Angesichts
des Wahlsieges der CDU und FDP, ausgerechnet mitten in der
Krise, ist es notwendiger denn je, sich mit dieser Krise
auseinanderzusetzen. Während den Banken das Geld in den Rachen
geworfen wurde, werden nun nach den Wahlen die Lohnabhängigen
und Erwerbslosen dafür zahlen müssen. Die außerparlamentarische
Linke wird wieder mit Abwehrkämpfen beschäftigt sein. Ich hoffe,
es gibt ein Erwachen und der Protest wird wieder auf die Straße
getragen.
Motivation, sich mit diesem Thema zu
beschäftigen, war für mich ein kleiner Artikel von Winfried
Wolf, in dem er von der multiplen Krise sprach und dabei 7
Krisen ausmachte: Die Krise der materiellen Produktion, die
Krise der Schlüsselindustrien, die soziale Krise, die
Finanzkrise, die Hegemonie-Krise, die Hungerkrise und die
Klimakrise. Ein Buch von ihm ist dazu in Vorbereitung.
Andererseits
hatte ich mich mit Erwerbslosen über die Krise unterhalten,
wobei diese bemerkten, dass sie in ihrem Alltag davon noch
nichts spüren, da ihnen ja sowieso nur der Hartz IV-Regelsatz
zum Leben zur Verfügung steht. Es wurde auf die Zeit nach der
Bundestagswahl 2009 verwiesen, dann würden die Einschnitte
kommen. Die Arbeitslosigkeit wird steigen, der Druck auf die
Löhne und den Arbeitsmarkt ebenfalls. Mit Kürzungen bei den
Sozialleistungen ist zu rechnen.
Immer wieder
bemerke ich bei Erwerbslosen (also auch bei den Organisierten,
ich bin selbst in der Erwerbslosen“bewegung“ aktiv), dass sie
den Blick nur auf ihren eigenen Alltag richten, mit dem sie
aufgrund der prekären Situation beschäftigt sind. Dabei gerät
die globale Sichtweise aus dem Blick.
Ich begann
aufgrund des Artikels von Winfried Wolf zu recherchieren und
stellte die Ergebnisse meiner Recherche in einem Vortrag am 16.
Juli 2009 im Autonomen Seminar an der Humboldt- Universität vor,
natürlich mußte ich dort kürzen. Nach dieser Recherche und dem
Vortrag wurde mir noch bewußter: Es muß die Systemfrage gestellt
werden, es gibt keine Lösung im Kapitalismus.
Die Finanzkrise
Das weltweit
verwaltete Finanzvermögen betrug 2006 140 Billionen Dollar,
davon wurden 75 Bio. von Banken verwaltet, 23 Bio. von
Pensionsfonds, 22 Bio. von Investmentfonds, 18 Bio. von
Versicherungen und 2 Bio. von Hedgefonds. (Monatsbericht
Bundesbank, Juli 2008,24) Das Geldkapital wird allerdings
nicht dazu genutzt, die soziale Infrastruktur zu verbessern,
sondern es dient meistens der weiteren Geldvermehrung. Geld ist
also genug da.
Wie bahnte
sich nun die Finanzkrise an? 2006 begann es mit der Krise der
Automobilindustrie und der Immobilienkrise in den USA, GB,
Irland und Spanien. 2006/2007 griff sie auf den Finanzsektor
über (weltweite Hypothekenkrise). Im Sommer 2007 weitete sie
sich zur weltweiten Kreditkrise aus (weltweite Verknappung der
Kredite). Bis September 2008 griff sie auf das gesamte Bankwesen
über. Im Oktober 2008 griff die Krise auf die Schwellen- und
Entwicklungsländer über.
Die
Finanzkrise ist ein Teil einer Krise der Energieversorgung, der
Nahrungssicherheit und des Klimawandels, dazu später.
