nationen weitgehend als legitim, so lange sie Mittel im Kampf gegen den Kolonialismus war. Diese Gewalt vermochte es aber nicht, das herrschende Weltwirtschaftssystem in Frage zu stellen, geschweige denn umzuwälzen, ja sie hatte eine solche Revolution nicht einmal zum Ziel. Das strukturelle Gewaltverhältnis, das den Nord-Süd-Konflikt kennzeichnet, dauert also fort. Mit der Gründung der Muslim-Bruderschaft in Ägyp- ten (1928) flossen die Vorstellungen der Salafiya erstmals in das Programm einer politischen Bewegung ein. So wie Teile des Orients die Niederlage gegenüber dem Okzident durch die Abkehr vom Glauben erklärte, schuf sich der Okzident seine Legende für die Beherrschung des Orients. So entstand im 19. Jahrhundert der von den Kolonial-Apologeten gepflegte Orientalismus, jenes Bild des Orients, welches Edward Sa’id16 so treff- lich beschrieben hat und wie es von Aziz al-Azmeh in seiner historischen und politischen Funktionalität greifbar gemacht wird: "Der Vernunft entsprach enthusiastische Unvernunft, politisch übersetzt als Fanatismus, eines der Haupt- anliegen der Wissenschaftler und Kolonialisten des 19. Jahrhunderts wie der zeitgenössischen Fernsehkommentatoren. ... Islam ... wird als Anachronismus betrachtet, seine Charakteristika – Despotismus, Un-Vernunft, Glauben, Stagnation, Mittelaltertum – gehö- ren zu Stadien der Geschichte, deren Minderwertigkeit eine zeitliche Dimension erhält. ... Niedergang wird so nicht zu einem Tatbestand historischer Prozesse, son dern ein vorhersagbares Ereignis der metaphysischen Ordnung. … Die Antithese von Normalität und Natürlichkeit ist Anomalie und Widernatürlichkeit."(17) Dieses latent vorhandene Orientbild wurde wiederbe- lebt in dem Augenblick, in dem dem Westen Feind und Feindbild des bipolaren Zeitalters zugleich abhanden kamen.(18)

Das alt-neue Feindbild Islam nach dem Ende der Bipolarität

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auf- lösung der Warschauer Vertragsorganisation fand der Westen sich in einer feindlosen Zeit wieder. Bereits im Augenblick des Ausstiegs der Sowjetunion aus der Weltgeschichte, schrieb der Islamwissenschaftler Rein- hard Schulze: „Folglich bedeutete der Zusammenbruch des Ost- West-Systems 1989/90 einen tiefen Einschnitt in die Selbstlegitimation. Fehlte nun das ‚Andere’ als Projek- tionsfläche für die faktische Antithese in der eigenen Gesellschaft, drohte ein Defizit, ja eine Lücke in der Beschreibung des ‚Wir’. Der Kuwait-Krieg, der propa-gandistisch schon seit Ende August 1990 geführt wurde, konnte innerhalb kürzester Zeit diese Lücke wieder schließen. Aus dem Osten wurde der Orient, aus dem Kommunismus der Islam, aus Stalin Saddam Hussein.

(...) Der Islam wurde als Prinzip des Orients ausge- macht, als Bewahrheitung des Irrationalen, gegenauf- klärerischen Fundamentalismus. (…) Der Islam gerät so zur Begründung des Gegen-Westens, zur Gegen- Moderne, ja zur Gegen-Zivilisation.“(19)

Und in der Tat: 1993 begründete der amerikanische Politologe und frühere Sicherheitsberater Präsident Reagans mit seinem Aufsatz „Clash of Civilizations“ „wissenschaftlich“ den Anbruch einer neuen Ära, indem er die Kriege des 21. Jahrhunderts als die Kriege der Zivilisationen beschrieb.(20) Dankbar bemächtigte sich der sicherheitspolitische Diskurs dieses neuen Paradigmas. So stellt das französische Verteidigungsweißbuch 1994 fest: „Der islamistische Extremismus stellt ohne Frage die beunruhigendste Bedrohung dar. (...) Er nimmt oft den Platz ein, den der Kommunismus innehatte als Widerstandsform gegen die westliche Welt.“(21) Diese Sprachregelung übernahm auch der damalige NATO- Generalsekretär Willi Claes, als er erklärte, dass der islamische Fundamentalismus möglicherweise eine größere Bedrohung darstelle als dies der Kommunismus war.(22)

