Thesen zur Finanzkrise.
Diskussionsangebot des  SDAJ-Bundesvorstandes
Stand 17. Oktober 2008

10/08

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Die Bundesregierung zimmert in aller Eile ein 500 Milliarden Euro schweres Rettungsprogramm für die Banken zusammen, das auch eine Teilverstaatlichung mancher Finanzkonzerne vorsieht. Andere kapitalistische Staaten betreiben ähnliches (meist noch radikaler). Quer durch die Medien wird (auch von führenden Kapitalisten) diskutiert, ob der „Kapitalismus am Ende“ ist oder zumindest reformiert werden muss. Was ist da passiert? 

Fangen wir mit der Erscheinungsebene an: 

  1. Die aktuelle Finanzkrise begann mit einer Preisblase am US-Häusermarkt. Etwa seit 1995, beschleunigt seit dem Jahr 2000, sind die Preise für Wohnhäuser in den USA in beispiellosem Tempo gestiegen. Dazu kam ein Bauboom und eine Welle privater Immobilienkäufe, zu einem großen Teil mit riskanten Krediten finanziert (Kreditsumme höher als der Immobilienwert, niedrige Lockzinsen mit später stark steigenden Raten, Häuser beliehen als „Geldautomat“, Kredite ohne Einkommensnachweis oder an „Subprime“-Schuldner, also Leute, die von den Banken als nicht kreditwürdig angesehen werden,…).
    Im Herbst 2006 überschritten die Hauspreise ihren Höhepunkt, da waren sie nach seriösen Schätzungen um sechs bis acht Billionen Dollar überbewertet. Mit steigenden Zinsen konnten viele Hausbesitzer ihre Kredite nicht mehr bedienen. Die fallenden Preise führten dazu, dass ca. zwölf Millionen Haushalte mehr Schulden auf das Haus haben, als das Haus noch wert ist. Inzwischen werden täglich 10.000 Häuser zwangsversteigert und die Familien aus den Häusern geworfen.
    In den USA wohnen, anders als in Deutschland, die meisten Menschen im Eigenheim. Das Immobilienvermögen, das sich nun in Luft auflöst, war die Basis dafür, dass die Masse der Amerikaner sich in den vergangenen Jahren trotz niedriger Lohneinkommen einen enormen Konsum (Autos, Unterhaltungsgeräte, …) leisten konnte und sich dafür bis zur Halskrause verschuldete.
  2. Für die Banken, die Immobilienkäufe finanziert hatten, bedeutet dies eine steigende Zahl von Kreditausfällen – nicht nur auf Immobilienhypotheken, sondern auch auf Kreditkarten, Studien-, Auto- oder sonstige Konsumentenkredite, je mehr Schuldner zahlungsunfähig werden. Selbst wenn die Banken die Häuser beschlagnahmen, bedeutet das wegen der gefallenen Preise für sie einen Wertverlust. Die meisten privaten Hypothekenbanken, die den Immobilienboom angeheizt hatten, sind längst pleite oder aufgekauft.
    Doch die faulen Kredite wurden durch so genannte Verbriefungen, eine Finanzinnovation der letzten Jahre, quer durch den Weltfinanzmarkt weitergereicht: Die Hypothekenbanken verkauften ihre Forderungen weiter an andere Banken, die machten daraus Wertpapiere (Asset Backed Securities), die wiederum in größeren Kreditpaketen (Collateralized Debt Obligations) verpackt wurden, und die wieder in anderen, sodass die letztendlichen Käufer der Papiere nicht mehr genau wussten, was darin enthalten ist. Was als sichere Geldanlage und Verteilung des Risikos auf mehrere Partner