Eigenschaften
der Krise sind erstens die Krise der weltweiten
Überakkumulation, d.h. Überkapazitäten und sinkende Profite. Bei
diesem Konsum- und Produktionsmodell muß die Produktivität
ständig gesteigert werden. Die Ursache liegt sowohl in der
Realwirtschaft und im Finanzsystem. Riesige Geldmengen
vagabundierten, dadurch wurde der Finanzmarkt ausgeweitet. Es
kam zu einer Verselbständigung der Finanzsphäre gegenüber der
Realwirtschaft. Es kam zu einem Überhang an akkumuliertem
Kapital (weder Vernichtung noch die Nachfrage reichen aus). Aus
überschüssigem Geld wird fiktives Kapital , d.h. es geht nicht
den Weg durch die Produktion von Waren. Zweites Merkmal der
Krise ist die globale Unterkonsumtion. Das Masseneinkommen wurde
massiv gesenkt. Die Arbeitenden sollten zwar wenig verdienen,
aber viel konsumieren.
Die
Finanzkrise hat eine lange Geschichte und begann schon mit der
Krise des Fordismus.
Schon in den
den 1970er Jahren war das Wachstum am Ende, denn es gab damals
schon eine Überproduktion und gesättigte Märkte. Die
Investitionen im Produktionsbereich blieben aus, weil kein
Gewinn zu erwarten war. Es kam zu einer Überakkumulationskrise,
ein Teil des Kapitals war überschüssig. Das Kapital wich deshalb
auf die internationalen Finanzmärkte aus. Seit 1973 wurde der
Kapitalverkehr liberalisiert, es wuchsen die Finanzmärkte und
die Spekulation. Die Aufblähung des fiktiven Kapitals führte zum
Aufschub der Krise. Das brachte nicht nur die Verwertung des
überschüssigen Kapitals, sondern damit wurde auch die Nachfrage
und damit die Realwirtschaft angekurbelt. Das fiktive Kapital
ermöglichte also die Aufrechterhaltung der kapitalistischen
Wirtschaft
Wie wurde nun
die Krise aufgehalten: Erstmal durch die Staatsverschuldung.
Dann wurden öffentliche Güter privatisiert, sie wurden in Waren
verwandelt. Die Profitraten wurden auch durch die Verdichtung
der Arbeit gesteigert, so wurde die subjektive Kreativität nun
verwertet. Das Wechselspiel von Überkapazitäten und
Unterkonsumtion wurde durch die Finanzpolitik des billigen
Geldes und der billigen Kredite kompensiert In die Unter-
und Mittelklassen wurden Kredite gedrückt, weltweit gibt es 12
Billionen Dollar Schulden (Hauskredite ohne Eigenmittel,
Kreditkartenschulden, Kauf- und Leasingschulden,
Studentendarlehen usw.) So mußten die Antragsteller von
Hypotheken in den USA oftmals keine Dokumente vorlegen,
Hypotheken wurden an Kunden mit geringer Kreditwürdigkeit
vergeben. Kredite sind verkauft worden, vor allem an
Hypothekenbanken. Auch Kredite an zahlungsunfähige Schuldner
wurden als Wertpapier verpackt, die Kapitalüberschüsse wurden
als Kredite angelegt. Das Überangebot an Geldkapital drückt die
Zinsen (die Hauptquelle der Bankprofite). Die Kapitalüberschüsse
sind in der Realwirtschaft entstanden, aber ohne die Expansion
der Verschuldung hätte die Realwirtschaft die Wachstumsraten
nicht erzielen können. Es wurden auch Investmentfonds gegründet,
das gesamte Wirtschaftssystem wurde finanzialisiert.
Wie funktioniert nun die Finanzialisierung des
Wirtschaftssystems?
Früher vergab
die Bank Kredite an Kunden. wobei der Kredit bis zur Tilgung in
der Bilanz der Bank blieb. Heute schleusen die Banken die
Kredite in den Finanzmarkt und können so wieder neue Kredite
vergeben. Der Kredit wird nämlich in ein Wertpapier umgewandelt-
das Prinzip der Verbriefung. Die Wertpapier werden nur im
direkten Handel, nicht an der Börse gehandelt. In Boomzeiten ist
es kein Problem, diese Wertepapiere zu verkaufen oder als
Sicherheit einzusetzen. Im Jahre 1988 wurde das Basel -I-
Abkommen eingeführt: Das Eigenkapital muß mindestens 8% der
risikogewichteten Kredite sein. Daher mußten Banken diese
Eigenkapitalquote einhalten. Sie hatten daher Interesse,
riskante Kredite zu vergeben, da die Zinsen höher waren und sie
die Kredite verkaufen konnten. Faule Kredite wurden versteckt
und verbrieft. Um die riskanten Kredite aus der Bilanz
verschwinden zu lassen, gründeten sie Zweckgesellschaften. 2008
wurde Basel II eingeführt. Kredite/ Eigenkapitalquote wurden
aufgrund von Ratings der Kreditkunden berechnet.