In einem zweiten diesem Thema gewidmeten Aufsatz„The West Unique, not Universal“, der den Herrschaftsanspruch „des Westens“ mit Verweis auf dessen „über legene Kultur“ zu rechtfertigen versucht, vertritt Huntington die These, dass die westliche Kultur einzigartig ist, weil nur sie das Erbe der griechischen Philosophie rezipiert habe, weil sie geprägt sei vom Christentum, weil die europäische Sprachenvielfalt ein Unikat dar- stelle, weil es nur dem Westen gelungen sei, geistliche und weltliche Autorität zu trennen, weil nur im Westen Rechtsstaatlichkeit herrsche, weil es nur dort sozialen Pluralismus und Zivilgesellschaft, repräsentativ gewählte Körperschaften und Individualismus gäbe.(23)

Demgegenüber gibt es im Islam nur den Koran und die shari’a.(24) Diese Argumentation deckt sich in verblüffender Weise mit Ernest Renan, dem Ahnvater des Orientalismus, der 1883 erklärt hatte: dass „die Semi- ten“ zu wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen unfähig seien wegen „(...) der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsin- nigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm die immer gleiche Tautologie ‚Gott ist Gott’ entgegenzuhalten“.(25)

So kommt Huntington zu dem Schluss: All diese Eigenarten „machen die westliche Kultur einzigartig, und die westliche Kultur ist wertvoll, nicht weil sie uni- versell ist, sondern weil sie einzigartig ist.“(26)

Dies ist Rassismus, der das alte antisemitische Klischee auf „den Islam“ projiziert, indem er nicht mehr ethnisch- biologisch, sondern kulturalistisch argumentiert.

Es bedurfte noch des 11. September 2001, um den „Clash of Civilizations“ zur scheinbar empirisch belegten Tatsache werden zu lassen. Vergessen, ja unterschlagen wird dabei, dass insbesondere die USA in den 70er, vor allem aber dann in den 80er Jahren massiv die Zellen der Muslimbruderschaften in den arabischen Ländern bis hin zur Gründung islamischer Gewerkschaften unterstützten, um damit ein Gegengewicht gegen die als Moskau- freundlich geltenden säkular-nationalistischen Regime zu schaffen. Vor allem aber förderten die USA, zusammen mit Saudi-Arabien, massiv die militanten Islamisten in Afghanistan, deren terroristische Ausbildung und die Rekrutierung ihrer Kämpfer in den arabischen Staaten. So entstanden jene islamistischen internationalen Brigaden, die teilweise bis heute in zahlreichen Konflikten von Tschetschenien bis zum Maghreb agieren.

„Islamfaschismus“

Dieser Begriff findet immer mehr Eingang in die derzeitige politische Debatte, so dass sogar die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages sich veranlasst sahen, zu seiner „Klärung“ beizutragen. Das bereits publizierte Papier wurde inzwischen zurückgezogen.(27) Hervorgehoben wird darin eine rassistisch oder religiös bestimmte Heilslehre, eine totalitäre Grundausrichtung, ein militanter Antisemitismus und eine umfassende Gewaltkultur. Nicht zufällig wird der Begriff auch verwendet von prominenten Vertretern der Neo-Konservativen wie Daniel Pipes oder Francis Fukuyama, der wiederum den Vergleich mit dem einst bedrohlichen Kommunismus bemüht.(28) Zu denen, die hierzulande pauschal mit diesem Begriff hantieren gehören auch Necla Kelek oder Josef Joffe, Herausgeber der „Zeit“, und Alice Schwarzer.

