Verdrängte Geschichte
Corry Guttstadt,
Die Türkei die Juden und der Holocaust

 
besprochen von
Peter Nowak

10/08

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onlinezeitung

Wer von nationalen Minderheiten in der Türkei redet, denkt meist an Kurden und Armeniern. Die Hamburger Historikerin Corry Guttstadt hat ein gut lesbares Buch vorgelegt, das sich der Geschichte der Juden in der Türkei vom Mittelalter bis in die Gegenwart widmet. Schon im 14. Jahrhundert wurde die Türkei Zufluchtsort für vor dem christlichen Antisemitismus aus Mittel- und Osteuropa fliehenden Juden. Eine weitere große jüdische Einwanderungswelle setzte nach der spanischen Reconquista ein. Viele dieser Sephardim ließen sich von den osmanischen Herrschern gefördert, auf dem Territorium der Türkei nieder. Einerseits waren sie sicherer als in der christlichen Welt jener Jahre.

„Katastrophen, wie die blutige Judenverfolgung des europäischen Mittelalters.... kannte die islamische Welt nicht“, schreibt Guttstadt. Andererseits rückt die Autorin die Vorstellung einer großen islamischen Toleranz gegenüber Juden mit dem Verweis auf zahlreiche einschränkenden Bestimmungen und Sondersteuern zurecht. „Was der Jude unter moslemischer Herrschaft zu leiden hatten, war nicht Hass, Furcht oder Neid, sondern ... eine Art herablassende Duldung“, zitiert Guttstadt zustimmend den Historiker Bernard Lewis.

Importierter Antisemitismus

Mit dem wachsenden Einfluss der europäischen Großmächte in die türkische Innenpolitik nehmen auch antijüdische Gewaltausbrüche zu. Die Ursache sind häufig Ritualmordbeschuldigungen, wie sie im christlichen Europa an der Tagsordnung waren. Ein bekanntes Beispiel dieses importierten Antisemitismus war die Damaskusaffäre im Februar 1840. Nachdem der französische Konsul und einige von ihm aufgestachelte Mönche die Juden für das Verschwinden eines Kapuzinermönchs verantwortlich machten, ließ der Gouverneur mehrere bekannte Juden festnehmen und foltern. Prominente Juden aus ganz Europa setzten sich für ihre verfolgten Glaubensbrüdern ein.

Mit der jungtürkischen Revolution im Jahre 1908 hoffte auch die jüdische Minderheit auf Gleichberechtigung. Doch nach dem kurzen Sommer der Verbrüderung nahm der politische Druck auf alle nationalen Minderheiten, auch die Juden, zu. Guttstadt beschreibt, wie schon vor dem 1. Weltkrieg vor allem in politischen Exilzirkeln, jene Synthese aus türkisch-nationalistischen Ideen und antiimperialistisch verbrämten Chauvinismus entstand, die sich in der Gegenwart beispielsweise in dem umstrittenen Film „Tal der Wölfe“ zeigt. Stieß der Kemalismus wegen seines auf Modernisierung ausgerichtetem Regierungsprogramm bei vielen türkischen Juden zunächst auf Zustimmung, folgte wegen der rigiden Politik gegen nationale Minderheiten bald eine große Enttäuschung. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wanderten viele Juden aus der Türke in europäische Länder aus.

Verweigerte Rettung

Ausführlich widmet sich die Autorin der Rolle der Türkei während der NS-Herrschaft. Die Türkei war ein wichtiges Transitland für Juden, die sich nach Palästina retten wollten. Doch sie fanden wenig Unterstützung. Während des deutsch-türkischen Freundschaftsvertrags von 1941 bis 1944 paarte sich eine restriktive Politik gegen Flüchtlinge mit antijüdischen Maßnahmen gegen türkische Juden. Mit ihrer Ausbürgerung verloren zahlreiche in den 20er Jahren in verschiedene europäische Staaten ausgewanderte türkische Juden den letzten Schutz. Allein aus Frankreich wurden zwischen März 1942 und August 1944 2040 Juden türkischer Herkunft in die Vernichtungslager deportiert. Guttstadt hat in verschiedenen europäischen Ländern das Schicksal der jüdischen Migranten aus der Türkei erforscht. Viele Fragen sind noch unbeantwortet. Deshalb ist die Forderung der Autorin, die türkische Regierung solle endlich ihre Archive öffnen, völlig berechtigt.

Rolle des Kemalismus

Das Buch von Guttstadt zeigt einmal mehr, dass der nicht nur von manchen türkischen Linken noch immer hochgelobte Kemalismus, eine stark rassistische und auch antisemitische Komponente enthielt. Diese Seite wird oft ausgeblendet. Statt dessen wird einseitig betont, dass der Kemalismus die Frauen in der Türkei emanzipiert hat. Allerdings war diese Art der Frauenemanzipation eine Angelegenheit der städtischen Mittelstandsfrauen, die ihren „Schwestern“ auf dem Land mit Hochmut und Verachtung begegneten. Kemalistische Frauenrechtlerinnen wie Necla Kelik führen diese Diskurse bis heute fort und finden auch in Deutschland AnhängerInnen.

Eine andere weitverbreitete Legende lautet, dass die Türkei ein Schutzraum für jüdische Menschen in der Zeit des NS-Terrors war. Erst vor zwei Wochen veröffentlichte die Jüdische Allgemeine eine Rezension eines Buches, in dem diese Legende weiterstrickt wurde. Es stützt sich auf historisch nachweisbare Fakten, verallgemeinert sie aber.. Bei der kemalistischen Neuordnung des türkischen Universitätssystems hatten in Deutschland verfolgte Wissenschafter die Möglichkeit, sich zu bewerben und so vor den NS-Schergen zu entkommen. Auch Guttstadt referiert dieses Beispiel, die faktisch eine Schutzaktion für verfolgte Juden wurde. Guttstadt führt auch andere Beispiele auf, wo einzelne Beamte in türkischen Konsulaten Juden gerettet haben. Nur waren es Ausnahmen, die eben nicht auf die Politik der Türkei insgesamt bezogen werden kann.

Guttstadt erwähnt eben auch die vielen Fälle, wo Hilfe verweigert wurde, wo die Türkei als Transitland für die Verfolgten versperrt wurde und wie die aus der Türkei stammenden Juden gerade in der Zeit ausgebürgert wurden, wo ihnen ein türkischer Pass das Leben gerettet hätte. Die Autorin/ hat mit ihrem Buch Pionierarbeit geleistet. Es ist zu hoffen, dass an diesem Thema weiter geforscht wird.
 
 

Corry Guttstadt
Die Türkei die Juden und der Holocaust
Assoziation A
Hamburg 2008
516 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-935936-49-1