Was sind die Finanzinstrumente?
festverzinsliche Wertpapiere (Bonds), z.B. Staatsanleihen,
Bundesanleihen sind die sichersten Anleihen der Welt
Swaps (zu
deutsch Tausch): Vertrag zwischen Parteien, die sich einigen,
Zahlungsforderungen (die sie leisten müssen) auszutauschen;
Buffet verglich eine Form der Swaps (CDS) mit
Massenvernichtungswaffen
Verbriefte
Wertpapiere: aus Krediten werden Wertpapiere geschaffen, die
auf dem Markt verkauft werden; aufgrund des Basel-Abkommens
wurden existierende Kredite abgestoßen, die Verbriefung
öffnete den Zugang zum Kapitalmarkt; die Kreditkrise ist eine
Krise der Verbriefung
Zweckgesellschaften: Kredite wurden mit ihnen in Wertpapiere
umgewandelt
Hedgefonds:
bedienen sich aller Finanzinstrumente, sie müssen mindestens
20% Rendite im Jahr erwirtschaften
Leerverkäufe: Verkauf von Wertpapieren, die man nicht besitzt,
die man aber später kaufen muß, dabei wird auf den Verfall
eines Preises spekuliert
Ratingagenturen: sie vergeben Bewertungen und machen damit
Profit
Notenbanker:
die Zinsen wurden extrem gesenkt; das führte zu hoher
Risikobereitschaft und dem Immobilien- und Kreditboom
Finanzmathematik in den 90er Jahren entwickelten Mathematiker
Modelle zur Berechnung von Kreditrisiken; Kernpunkt der
Forschung waren die Kreditmärkte
Worin besteht die Finanzkrise?
Die
spekulative Verschuldung wurde so in die Höhe getrieben, dass
die Finanzakteure sich gegenseitig keine Kredite und
Sicherheiten mehr geben.
Die Blase ist
geplatzt und führt zu enormer Kapitalvernichtung. Populäre
Erklärungsmuster sind, dass die Finanzhaie und Spekulanten
Schuld seien. Es wird ein Unterschied zwischen raffendem und
schaffendem Kapital, was eine Gefahr für nationalistische und
rechtspopulistische Ressentiments bedeutet. In der Linken wird
erklärt, dass die Finanzblase Grundlage der Realwirtschaft war.
Die Verschuldung sorgte für die Nachfrage. Der Ursprung der
Krise liegt in der Verwertungslogik. Die Politik sei nicht
unschuldig, denn sie hat die Blase erzeugt, so wurden Hedgefonds
zugelassen.
Inzwischen
sind viele Randbelegschaften aus den Betrieben verschwunden,
Kurzarbeit nahm zu. Einige Länder hatten Staatsbankrotte z.B. in
Ungarn, Lettland, Ukraine, Island, Pakistan. Es kam zu einer
Konzentration im Bankgewerbe, also eine Monopolisierung.
Gleichzeitig sozialisierten Staaten die Verluste, die Verluste
der Banken wurden auf die Lohnabhängigen abgewälzt. Die faulen
Kredite und Privatschulden werden in die öffentlichen Kassen und
Haushalte geschaufelt, die Staaten stecken Steuergelder ins
Finanzsystem.
„Wenn man die
Verselbständigung des Geldkapitals im Finanzsystem beklagt, muss
man die Grundlage beseitigen, die kapitalistische
Warenproduktion, deren überschüssiges Kapital die Finanzmärkte
speist. Erst dann kann man das ‘Casino schließen’“. (Rainer
Roth: Finanz- und Wirtschaftskrise- Krise des Kapitalismus)
Die
Finanzkrise führt auch zu einer sozialen Krise.