gedacht war, führte dazu, dass alle Beteiligten Wertverluste hinnehmen mussten. Die Banken, die solche Papiere gekauft hatten (darunter fast alle europäischen) mussten in ihren Büchern den Wert ihres Vermögens abschreiben (verringern), bisher um knapp 500 Milliarden Euro, nach aktuellen Schätzungen beträgt der gesamte Wertverlust eine Billion Euro. Eine Bilanz, die eben noch sauber aussah, ist plötzlich marode. Das Ergebnis ist Kapitalmangel der Finanzinstitutionen
  3. Die Banken verleihen nicht nur in großem Umfang Geld, sie nehmen auch selbst enorme Schulden auf. Den US-Banken beispielsweise wurde vor einigen Jahren erlaubt, für jeden Dollar Eigenkapital 40 Dollar Fremdkapital (geliehenes Geld) einzusetzen. Das ist ein Hebel, um noch schneller noch größere Geschäfte zu machen. Wenn es gut läuft, wird der Profit mit diesem Hebel vervielfacht, umgekehrt geht das aber auch mit Verlusten. Die am Immobilienmarkt erlittenen Verluste zwingen die Banken dazu, den Eigenkapitalanteil zu erhöhen, um nicht mit dem Begleichen der eigenen Schulden in Verzug zu geraten. Auf der einen Seite suchen sie neue Kapitalgeber, die auf dem freien Markt inzwischen aber rar geworden sind. Auf der anderen Seite schränken sie ihre Kreditvergabe ein. Unternehmen und auch Privathaushalten, die nicht ohne Schulden auskommen, droht eine „Kreditklemme“: Es gibt kein geliehenes Geld mehr für Investitionen oder Konsum.
  4. Viele Banken, die am Rand der Zahlungsunfähigkeit stehen, greifen zu Notverkäufen. Alles, was sich schnell zu Geld machen lässt, wird auf den Markt geworfen, nicht nur die Wertapiere, die am Ursprung der Krise standen. Das drückt die Preise nach unten und löst auch bei anderen Banken weitere Wertverluste aus, sodass das Spiel bei Punkt 2. von vorn losgeht. Es kommt zu einer Abwärtsspirale. Einige Großbanken sind inzwischen schon zahlungsunfähig, was wiederum dazu führt, dass viele Kunden und Gläubiger auf einmal ihr Geld zurückhaben wollen (Bank Run), jedenfalls bei den Finanzinstitutionen, deren Einlagen nicht versichert oder gesetzlich geschützt sind: Investmentbanken, Hedgefonds, Private-Equity-Fonds („Heuschrecken“), von den Banken außerhalb der eigenen Bilanz gegründete Zweckgesellschaften, … Dieses „Schattenbankensystem“ bricht zusammen, was eine Kettenreaktion auslöst. Weil alle Banken über gegenseitige Schulden miteinander verbunden sind, kommt zu dem Misstrauen, welche Risiken sie in ihren eigenen Bilanzen versteckt haben, noch das Risiko, von welchen Pleitekandidaten sie abhängig sind. Die Banken geben sich aus Angst vor Totalverlust gegenseitig keinen Kredit mehr und bunkern ihr Geld lieber, als es „arbeiten“ zu lassen.
