Leiharbeit

von
Daniel Berger

10/08

trend
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Heute gibt es nur noch ca. 23 Mio. Vollzeitbeschäftigte in sozialversicherungspflichtigen Jobs. Der Rest der 34,5 Mio. abhängig Erwerbstätigen ist entweder teilzeit- oder prekär beschäftigt bzw. auch beides. Im Mai 2008 gab es 4,83 Mio. geringfügig entlohnte Beschäftigte d. h. Mini- und Midi-JobberInnen. Das sind 31 000 mehr als 2007.

Der angebliche Beschäftigungsaufbau ist äußerst prekär. 36 % der neu besetzten Stellen sind unsichere oder Billiglohn-Jobs (meist befristet). Mehr als die Hälfte aller neuen Jobs sind Leiharbeitsstellen. Die Bundesagentur für Arbeit: „Vor allem bei unternehmensnahen Dienstleistungen gab es einen kräftigen Anstieg (+5,6 % bzw. +203.000), der wiederum zum größten Teil von Arbeitnehmerüberlassung [Leiharbeit] getragen wird“. Seit 2003 sind 1,007 Mio. Stellen besetzt worden, davon waren 523 000 Leiharbeitsstellen.

Attraktiv fürs Kapital

„Arbeitnehmerüberlassung“ ist für die Entleihbetriebe besonders attraktiv, denn die LeiharbeiterInnen können ohne Aufwand wieder fortgeschickt werden, haben weniger Rechte im Betrieb, sind in aller Regel deutlich billiger als die Stammbelegschaft, erhalten weniger Sozialleistungen, meist kein Weihnachtsgeld, nur 24 Tage Urlaub (statt z. B. 30 Tage in fast allen Industriebranchen), zählen im Entleihbetrieb nicht mit bei der Berechnung der Betriebsratsmandate usw.. Bekommt einE FacharbeiterIn in der Metall- und Elektroindustrie je nach Entgeltgruppe und Betrieb zwischen 16 und 20 €, so bekommen die entsprechenden „Leiher“, wie diese KollegInnen von der Stammbelegschaft oft genannt werden, gerade mal zwischen 7,38 € und 9,91 € (brutto!), selten mehr.
Die Entleihfirma zahlt an die Verleihfirma pro Stunde einen Betrag in der Größenordnung von 18-23 €, was immerhin ca. 10 € weniger sind, als sie einschließlich der so genannten Lohnnebenkosten für die Stammbelegschaft zahlt. Kein Wunder, dass dies nicht nur für die Entleihfirma attraktiv ist. Verleihbetriebe schießen wie Pilze aus dem Boden, schließlich müssen sie außer einem kleinen Büro, Telefon-, Fax- und Internetanschluss nichts investieren. Verzweifelte Erwerbslose, die für weniger als 900 € netto im Monat arbeiten gehen müssen, gibt es ja genug, und für jede íhrer Arbeitsstunden kassiert die Verleihfirma mal locker 10 € für sich, oft auch noch mehr. Laut Bundesanstalt für Arbeit gibt es heute 21 200 Verleihbetriebe, 6 600 davon beschäftigen diese Menschen selbst oder verleihen sie ständig.

Explosionsartige Zunahme

Dass gerade die Leiharbeit seit wenigen Jahren so explosionsartig zunimmt (heute 260 % mehr als vor 10 Jahren) hat vor allem mit den Gesetzesänderungen seit Ende der 90er Jahre (Ausdehnung der Verleih-Fristen), vor allem aber mit der Änderung vom Dezember 2002 zu tun. Deutsches Recht erlaubt das Unterlaufen der EU-Richtlinie „equal pay and equal treatment“. Als einziges EU-Land hat die BRD, noch unter der Regierung Schröder, festgelegt: Die Gleichbehandlung gilt nicht in den ersten sechs Wochen einer Beschäftigung, wenn ein bis dahin Arbeitsloser eingesetzt wird. In diesem Fall ist es ausreichend, wenn ein Arbeitsentgelt gezahlt wird, das der Höhe des zuletzt gezahlten Arbeitslosengeldes entspricht. Vor allem aber: Vom Gleichbehandlungsgrundsatz kann durch Tarifvertrag abgewichen werden (s. unten).