Ohne Zweifel gibt es auf phänomenologischer Ebene Ähnlichkeiten militantem islamistischem Fundamentalismus und einem Alltagsbegriff von Faschismus: So hat der Islamismus eine soziale Basis im Kleinbürgertum und den von sozialem Abstieg bedroh- ten (dünnen) Mittelschichten. Sein gesellschaftliches Programm ist im Kern rückwärtsgewandt und an den Strukturen vorkapitalistischer, patriarchalischer Gesell- schaften orientiert, jede historisch-materialistische Kri- tik (auch am Kapitalismus) ist ihm fremd, was für den Faschismus so nicht gilt. Und es gibt in kleinen Teilen der Bewegung eine Bereitschaft zur Gewalt. Der Verweis auf solche Aspekte macht es leicht, die historischen und strukturellen Triebkräfte des Faschismus auszublenden. Doch der Islamismus enthält auch dezidiert „moderne“ Elemente: Betrachtet man die letzten Jahrzehnte der politischen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten genauer, dann fällt auf, dass die Islamisten konsequent das nationalistische und anti- imperialistische Programm übernommen haben, das die säkular-nationalistischen Regime entweder nicht ver- wirklichen konnten oder wollten. Dies gilt für das post- nasseristische Ägypten ebenso wie für das einstmals sich revolutionär gebende Algerien, Libyen, den Sudan oder Jemen. Das Terror-Regime von Saddam Hussein war – neben Syrien – die letzte säkular-nationalistische Bastion im Nahen Osten. Demgegenüber erklärt sich die Popularität von Bewegungen wie Hamas oder Hiz- bullah weniger aus ihrer Ideologie als aus ihren den moralischen Prinzipien der drei monotheistischen Reli- gionen entspringenden sozialen Leistungen wie vor allem aus ihrem konsequenten Widerstand gegen die als imperialistisch empfundene US-amerikanische Dominanz.(29) Die Opposition der islamistischen Gruppierun- gen und Parteien richtet sich primär gegen die eigenen korrupten und repressiven Regime, die zumindest in den Augen der Bevölkerung allesamt ihre Existenz dem Wohlwollen Washingtons (und der EU) verdanken. Vor allem aber verhindert der undifferenzierte und pauscha- lisierende Begriff des „Islamfaschismus“ die genauere Analyse der Bewegungen, die sehr wohl für die Libera- lisierung des jeweiligen politischen Systems eintreten, die in ihren sozialen Programmen und Verwirklichun- gen mit Abstand fortschrittlicher sind als selbst christli- che Gruppierungen im Nahen Osten,(30) und die sich in ihrer Politik durch ein hohes Maß an Pragmatismus aus- zeichnen.

Die Begriffskeule „Islamfaschismus“ birgt die Ge- fahr, alles „Muslimische“ undifferenziert als reaktionär und eben „faschistisch“ abzutun. Solcher Reduktionismus macht den Antisemitismus zum Wesenszug jener neuen Anderen, der Muslime. Er entsorgt damit die deutsche Vergangenheit durch die Relativierung der Nazi-Verbrechen und trägt bei zu einem undifferenzierten Feindbild gegen die Muslime hierzulande und welt- weit. So ist dann der Weg nicht weit, die neue Weltord- nung der USA als Bollwerk „gegen den Faschismus“ zu feiern.31 Durch die Übernahme dieses pauschalen Feind- bilds aus der neo-konservativen Ecke gerade auch durch Gruppierungen, die sich als Teil der Linken verstehen wollen, wird so ein Beitrag zu einer Polarisierung gelei stet, die jeder rationalen Analyse der Konflikte und Konfliktursachen in der globalen Welt den Weg ver- sperrt. Die Kritik von Moshe Zuckermann, der hervor- hebt, dass Islam und Faschismus nichts miteinander zu tun haben, bringt die Debatte auf den Punkt, wenn er sagt: „Man muss schon den Begriff des Faschismus inhaltlich entleeren, um oberflächliche Ähnlichkeiten ausmachen zu können.“