  5. Würde diese Entwicklung unkontrolliert weiterlaufen, wäre ein Kollaps des Finanzsystems wahrscheinlich: Eine Bank nach der anderen geht pleite, Sparer kommen nicht mehr an ihre Einlagen, Unternehmen nicht an ihr Kapital. Das ist das Rezept, das auch 1929-33 in die Weltwirtschaftskrise führte. Weil keine privaten Kapitalisten mehr willens oder in der Lage sind einzugreifen, bleibt nur noch der Staat. Genau das passiert jetzt. Der Staat kauft entweder den Banken ihre faulen Kredite ab (die ursprüngliche Idee der US-Regierung, das würde die Abwärtsspirale an Punkt 4. stoppen) oder versorgt sie direkt mit frischem Kapital, indem er teilweise das Eigentum an den Banken übernimmt und greift so (was natürlich wirksamer ist) an Punkt 2. ein (um die Ursache des Problems an Punkt 1. zu bekämpfen, ist es jetzt zehn Jahre zu spät). Das Ergebnis: „Die Steuerzahler“ (im Wesentlichen die Arbeiterklasse) müssen die Verluste der Banken auf sich nehmen. Die Bankbilanzen müssen natürlich auch nach dem Eingreifen des Staats um die erlittenen Verluste bereinigt werden. Ob die weiteren Folgen (Kreditklemme, Abwärtsspirale, Kollaps des Finanzsystems) eintreten, hängt davon ab, wie der Staat in das Geschäft der Banken eingreift – jedenfalls hat er die Mittel in der Hand, all das zu verhindern.
  6. Ist damit alles gut? Nein, denn die Folgen der Krise außerhalb des Finanzsystems laufen weiter. Die Realwirtschaft (die Produktion, Verteilung und der Konsum von Waren) ist auf zwei Wegen betroffen. Zunächst bedeutet der von den Hausbesitzern erlittene Vermögensverlust (Punkt 1.), dass sie ihren Konsum einschränken müssen. Das passiert derzeit in rasendem Tempo in den USA und manchen europäischen Ländern, die ähnliche Immobilienblasen hatten (Spanien, Großbritannien u.a.). Die Nachfrage für alle möglichen Waren bricht ein, die Produktion wird gedrosselt, Arbeitsplätze werden gestrichen.
    Deutschland hat zwar in den vergangenen Jahren weder eine Immobilienblase noch einen Konsumboom noch eine übermäßige Verschuldung erlebt, die deutsche Wirtschaft ist aber voll auf den Export von Waren ins Ausland orientiert („Exportweltmeister“). Die Wirtschaftskrise der wichtigsten Handelspartner führt dazu, dass die wichtigsten Absatzmärkte für deutsche Autos, Maschinen, Chemie- und Elektroerzeugnisse wegbrechen. Und weil für privaten Konsum die Massenkaufkraft fehlt und die Staatsausgaben durch Sparpolitik begrenzt sind, wird der schrumpfende Export durch nichts anderes ausgeglichen. Auf diese Weise rauscht Deutschland noch schneller in die Rezession (schrumpfende Wirtschaftsleistung) als die USA, von denen die Krise ausgeht. Die Behauptung, die Krise sei ein amerikanisches Problem und die deutsche Wirtschaft sei solide, ist falsch. Die einseitige Exportorientierung hat Deutschland davon abhängig gemacht, dass andere sich verschulden, um deutsche Waren zu kaufen.
    Zweitens führt die Verknappung von Kredit dazu, dass viele Investitionen der Unternehmen oder Konsumausgaben nicht möglich sind. Auch ohne übermäßige Verschuldung läuft die kapitalistische Wirtschaft nur, solange es genug Kredit gibt. Selbst Großkonzerne, die hohe Profite einfahren und große Barreserven haben, müssen regelmäßig neue Kredite aufnehmen, allein schon, um die Schulden aus alten, auslaufenden Krediten zu bedienen. Tatsächlich hängen Real- und Finanzkapital eng miteinander zusammen. Ohne die Hilfe von Finanzkapital wäre keiner der großen Konzerne entstanden. Eine Trennung der „gesunden“, kapitalistischen Realwirtschaft vom Wahnsinn der Banken mit Zins und Kredit funktioniert deshalb nicht.