Um das Maß voll zu machen, wurden auch das Synchronisations- und das Wiedereinstellungsverbot für die Verleihfirmen aufgehoben und das Entleihverbot im Bauhauptgewerbe gelockert. Seitdem ist für diese Firmen jegliches „unternehmerische Risiko“ weggefallen: Sie dürfen jemanden ausschließlich für die Zeit einstellen, in der sie diese Person verleihen können (also kein Synchronisationsverbot mehr). Ist der Auftrag im Entleihbetrieb zu Ende, kann einE LeiharbeiterIn auch wieder ohne aufwendiges Verfahren nach Hause geschickt werden. Und ein paar Monate später kann derselbe Leiharbeiter auch wieder in derselben Leihfirma eingestellt und verliehen werden (kein Wiedereinstellungsverbot), ohne dass sich daraus ein Anspruch auf Festeinstellung in der Verleihfirma ableitet. Dieses Tagelöhnersystem ist das für das Kapital ideale Beschäftigungsverhältnis.

Unterlaufen durch Tarifvertrag

Gäbe es keine speziellen „Arbeitnehmerüberlassungs“-Tarifverträge, müsste die EU-Richtlinie angewandt werden und die Leiharbeit wäre nicht mehr so attraktiv (weder für die Verleihfirma noch für die Entleihfirma). Am 22.7.2003 haben der DGB und die Einzelgewerkschaften (außer Transnet) mit den beiden Verbünden BZA und IGZ einen entsprechenden Tarifvertrag abgeschlossen (es gilt zurzeit der Änderungsvertrag vom 30.6.2006 mit seinen Zahlen bis einschließlich 2008). Dort liegt die unterste Gruppe (M für Tätigkeiten, die keine Anlernzeit benötigen) bei 7,31 € (West) und 6,36 € (Ost). Die höchste Entgeltgruppe (9) liegt bei 16,69, aber das erreichen die wenigsten. Nur wenige kommen über die Gruppe 4 (9,91) hinaus.

Begründet wurde die radikale Abweichung von den sonstigen Flächentarifverträgen der Gewerkschaften mit den Abschlüssen, die die „Christlichen“ getätigt hatten (Dumpingverträge mit Splittergruppen wie dem CGB oder dem DHV, so der am 24.2.2003 abgeschlossene Tarifvertrag mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften (CGZP).
Nach dieser Logik müssen die Gewerkschaften alle Sauereien, die – egal in welchem Umfang – irgendwo unter der Hand ablaufen, mit ihrer Unterschrift nachträglich sanktionieren und für legal erklären, Hauptsache es findet sich die Unterschrift einer DGB-Gewerkschaft darunter und mensch kann sagen: Die anderen (hier die „Christlichen“) machen es noch schlimmer, wir müssen die ungeregelten Dinge „einfangen“.
Damit vergibt sich die DGB-Gewerkschaft jede Möglichkeit, politisch und gewerkschaftlich glaubwürdig gegen das Unterlaufen von EU-Recht vorzugehen. Der Tarifvertrag von 2003 hat also die Lage der LeiharbeiterInnen nicht verbessert (über 90 % von ihnen haben Armutslöhne und Anspruch auf ergänzendes ALG II, wenn sie es denn wahrnehmen wollen), aber er hat den Kampf gegen die Leiharbeit enorm erschwert. Das spüren nicht nur die zahlreicher werdenden LeiharbeiterInnen, die sonst ganz andere Chancen auf eine Fest­einstellung hätten. Das spüren auch all die Belegschaften und Betriebsräte in den Entleihbetrieben, die gegen die Leiharbeit vorgehen und von ihren Geschäftsführungen auf den Tarifvertrag der eigenen Gewerkschaft und die zunehmende Zahl der LeiharbeiterInnen in den anderen Betrieben hingewiesen werden.