Genau dies geschieht: Die Verkürzung des Faschis- mus auf den industriellen Massenmord an den Juden ist eine gefährliche Vereinfachung des Faschismus, dessen spektakulärstes Verbrechen herausgelöst wird aus der menschenverachtenden Ideologie des NS-Systems schlechthin und seiner Funktion als extreme Form kapitalistischer Herrschaft.(32) Eine solche verkürzte Reduktion des Faschismus vermeidet nicht nur jede polit-ökonomische Analyse, sie verdrängt auch die grundsätzliche Menschenfeindlichkeit des auf der bio- logischen Rassenlehre aufbauenden Systems, das gnadenlos auch Sinti und Roma, Behinderte („lebens- unwertes Leben“) und „slawische Untermenschen“ vernichtete. Die „Islamfaschismus“-These evakuiert nicht nur deutsche Schuld, sie projiziert sie nun auf jene Anderen, ja sie produziert selbst einen neuen anti-muslimischen Rassismus(33) – und sie macht vergessen, dass es eben nicht die Muslime waren, die sechs Millionen Juden in die Gaskammern getrieben haben!

Der nationalsozialistische Rassenwahn, der den Antisemitismus propagierte, meinte nicht die Juden allein, sondern die semitischen „Untermenschen“ schlechthin. Es ist daher kein Zufall, dass die durch Arbeit fast vernichteten Menschen, die von den Nazi-Schergen in die Gaskammern getrieben wurden, als „Muselmänner“ bezeichnet wurden.(34) Während die Schändung jüdischer Synagogen oder Friedhöfe – zu Recht – große mediale Empörung auslöst, werden das Beschmieren türkischer Schnell-Imbiss-Läden mit Hakenkreuzen oder die Brandstiftungen an Moscheen und die migrantenfeindlichen Parolen der ‚Antideutschen’(35) kaum zur Kenntnis genommen(36).

Populäre Kronzeugin der „Islamfaschismus“-These ist auch Alice Schwarzer, die in einem ganzseitigen Interview mit der FAZ erklärt: „Mir war klar, dass die es ernst meinen. Ganz wie Hitler 1933.“(37) Dann folgen Pauschalisierungen und Verdrehungen, die flugs eine fremdenfeindliche Konnotation erhalten: „Seit Mitte der Achtziger … gilt Deutschland Experten als europäische ‚Drehscheibe des islamischen Terrorismus’. Die islami- stischen Terroristen aller Länder haben bei uns Asyl erhalten.“ Die Gründe hierfür: „Doch es gibt ein besonderes deutsches Problem: dieses deutsche Minderwertigkeitsgefühl, das leicht in Größenwahn umschlagen kann. Diese Fremdenliebe, die Verherrlichung des Fremden ist ein Resultat dieser mangelnden Selbstachtung. Da spielt in Deutschland … eine fatale Rolle … das schlechte Gewissen wegen der Nazizeit.“(38) Nichts belegt besser, wie eng das vordergründige Etikett des „Islam-Faschismus“ und die „ganz normale“ Xenophobie beisammen liegen, verbunden mit der Botschaft, dass wir „uns“ endlich des „schlechten Gewissens“ wegen der Nazi-Zeit entledigen und wieder ‚normal’ werden müssen.

Ein neuer West – Ost – Konflikt?

Zum Aufstieg des Islam als neuer politischer Kraft haben ganz entscheidend innenpolitische Entwicklungen in den Ländern des Vorderen Orients beigetragen: Die säkularen, nationalistischen Regime der Region, vom Westen misstrauisch als potentielle Verbündete der Sowjetunion beäugt und teilweise durch Unterstützung der Islamisten bekämpft, hatten es nicht vermocht, ihre Gesellschaften aus der Unterentwicklung herauszu- führen.(39) Dies ist begründet in der nach wie vor ungebrochenen ökonomischen und kulturellen Dominanz des Westens, die verwoben ist mit der Vorstellung von einer ausschließlich die Bedürfnisse des Individuums befriedigenden Lebensweise. Hinzu kommt, dass die „alte wirtschaftliche Arbeitsteilung“ die vormalige Dritte Welt, insbesondere aber die arabischen und islamischen Länder weiterhin zu Rohstoffexporteuren machte, dass die so entstandenen Rentenökonomien jede Entwicklung halbwegs autarker Nationalökonomien verhindern und die herrschenden Clans durch Privilegien und Korruption in das herrschende Wirtschaftssystem einbinden.