Kommen wir zur Erklärung.

Ursache der Spekulation (also sowohl der übertriebenen Vermögenswerte – Häuserpreise etc. – als auch der Überschuldung von Privathaushalten, Banken und Unternehmen) ist die Überakkumulation von Kapital: Auf dem Weltmarkt ist mehr Kapital unterwegs, dessen Eigentümer nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchen, als es solche Möglichkeiten tatsächlich gibt. Das ist das Ergebnis der kapitalistischen Ausbeutung, in der die Kapitalisten den maximalen Mehrwert von den ArbeiterInnen abschöpfen, also Profit machen und damit Kapital anhäufen.

Das geht in der Regel einige Jahre gut (für die Kapitalisten). Zum Wesen des Kapitals gehört es aber, dass es dann nicht verprasst wird, sondern nach Möglichkeit weiter maximale Profite erwirtschaften soll. Die Profitaussichten weiterer Investitionen in Fabriken, Maschinen, Computer usw. schwinden aber, weil dann Überkapazitäten im Vergleich zu den Absatzmöglichkeiten entstehen, denn die Ausbeutung begrenzt ja auch die Massenkaufkraft der Arbeiterklasse.

Ein zeitweiliger Ausweg für die Kapitalisten besteht in der Spekulation, d. h. das Kapital wird nicht in der Realwirtschaft investiert, sondern am Finanzmarkt. Das Finanzkapital kann sich zeitweise von der Realwirtschaft ablösen, weil die Profite nicht unmittelbar realisiert werden müssen – es wird mit Versprechen auf zukünftige Profite gehandelt, je nach Erwartungen scheint es keine Grenze nach oben zu geben. Schließlich wird die Spekulation auch mit Kredit, also mit „fiktivem Kapital“ (Marx) angeheizt: Banken und andere Finanzinstitute verleihen Kapital, das es noch gar nicht gibt, das sie aber in Zukunft zurückhaben wollen – plus die Zinsen, die den Anspruch auf mit dem Kapital erwirtschafteten Profit ausdrücken.

Letzten Endes hängt aber auch das Zustandekommen dieser Profite von der Leistungsfähigkeit der Arbeiterklasse ab. Kapital ist aus marxistischer Sicht „gefrorene Arbeit“, also von den Kapitalisten angeeignete Erzeugnisse der Arbeitskraft. Fiktives Kapital ist dementsprechend gefrorene Arbeit der Zukunft, ein Mehrwert, den die Arbeiterklasse erst noch abliefern muss. Sobald sich bei den Kapitalisten die Einsicht durchsetzt, dass sich die Profitversprechen in dieser Höhe nicht einlösen lassen, ziehen sie ihr Kapital ab – die Spekulationsblase platzt.

Das Phänomen der Überakkumulation ist seit dem Entstehen des Kapitalismus zu beobachten und wurde von Karl Marx als wichtigste Erklärung für zyklische Krisen beschrieben (alle fünf bis zehn Jahre bricht das Profitwachstum ein, dann steigt die Arbeitslosigkeit und die Einkommen fallen, zum Schluss wird überschüssiges Kapital vernichtet – durch Wertverlust, Unternehmenspleiten und teilweise auch durch reale Zerstörung wie Krieg – sodass für die übrig gebliebenen Kapitalisten eine neue Runde des umso größeren Profitwachstums möglich ist).

Inzwischen werden diese regelmäßigen Krisen (die immer noch bestehen) aber durch eine chronische Krise der Überakkumulation von Kapital überlagert. Circa seit der Rezession von 1974/75 läuft die Spekulation in Wellen, die direkt ineinander übergehen (Schuldenkrise der Entwicklungsländer, Absturz der „Tigerstaaten“ in Asien, Aktienblase rund um den Internetboom und „New Economy“, Immobilienkrise in den USA, um nur einige Beispiele zu nennen). Begleitet wird diese Entwicklung von einer Politik der verschärften Ausbeutung durch Kürzung von Löhnen und Sozialleistungen, verbunden mit einer Entfesselung des Finanzkapitals (bekannt unter dem Label „Neoliberalismus“), die das Ziel verfolgt, die Profitraten zu steigern. Vorübergehend ist diese Strategie bemerkenswert erfolgreich, der Kapitalismus hat gerade nach der historischen Niederlage des Sozialismus von 1989/90 einen ungeahnten Höhenflug erlebt, doch er untergräbt damit seine Zukunft weiter, weil er das Krisenpotenzial verschärft.

Eine ähnliche Entwicklung gab es schon einmal nach der ersten „Globalisierung“ Anfang des 20. Jahrhunderts, die in eine Abfolge schwerer Krisen mit nationaler Abschottung, Hyperinflation, einem Zusammenbruch des Finanzsystems, sozialistischen Revolutionen und auf der anderen Seite faschistischer Reaktion sowie zwei Weltkriegen mündete. Diese Lektion war brutal für die Arbeiterklasse, aber auch für die Kapitalisten. Entgegen vieler Voraussagen (auch von Marxisten) hat der Kapitalismus die Abfolge von Katastrophen überlebt und ist sogar gestärkt daraus hervorgegangen.