Der Gipfel der Idiotie sind regional abgeschlossene „Fairnessabkommen“, die die völlige Sackgasse offenbaren. In dem am 11.4.08 für den Bezirk Frankfurt (Hessen, Rheinland Pfalz, Saarland und Thüringen) unterzeichneten Abkommen heißt es:

„… Um den Beschäftigten einen angemessenen Anteil bei der weiteren Entwicklung der Branche zu sichern, setzen sich BZA, iGZ und IG Metall für die Beachtung der folgenden Grundsätze ein: Die Einhaltung der BZA/iGZ/DGB-Tarifverträge [also Billiglöhne, die noch nicht mal die Pfändungsfreigrenze erreichen].
Die Bereitschaft, dreiseitige Vereinbarungen zwischen Kundenunternehmen, Zeitarbeitsunternehmen und IG Metall / Betriebsrat zu schließen, die Zeitarbeitnehmer besser stellen als im Flächentarifvertrag der Zeitarbeitsbranche geregelt ist. [Um dies zu erreichen würde schon 10 Cent mehr in der Stunde reichen; das Dumme ist: bisher hat noch kein einziger Betrieb eine solche dreiseitige Vereinbarung abgeschlossen].
[...]
Die IG Metall anerkennt den eigenständigen Charakter und Wert der Zeitarbeitsbranche... [unsere Hervorhebung]“

Wie will die Gewerkschaft jetzt noch die Leiharbeit bekämpfen? Sie hat damit nur den Betriebsräten, die hier die größten Handlungsmöglichkeiten haben, die Arbeit politisch verdammt schwer gemacht. Nur die wenigsten nehmen diesen Kampf konsequent auf.

Was die BR tun können

Nach § 99 Betriebsverfassungsgesetz kann der Betriebsrat jede Einstellung ablehnen (und damit verhindern), die „gegen ein Gesetz, Verordnung,[…] verstößt“ oder „wenn der betroffene Arbeitnehmer durch die personelle Maßnahme benachteiligt wird, ohne dass dies aus betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen gerechtfertigt ist.“ Die Begründung für den Betriebsrat muss dann sein, dass für ihn die EU-Richtlinie „Gleiche Arbeit, gleiches Geld“ (equal pay and equal treatment) ein höherwertiges Rechtsgut ist als das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, das die Abweichung von diesem Grundsatz erlaubt. Zwar kann das Unternehmen nach § 100 eine „vorläufige personelle Maßnahme“ durchführen und sich die fehlende Zustimmung des Betriebsrats von Gericht ersetzen lassen, aber das Spannende ist dann die Frage: Wie wird das Gericht entscheiden? Dort, wo Betriebsräte bisher so vorgegangen sind (es sind bisher nur sehr wenige Betriebe bekannt, wo dies geschehen ist), hat es die Gegenseite bisher noch nicht darauf ankommen lassen und das Gericht entscheiden lassen. Entweder weil ihr der Aufwand zu groß war, oder weil die Sache alles andere als für das Kapital klar ist (eventuell zieht sich das dann über drei Instanzen hin, bis es dann vor den europäischen Gerichtshof kommt).

Innerbetrieblich sollten die Betriebsräte das Vorgehen mit einer Vorlage für eine Betriebsvereinbarung verbinden. Darin sollte formuliert sein, dass Leiharbeiter­Innen nur dann eingestellt werden sollen, wenn ihnen (über die Vorlage einer zweiten Lohnsteuerkarte) vom Entleihbetrieb der Ausgleich der Lohndifferenz zur Stammbelegschaft gezahlt wird. Dies deshalb, weil vor Gericht der Status des Leiharbeiters kein Ablehnungsgrund ist, wohl aber die Lohndifferenz und weil mit einer solchen Regelung die Begründung der besonderen Dringlichkeit (für den Vertretungsfall usw.) nicht mehr greift. Letztlich entscheidend ist die Ablehnung des Leiharbeiterstatus durch eine aufgeklärte Stammbelegschaft. Und genau hier hilft das Material und die Politik der Gewerkschaften überhaupt nicht. Umso mehr kommt es auf die Kräfte im Betrieb an, d. h. vor allem die Betriebsräte.
 

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Artikel von http://www.rsb4.de/ - Website des Revolutionär Sozialistischen Bundes / IV. Internationale.