Das Scheitern der Entwicklungsstrategien, für das die herrschenden Gruppen in den Ländern der Peripherie große Mitverantwortung tragen, spitzte die ohnehin vorhandene Legitimationskrise dramatisch zu: Egal ob diese Strategien einem eher sozialistischen oder modernisierungstheoretischen Paradigma folgten, Unterentwicklung und Verschärfung der sozialen Antagonismen waren das Resultat beider Wege. Sind also nicht Kapitalismus und Sozialismus die beiden Seiten einer und derselben Medaille, des Atheismus? Und resultiert nicht das Elend der Menschen in diesen Ländern aus der Korruption und Bereicherungswut jener, die die Staats- macht und damit die Quellen der Profitaneignung kontrollieren, kurz derjenigen, die nach westlichem Stil leben? Der Aufstieg der als Protestbewegung zu verstehenden Islamischen Heilsfront in Algerien ist hierfür ebenso paradigmatisch wie die wachsende islamistische Agitation in Saudi-Arabien oder der Sieg der Hamas bei den – freien! – Parlamentswahlen im Januar 2006.

In nur anderthalb Jahrzehnten ist es gelungen, nicht nur den Islam zu einem neuen und affektiv hoch besetzten Feindbild zu machen, es ist auch gelungen, ihn mit dem Begriff des Terrorismus zu assoziieren, ja oftmals gleichzusetzen. Damit wird nicht nur Angst erzeugt, es wird auch eine Gefahr ausgemalt, die absolut irreal ist: Sicher ist es den Attentätern des 11. September gelungen, das Symbol des globalisierten Kapitalismus, die Zwillingstürme des World Trade Centre zu zerstören. Doch Terror dieser Art kann weder die Dominanz der USA oder „des Westens“ noch das herrschende System existenziell gefährden. Gegenüber der aus diesem System resultierenden öko- logischen Bedrohung des Planeten ist er vergleichs- weise geradezu irrelevant.

Das Kernproblem liegt nicht im Islam, sondern in der westlichen Politik, die gebetsmühlenhaft Demokratie einfordert: Bei wirklicher Demokratisierung kämen jene Kräfte an die Macht, die die konsequente Kontrolle der jeweiligen nationalen Ressourcen fordern. Deshalb fordert der Westen zwar verbal den Respekt von Menschenrechten und Demokratie, tatsächlich aber unterstützt er die despotischen und korrupten Regime der Region, die immerhin „Stabilität“ zu garantieren scheinen, nachdem sie jede und gerade auch demokratische oppositionelle Bewegungen brutal vernichtet haben. So erscheinen in den Augen der nahöstlichen Bevölkerung die Schlagworte „Befreiung“ und „Demokratisierung“ nur als verlogene Feigenblätter zur Kaschierung des imperialen Griffs nach dem Öl. Und die Art der Kriegführung in Irak und Afghanistan liefert den Beleg für diese These.

Dies ist es, was Führungspersonen von al qaeda trefflich instrumentalisieren, wenn beispielsweise Ayman az-Zawahiri, in westlichen Sicherheitskreisen als die Nr. 2 des Netzwerks gehandelt, zum 2. Jahrestag des 11. September 2001 auf einem vom Sender al- jazeera ausgestrahlten Tonband erklärt:

An diesem zweiten Jahrestag wollen wir uns an die Menschen in den am Kreuzzug teilnehmenden Staaten wenden, um ihnen Folgendes zu sagen:

Wir sind keine Verfechter von Töten und Zerstörung. Mit Hilfe Gottes aber werden wir jede Hand abschla- gen, die sich in feindlicher Absicht nach uns streckt. Wir sagen Euch: … Hört auf mit Euren Angriffen auf die Menschen und das Eigentum der Unterdrückten. Genug des Handelns mit Slogans von "Freiheit und Gerechtig- keit" und "Menschenrechten"! … Wenn Ihr den Islam zurückweist, haltet wenigstens ein in Eurer Feindselig- keit gegen unsere islamische Weltgemeinschaft. Über Jahrzehnte habt Ihr unsere Frauen und Kinder getötet, unseren Wohlstand gestohlen und Tyrannen unterstützt, die unsere Gemeinschaft brutal beherrschen.(41)

Dies ist kein theologischer, sondern ein politischer Diskurs, der in kompromissloser Radikalität die alten Forderungen des – säkularen – arabischen Nationalis- mus aufnimmt. Genau dies erklärt, weshalb, nicht zu- letzt aufgrund der katalysatorischen Wirkung der Krie- ge in Afghanistan und Irak und des Nahost-Konflikts, in der arabischen und islamischen Welt ein neuer anti- imperialistischer Widerstand entsteht, an dessen Spitze sich zunehmend die Islamisten setzen. Neu ist nicht der Widerstand, sondern die beiderseitige Instrumentalisie- rung des Islam zur Erklärung und Rechtfertigung von Gewalt: Die ungeheure Gewaltförmigkeit des Algerien- krieges, die Anschläge der PLO in den 70er Jahren, die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Liba- non seit 1958 (und der ganz und gar unislamische Vietnamkrieg) waren nicht weniger gewaltförmig als die heutigen Anschläge der „Terroristen“. Nur: Sie wur- den nicht in das griffige Interpretationsmuster des Clash of Civilizations eingepasst.

Die Globalisierung hat die Konflikte in der Welt entterritorialisiert. Im Gegensatz zum alten Ost-West- Konflikt stehen sich nicht mehr Staaten gegenüber, die Konflikte sind hineinverlagert in die Gesellschaften. Dort finden – im Nahen und Mittleren Osten wie bei uns – jene Prozesse statt, die die muslimischen Gemein- schaften selbst, die sich in einem Umbruch zur Moder- ne befinden, weltweit polarisieren. Auch übersehen wir, von welchen Konflikten, von welchen ungeheuer gewaltförmigen Auseinandersetzungen der Übergang zur Moderne in unseren Gesellschaften begleitet war, ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist, aber in den abhängigen Gesellschaften mit besonderer Bri- sanz ausgekämpft wird.(42) Infolge der Globalisierung ist der Islam im Okzident angekommenen,(43) wobei nie ver- gessen werden darf, wie lange schon „der Westen“ im Orient präsent ist und welches Bild er dort hinterlassen hat. Tariq Ramadan appelliert zu Recht an die europäi- schen Mehrheitsgesellschaften:

„Es gibt keine Wirklichkeit des ‚wir gegen sie’. Ein ‚wir gegen sie’ wäre das Ende unserer gemeinsamen Zukunft. Um dies zu verhindern, braucht es Menschen, die aus ihren jeweiligen kulturellen, religiösen und intellektuellen Ghettos herauskommen. ... Ihr seid Teil dieses Prozesses. Ihr werdet die Muslime bekommen, die Ihr verdient.“(44)

Bleibt nur zu hoffen, dass Samuel Huntington wenig stens an einem Punkt Recht behalten möge: dass der Westen und seine Politik durch Rationalität gekennzeichnet seien. Zu solcher Rationalität aber gehört als unabdingbare Voraussetzung die Anerkennung des Anderen ebenso wie die Vergegenwärtigung der Herrschaftsverhältnisse. Die Dominanz des Westens in Ökonomie und Kultur, in Technologie oder militärischer Stärke ist die Ursache für Wut und Widerstand, der sich teilweise gewaltförmig artikuliert. Doch weder die rücksichtlose Dominanz noch terroristische Anschläge können zu einer Lösung des Konflikts führen. Darum bedeutet Anerkennung nicht nur den Respekt des An- deren, sondern auch die Einsicht in die Konfliktursachen unseres globalen Systems. Sollen die Konflikte der Gegenwart konstruktiv gelöst werden, bedeutet solche Anerkennung vor allem, dass die dominanten Mächte auf die brachiale Durchsetzung ihrer aktuellen Interessen verzichten, dass sie – aus der Position des Stärkeren heraus – Formen der Ko-Entwicklung anbieten, die die Spezifika und kulturellen Identifikationsmuster der Anderen respektiert. Vor der leidvollen Erfahrung von Kolonialismus und Imperialismus einschließlich der von ihnen diskriminatorisch betriebenen Instrumentalisierung von „Kultur“ scheint dies der einzige – vernünftige – Weg in eine friedlichere Welt anstelle des Huntington’- schen Schlachtrufs „the West versus the rest.“