Das Geheimnis lag in einer staatlichen Steuerung der Wirtschaft. Der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ handelte im Interesse der Kapitalistenklasse für das Überleben des Systems auf Kosten der einzelnen Kapitalisten: Er griff in die Verfügungsgewalt des Kapitals bis hin zur Enteignung ein, und sorgte schließlich sogar dafür, dass sich die materielle Lage der Arbeiterklasse durch eine Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung mit höheren Löhnen und Sozialleistungen wie Bildung, Gesundheit etc. besserte (keynesianische Wirtschaftspolitik). Auf der einen Seite wurden so die Profite gebremst, auf der anderen Seite war es nur so möglich, dass die Kapitalisten überhaupt weiter Profite bekamen.

Diese Lektion ist trotz der jahrzehntelangen Dominanz der „neoliberalen“ Doktrin nicht vergessen. Aus diesem Grund wird auch jetzt ein radikaler Schwenk vollzogen. Ausgerechnet die US-Regierung von Noch-Präsident George Bush, die den unbedingten Glauben an die „freien Märkte“ und die Entfesselung des Kapitals auf die Spitze getrieben hat, verbringt ihre letzten Monate mit der größten Enteignung in der US-Geschichte. Sie zwingt sogar sämtliche Großbanken zu einer Teilverstaatlichung (und geht damit über die bisher „freiwilligen“ staatlichen Kapitalspritzen für einzelne Banken in Europa hinaus). Auch die schärfsten Neoliberalen wie FDP-Chef Guido Westerwelle drehen sich plötzlich um 180 Grad („Wir Liberalen waren schon immer für einen starken Staat … Es kann nicht sein, dass die Gewinne privatisiert, aber die Verluste sozialisiert werden.“). Manche Experten wie der New Yorker Ökonom Nouriel Roubini sprechen sogar von „Sozialismus“, allerdings „Sozialismus für die Reichen“. 

Wie ist damit umzugehen? Nehmen wir uns als Negativbeispiele drei verschiedene Positionen in der Linken vor: 

„Das gehört zum System und ist nichts Neues, ... Also kann man nur sagen, dass sich die gesellschaftliche Desintegration auch in den kapitalistischen Zentren in einem bisher nicht vorstellbaren Maße fortsetzen wird.“ (der marxistische Krisentheoretiker Robert Kurz, 15.10.)

Diese in Variationen auch in der „jungen Welt“ verbreitete Haltung läuft darauf hinaus, dass wir es 1. immer schon gewusst haben, 2. der Kapitalismus an sich selbst zugrunde geht und 3. eigentlich gar nichts zu tun ist bzw. alle Rettungsversuche abzulehnen sind.

Hier führt eine in weiten Teilen richtige Analyse zu falschen Schlussfolgerungen. Ein „Laufenlassen“ der Krise trifft die Arbeiterklasse mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, Einkommen und den bescheidenen Vermögen härter als alle denkbaren Kosten der staatlichen Rettungsmaßnahmen. Die Hoffnung, eine Verschärfung der Krise und damit des Elends der Arbeiterklasse könnte eine revolutionäre Situation schaffen, führt in die Irre. In der Geschichte haben Krisen zwar häufig einen revolutionären Umbruch begünstigt, doch nur dann, wenn es eine organisierte, revolutionäre Kraft gab, die zuvor schon Kämpfe geführt und Klassenbewusstsein verbreitet hatte. Häufiger aber siegte als Ergebnis von Krisen die Reaktion, am schlimmsten ist hier wohl die Erfahrung des deutschen Faschismus. Der kam nicht nur an die Macht, weil er Geldgeber in der Industrie hatte, sondern auch weil sich die Wut der Kleinbürger auf „das System“ entlud. Gerade diese Stimmung („Wir braven Arbeiter müssen für die üblen Zocker bluten“) wird heute wieder genährt. Kurz und Co. unterschätzen die Fähigkeit des Kapitalismus, sich gerade nach schweren Krisen und auf dem Umweg über Leichen neu zu erfinden. Er wird nicht untergehen, solange wir ihn nicht beseitigen. Höchstens mündet er in die Barbarei – damit ist für uns aber nichts gewonnen. 

„Was Sie hier technisch machen, ist nicht zu kritisieren“ (Linksfraktionschef Oskar Lafontaine in der Bundestagsdebatte zum Banken-Rettungsplan der Bundesregierung, 15.10.)

