Irland: "Die Armen werden mehr getroffen"
Rezession verschärft Wohnungssituation rapide

von Dieter Blumenfeld

10/08

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Nach einem aktuellen Bericht, ist die Wohnungsnot in Irland derzeit dramatischer, als im Jahr der schlimmsten Rezession: 1984! Die Zahl der Obdachdachlosen hat sich in diesem Zeitraum verfünffacht. Überdurchschnittlich gestiegen ist der Anteil der obdachlosen Frauen und Kinder, so die Organisation Focus Ireland. Die UNICEF berichtet, im nationalistischen Westbelfast leben 77% der Kinder unter der Armutsgrenze.

Mitte September wurde der Jahresbericht zur Wohnungssituation von Focus Ireland auf einer Pressekonferenz in Dublin veröffentlicht. Die Tätigkeit der Organisation ist die Bereitstellung von Wohnungen an Obdachlose. Gegründet wurde sie 1984 von Stanislaus Kennedy. Das Gründungsjahr markiert auch den Höhepunkt der schwersten Rezession Irlands. Sie ging dem Celtic Tiger, dem irischen Wirtschaftsaufschwung der 1990er Jahre, direkt voraus.

Damals hätte es 37 obdachlose Frauen und 57 obdachlose Kinder gegeben, so Kennedy auf der Pressekonferenz. Nun sei die Anzahl der registrierten obdachlosen Kinder auf 463 gestiegen. Außerdem hätte 1984 keine Familie länger als sechs Monate auf eine Wohnung warten müssen. Im Jahr 2008 müssen Familien in Irland mindestens zwei Jahre, oft auch drei, warten.

Waren 1984 noch 11.000 Familien auf der Wohnungswarteliste, sind es nun 43.000. Und noch eine Zahl führt Kennedy an: 1984 hätte es insgesamt 1.100 Obdachlose gegeben, in den letzten 24 Jahren sei die Zahl nun auf 5.000 gestiegen.

An den Zahlen ist erkennbar, dass der Anteil von Frauen und Kindern besonders stark gestiegen ist. Machten 1984 Frauen noch einen Anteil von drei Prozent und Kinder von unter sechs Prozent aus, so ist heute der Anteil von Kindern unter den über 5.000 Obdachlosen alleine fast 10%!

Vorstandsmitglied Joyce Loughan erklärte, dass Focus Ireland bis 2007 109 Familien Wohnungen zur Verfügung stellen konnte. Bis 2010 soll die Zahl auf 700 erhöht werden. Finanziert wird die Organisation durch private Spenden und staatliche Gelder gleichsam. Doch „es ist nun September und erst jetzt wurde die Höhe der Zahlungen für dieses Jahr bestätigt. Und ob wir nächstes Jahr überhaupt Geld vom Staat bekommen, ist alles andere als klar“, so Loughan.

In einem Kommentar zur Pressekonferenz meinte Vincent Browne in der Irish Times: „Ist es nicht unverständlich, dass bei all der Anhäufung von Reichtum in den letzten 15 Jahren es nicht möglich war das Problem der Obdachlosen und die horrende Wohnungsnot zu lindern?“

Er kommt zu einer einfachen Erklärung: „Andere Dinge waren wichtiger.“ Browne schreibt weiter: „Über Jahre wurde uns erzählt, wir können keinen Wohlstand erreichen, bis wir endlich Reichtum hatten. Doch dann wurde uns erklärt, wir können diesen nicht gerecht verteilen, denn das würde weiteren Wohlstand verhindern.“

Irland hat sich Wirtschaftsaufschwung durch Abbau von Arbeitsrechten und den niedrigsten Steuern für Unternehmen und Reiche in Westeuropa geleistet.

Doch die Blase des Celtic Tiger ist zu Ende. Arbeitslosigkeit und Inflation steigen sprunghaft an, internationale Konzerne wandern Richtung Asien ab und der Ausfall von Steuern schlägt alleine 2009 ein Loch von 5 Milliarden Euro in das Budget der 26 südlichen Counties.

Für jene, die eine Wohnung haben, ist die Situation aber auch nicht rosig. Durchschnittlich müssen jeder Haushalt in den sechs Counties im Norden 24 Prozent seines Einkommens für die Rückzahlung der Hypothek ausgeben. 2002 waren es noch 15 Prozent.

Ende September kündigten die beiden großen Energieanbieter im Norden, NIE und Phoenix, an, ab 1. Oktober die Preise für Strom und Gas abermals zu erhöhen. Die durchschnittliche Stromrechnung für einen Haushalt wird nun £ 585,- betragen, ein Anstieg von 100 Prozent gegenüber letzten Winter. Noch krasser ist der Anstieg bei Gas. Hier steigt eine durchschnittliche Haushaltsrechnung auf £ 689,-, was einen Anstieg von gar 113 Prozent gegenüber letzten Winter bedeutet.

Der Staat tut nichts, um den Betroffenen Abhilfe gegen die unvorstellbaren Belastungen zu leisten. Denn das Department of Social Development gibt zwar Pensionisten und Pensionistinnen über sechzig Jahren eine einmalige Zahlung für die jährlichen Heizkosten. Dieser Zuschuss wurde aber seit dem Winter 2000/01 nicht mehr erhöht.

Kinderarmut bei 50%

Vor wenigen Tagen wurde ein Bericht der in den sechs besetzten Counties tätigen Campaign to End Child Poverty veröffentlicht. Sie ist eine Dachorganisation, die unter anderem UNICEF, Save the Children oder Gewerkschaften zusammen fasst.

Die veröffentlichten Zahlen zeigen, dass 46% der Kinder in Zentral-Ulster in Familien mit niedrigem Einkommen leben, das bedeutet, dass in ihren Familien keine Person mehr als 16 Stunden pro Woche arbeitet.

Ein Sprecher von Save the Children zeigte sich „schockiert“ über die neuesten Daten, „die nord-irische Wirtschaft ist doch eine der stabilsten“. Er betonte weiter: „Es gibt keine Ausrede, dass so viele Kinder in Armut leben müssen. Wir sind eines der reichsten und stabilsten Länder.“

Statistiken belegen, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, eine vier mal höhere Wahrscheinlichkeit haben, ihr zwanzigstes Lebensjahr nicht zu erreichen.

Im nationalistischen Arbeiterviertel von Westbelfast liegt der Anteil der Kinder, die unter der Armutsgrenze leben sogar bei 77%. Im benachbarten West Tyrone sind es 52% und in Fermanagh und South Tyrone jeweils 49% der Kinder.

Die soziale Situation in Irland beschreibt Browne folgend: „Als wir Reichtum hatten, haben wir ihn nicht auf alle verteilt und nun müssen die Armen abermals unter den Sozial-, Bildungs- und Gesundheitskürzungen leiden. Kurz, die Armen werden von der aktuellen Situation mehr getroffen.

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.