Anmerkungen

1) Exemplarisch hierfür ist die fünfteilige Fernsehserie von Peter Scholl-Latour „Das Schwert des Islam“, die zeitgleich mit dem 2. Golfkrieg ausgestrahlt wurde.

2) Die Umfrage wurde im Mai 2006 durchgeführt. Ergebnisse in FAZ, 17. Mai 2006, S. 5.

3) Hafez, Kai/Richter, Manuela: Das Gewalt- und Konfliktbild des Islams bei ARD und ZDF. Seminar für Medien- und Kommunika- tionswissenschaft, Universität Erfurt, Januar 2007.

4) http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=94864 abgerufen 10. Dez. 2006

6) Karl Kardinal Lehmann: Kampf der Kulturen? In: Frankfurter All- gemeine Zeitung, 20. Sept. 2006, S. 8.

7) Ruf, Werner: Barbarisierung der Anderen – Barbarisierung des Wir; in: UTOPIE kreativ Nr. 185, März 2006, S. 222 – 228. Vgl. auch Hobsbawm, Eric: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, , 3. Auflage, Frankfurt/New York 2005, S. 7.

8) In der CBS-Sendung „60 Minutes“ am 29. September 2002 erklär- te der Fundamentalisten-Prediger Jerry Falwell, der mit Präsident Bush zu beten pflegt: “I think Mohammed was a terrorist.” Zit. n. Drudge Report, 3. Okt. 2002.

9) Neben Politologen wie Samuel Huntington ist hierunter auch der Kollege Bassam Tibi zu erwähnen, der sich selbst immer wieder als „Vater der Leitkultur“ bezeichnet. (S. hierzu sein „Abschieds- interview“ in: Der Tagespiegel, 7. Okt. 2006.

10) Ahnvater Abraham hatte außerehelich mit der Sklavin Hagar den Sohn Ismael gezeugt, der dann mitsamt seiner Mutter auf Betreiben von Abrahams Frau Sarah verstoßen wurde. Die Schwarzen wurden als seine Nachkommen dargestellt, ihre minderen Rechte als Gottes Wille erklärt.

11) Olague, Ignacio: Les Arabes n’ont jamais envahi l’Espagne. Paris 1969.

12 Antonius, George: The Arab Awakening, London 1938; Hourani, Albert: Arabic Thought in the Liberal Age, Cambridge 1983.

13) Benattar, César, Sebai, El Hadi; Ettealbi, Abdelaziz: L’Esprit libéral du Coran, Paris 1905, S. 98f.

14) Peters, Rudolph: Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus, in: Ende, Wer- ner; Steinbach, Udo: a.a.O., S. 109.

15) Said, Edward: Kultur und Imperialismus, Frankfurt/Main 1994.

16) Said, Edward: Orientalism, London 1978.

17) Al-Azmeh, Aziz: Islams and Modernities, London 1993, S. 130-133.

18) Ruf, Werner: Islam. A new Challenge to the Security of the Western World? In: Ders. (Hrsg.): Islam and the West Judgements, Prejudices, Political Perspectives, Münster 2002, S. 41-54.

19) Schulze, Reinhard: Vom Antikommunismus zum Antiislamismus. In: Peripherie Nr 41/1991, S. 5 – 12, hier s. 7.

20) Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs, Summer 1993, pp. 22 – 49, hier S. 25.

21) République Française: Livre blanc sur la Défense, Paris 1994, S.18.

22) Interview mit The Independent vom 08. Februar 1995.

23) Huntington Samuel P.: The West Unique, not universal; in: For- eign Affairs, Nov/Dec. 1996, pp. 28 – 49, hier S.. S. 30 – 33.

24) The West ... S. 34.

25) Ernest Renan: „De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation“, in: Oeuvres complètes, Bd. 2, Paris 1948, S. 333.

26) The West ... S. 35.

27) Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: „Der aktu- elle Begriff“, Nr. 92/05 vom 16. 12. 2005.

28) „Das islam-faschistische Meer, in dem die Terroristen schwimmen, bildet eine ideologische Herausforderung, die in gewisser Weise grundlegender ist als jene, die der Kommunismus darstellte.“ (Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, New York 1992, S. 236 -237, hier S. 62).

29) Deshalb stimmten bei den palästinensischen Parlamentswahlen im Januar 2006 auch weite Teile der „christlichen“ Palästinenser für Hamas.

30) Rieger, Brigitte: Rentiers, Patrone und Gemeinschaft: soziale Sicherung im Libanon. Peter Lang Verlag, Bern, 2003.

31) www.antideutsch.tk  zit n. Erdem, Isabel: Anti-deutsche Linke oder anti-linke Deutsche; in: UTOPIE kreativ Nr. 192,/Okt. 2006, S. 926 – 939, hier S. 9-10, Anm. 9.

32) Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien. Texte zur Faschismusdis- kussion 2, Reinbek bei Hamburg, 1979.

33) Erdem, a. a. O. S. 933f.

34) Levi, Primo: Survival in Auschwitz and the reawakening: Two Memoirs. New York 1986, S. 88 - 92. Agamben, Gjorgio: Was von Auschwitz bleibt. Frankfurt/Main 2003.

35) Erdem, a. a. O. S. 933.

36) Frankfurter Rundschau 22. März 2004, S. 4.

37) Frankfurter Allgemeine Zeitung 4. Juli 2006, S. 45.

38) Ebenda.

39) Fuller, Graham, E./Lesser, Jan O.: A sense of siege. The Geopolitics of Islam and the West, Boulder, Colorado 1995.

40) Bensedrine, Sihem/Mestiri, Omar: Despoten vor Europas Haustür, München 2005 - Diese Fußnote fehlt auch im Original

41) http://www.jihadunspun.com/home.php  abgerufen 22. Dez. 2003

42) Senghaas, Dieter : Interkulturelle Globalisierung. Für einen neuen Dialog der Kulturen ; in : Blätter Für deutsche und internationale Politik, Nr. 1/2007, S. 55 – 64. Der Zugang zum Verständnis die- ser kulturellen Konfliktlagen erfordern, so Senghaas, „die Einbet- tung der Konfliktfronten in weltwirtschaftlich definierte Struk- turlagen ebenso wie die politische Auseinandersetzung mit gesell- schaftlichen Umbruchsituationen, worüber Kulturen gewisser- maßen selbst in einen schmerzhaften, meist konvulsiven Prozess des Umbruchs hineinmanövriert werden …“ (S. 55).

43) Césari, Jocelyne: L’Islam à l’épreuve de l’Occident, Paris 2004, S.263.

44) Ramadan, Tariq: Euro-Islam und muslimische Renaissance; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6/2006, S. 673– 685, hier: S. 685.

45) Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs, Summer 1993, pp. 22-49.

Editorische Anmerkungen

Dr. phil. Werner Ruf ist Professor (emeritus) für Inter- nationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Zu den Schwerpunkten seiner wissenschaftlichen Arbeiten gehören der Maghreb sowie der Nahe und Mittlere Nahe Osten mit zahlreichen Veröffentlichungen und Gutachtertätigkeiten. Er ist Vertrauendozent und Mitglied im Kuratorium der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Wir spiegelten von http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=13605&type=0&ftu=67a1d9e922

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