Irgendwie verständlich, schließlich macht die Bundesregierung ja jetzt das, was die Linkspartei, viele Gewerkschafter, Sozialgruppen und auch manche in der DKP immer gefordert haben: Verstaatlichen statt privatisieren, den Markt in seine Schranken weisen, Managergehälter begrenzen. Nicht von ungefähr spielte die Verstaatlichung von Banken eine Schlüsselrolle bei bisherigen Versuchen, auf friedlichem (parlamentarischem) Weg zum Sozialismus zu kommen: Chile 1970-73, Portugal 1974/75, Frankreich 1981/82. Doch in all diesen Fällen ließen sich die verstaatlichten Banken ziemlich schnell zu Instrumenten der Reaktion wenden.

Immerhin steht diese Position dafür, die Krise zu bekämpfen und damit die Last für die Arbeiterklasse zu verringern. Das blinde Vertrauen aber, eine (Teil-)Verstaatlichung von Banken führe schon in die richtige Richtung, ist nicht zu rechtfertigen. Auch wenn die Vergellschaftung der Verluste für den Moment unausweichlich ist – sie verlangt nach einem Aufschrei dagegen. Die Masse des Volks ist wütend, und die staatstragende Linkspartei gibt ihr in dieser Situation nicht die Stimme.

Diejenigen Kräfte, die wie Lafontaine oder Attac den „Neoliberalismus“ oder schlicht „den Markt“ als Hauptfeind ausgemacht haben, verlieren plötzlich den Gegenstand ihres Kampfs, weil sich die Neoliberalen selbst vom Neoliberalismus verabschieden. Das ist aber kein Grund zum Triumph, denn der Staat ist ein Instrument in den Händen der Kapitalisten und wird sicher nicht von selbst zum Nutzen der Arbeiterklasse eingesetzt.

Ob der freie Markt entfesselt ist oder der Staat die Wirtschaft lenkt, ist nicht die entscheidende Frage. Es kommt darauf an, welche Klasse über Staat und Markt herrscht und diese Instrumente für ihre Herrschaft benutzt. Auch ein planwirtschaftlicher Kapitalismus ist immer noch Kapitalismus, in dem Menschen ausgebeutet werden – vielleicht sogar die reaktionärste und brutalste Variante. Für die deutsche Wirtschaftslenkung im 1. Weltkrieg hatte Lenin den Begriff „Staatsmonopolistischer Kapitalismus“ geprägt, der später half zu erklären, warum der scheinbare Sozialstaat der 60er und 70er Jahre den Interessen der Arbeiterklasse widersprach. Es wird höchste Zeit, dass wir diese Analyse wieder aus der Versenkung holen. Sie war nie falsch, war aber unter diesem Begriff schwer zu vermitteln, solange die beobachtete Wirklichkeit der Existenz von Staatsmonopolen zu widersprechen schien. 

„Ich sehe in unserer Branche derzeit keine Krise“ (IG-Metall-Chef Berthold Huber zur Begründung der Lohnforderung von 8 Prozent, 13.10.)

Zum Teil ist es tatsächlich so, dass die Finanzkrise als Sündenbock für alles Mögliche herangezogen wird. Die Krise und ihre Folgen für die Industrie zu leugnen, kann aber nur nach hinten losgehen. Die Erhöhung der Löhne ist richtig, aber sie kann in dieser Höhe nur auf Kosten der Profite gehen und wird (so sie denn durchgesetzt wird) tatsächlich einige der Exportunternehmen, die die Krise als erste spüren, schneller in die roten Zahlen bringen. Daran ändert auch nichts, dass dieselben Unternehmen in den Vorjahren dicke Profite einfuhren, als die IG Metall nur bescheidene Lohnerhöhungen von maximal 4 Prozent durchsetzte.

Die Linie der Gewerkschaft, einerseits einen Ausgleich für die Opfer der Beschäftigten in den vergangenen Jahren zu verlangen, andererseits aber den Unternehmen nicht wehzutun, aus Angst, sie könnten mit Entlassungen und/oder Preiserhöhungen auf höhere Löhne reagieren, geht nicht auf. Diese Doktrin hindert die Gewerkschaft daran, ohne Rücksicht auf die Lage der Unternehmen einfach deshalb 8 Prozent zu fordern, weil es im Interesse ihrer Mitglieder (gerade angesichts der Krise) ist. Immerhin in einer Hinsicht ist das Kräfteverhältnis gerade günstig: Weil die Nachfrage schwindet, haben die Unternehmen kaum eine Chance, mit höherer Inflation auf steigende Löhne zu antworten. Die Gefahr wieder wachsender Arbeitslosigkeit ist allerdings real – mit oder ohne Lohnerhöhung, und es trifft zuerst die Zeitarbeiter, die in den Jahren des Aufschwungs bevorzugt eingestellt wurden. 

Was also tun? 

Der Hinweis, dass solche Krisen zum Wesen des Kapitalismus gehören und u.a. deshalb der Sozialismus überlegen ist, ist berechtigt. Er hilft zwar niemandem, die Folgen der aktuellen Krise zu bewältigen, kann höchstens einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung leisten. Wichtiger ist es, den konkreten Kampf für eine Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse hier und heute zu führen – wohl wissend, dass solche Reformen, wenn sie konsequent durchgesetzt werden, immer wieder an die Grenzen des kapitalistischen Systems stoßen.

Mögliche konkrete Forderungen, die unmittelbar auf die Krise antworten: 

-         Die Banken sind zu retten, aber die Rechnung muss den Kapitalisten gestellt werden. „Die Steuerzahler“ können ja auch Zahler von Gewinn- und Vermögenssteuern sein, nicht nur die armen Lohnsteuerzahler.

-         Es reicht nicht, sich an den Banken nur mit Aktien zu beteiligen, die Managergehälter und Dividenden für Aktionäre zu kürzen. Wenn der Staat die Banken rettet, muss er auch die Kontrolle übernehmen. Auf keinen Fall dürfen die Unternehmen wieder privatisiert werden, sobald die ersten Gewinne fließen.

-         Die verstaatlichten Banken müssen so umgestaltet werden, dass sie einem volkswirtschaftlich sinnvollen Zweck dienen, nämlich Geld für nötige Investitionen und für die Bedürfnisse der Bürger beschaffen. Das Profitinteresse hat dabei nichts verloren, es hat schon bei den staatlichen Landesbanken zum Debakel geführt, dass diese Institute mehr die private Konkurrenz als ihren Förderauftrag im Blick hatten.

-         Neben der Rettung der Banken wird auch ein „Konjunkturprogramm“ für die Realwirtschaft wie in den USA immer wahrscheinlicher. Doch unter diesem Begriff kann sich alles Mögliche verbergen, bis hin zu massiver Aufrüstung. Hier muss der Schwerpunkt auf den richtigen Ausgaben liegen: öffentlichen Investitionen in Dinge, die den Bedürfnissen der Arbeiterklasse dienen, wie Kindergärten, Einheitsschulen, Gesundheitszentren, ein leistungsfähiges Bahnnetz, etc.

-         Die sozialen Sicherungssysteme müssen gestärkt werden, indem auch Beiträge auf Gewinneinkommen und Vermögen erhoben und die Kürzungen der Leistungen zurückgenommen werden. Der Zwang zu privater Vorsorge für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit ist umso wahnsinniger, wenn man sich das Risiko der Geldanlage am Kapitalmarkt vor Augen führt, wie es jetzt zu Tage tritt.

-         Das beste Konjunkturprogramm, auch als Stabilisierung gegen die Abhängigkeit von der Exportwirtschaft, ist die Stärkung der Massenkaufkraft. Und dazu ist das beste Mittel: Löhne rauf! Diese Forderung ist die wichtigste, weil sie in der direkten Gegenüberstellung von Arbeiterklasse und Kapitalisten erkämpft wird und deshalb Klassenbewusstsein, das ansonsten abstrakt bleibt, mit Leben füllt.

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 23.10.08 von  http://www.sdaj-netz.de/ zur Zweitveröffentlichung.