Die Soziale Krise
Die Zeiten der
kollektiven Absicherung scheinen vorbei zu sein. Der
„Sozialstaat“ begrenzte die Risiken. Die soziale Frage stellt
sich am Beginn des 21. Jahrhunderts neu. Die soziale
Unsicherheit nimmt zu. Soziologen sprechen von der
Flexibilisierung und Prekarisierung. In dem Buch „Prekarität,
Abstieg, Ausgrenzung“ wird zwischen den „Überzähligen“,
„Prekariern“ und „Absteigern“ (aus der Mitte) unterschieden.
„...der disziplinierende Effekt strenger Zumutbarkeit (bei Hartz
IV-BezieherInnen würde) eher die Noch-Beschäftigten als die
Arbeitslosen“ erreichen. (S.155) Die AutorInnen unterteilen die
Erwerbslosen in „Um-jeden-Preis-Arbeiter“, die fast jede Arbeit
akzeptieren und sauer sind, dass das Jobcenter ihnen keine
Erwerbsarbeit anbietet; in „Als-ob-Arbeiter“, die auch über
zugewiesene Ein-Euro-Jobs glücklich sind, weil sie ihre Fassade
der Normalität aufrecht erhalten können, und in
„Nicht-Arbeiter“, die sowieso mit harten Sanktionen kaum zu
beeinflussen sind. Für „Nicht-Arbeiter“ (Anm. d.h.
Nicht-Lohnarbeiter) steht eine reguläre Erwerbsarbeit nicht
(mehr) im Zentrum der Identitätskonstruktion, dabei gibt es
konventionelle und unkonventionelle „Nicht-Arbeiter“.
Nichtarbeit als Verweigerung ist ein gesellschaftlicher
Gegenentwurf. Diese „Nicht-Arbeiter“ fordern Alternativen zur
Erwerbsarbeit und bewegen sich in politischen und subkulturellen
Szenen. Serge Paugham unterscheidet in dem Buch im Kapitel zu
den Prekariern neben dem Idealtypus (gesicherte Integration)der
beruflichen Integration drei abweichende Typen: „die unsichere
Integration (Zufriedenheit mit der Arbeit gepaart mit instabilem
Beschäftigungsverhältnis), die mühselige Integration
(Unzufriedenheit mit der Arbeit gepaart mit stabilem
Beschäftigungsverhältnis) und die disqualifizierende Integration
(Unzufriedenheit mit der Arbeit gepaart mit instabilem
Beschäftigungsverhältnis“. (Castel/Dörre, S. 183) Mit 49 Prozent
sei die „disqualifizierende Integration“ in Ostdeutschland
europaweit (West)am höchsten. Berthold Vogel schreibt, dass die
Prekarier „eine anonymisierte, zersplitterte Masse“ seien, die
sich „eher als neue Projektfläche politischer Ressentiments und
sozialer Resignation“ eignet. (Castel/Dörre, S. 200) Sie seien
Grenzgänger der veränderten Arbeitswelt. Die verunsicherte Mitte
würde sich dagegen um ihre Statussicherheit sorgen. Gerade
Abstiegsängste und Unsicherheiten gebündelt mit Gefühlen der
Machtlosigkeit sind Nährboden für den Rechtspopulismus. In einem
Kapitel zum Rechtspopulismus in Österreich wird insbesondere auf
die „Tüchtigen und Anständigen“ eingegangen, die das Gefühl
haben, das ihre Leistungen nicht ausreichend belohnt werden. Ihr
„Gerechtigkeitsgefühl“ scheint verletzt und sie fühlen sich nur
noch als Spielball. Dabei betonen die Autoren, dass das
„Arbeitsleid“ eine große Bedeutung hätte. Es würde nicht mehr
wertgeschätzt, dass sie, die „Anständigen“ Opfer bringen und
loyal seien. Ihre angestaute Wut richten sie gegen
„Sozialschmarotzer“ und „Ausländer, die uns ausnützen“.
Wie leben nun die „Ausländer“, die Armen in der
Dritten Welt. Das soziale Elend ist unvorstellbar.
Die Armut
konzentriert sich immer mehr in den Städten, vor allem der
Dritten Welt. Die Urbanisierung der Dritten Welt erreicht
Höchstgeschwindigkeit. Besonders diskutiert werden die
Megastädte mit mehr als 8 Millionen Einwohnern und die
Hyperstädte mit mehr als 20 Millionen Einwohnern. In Asien
werden bis 2025 zehn oder elf Ballungsgebiete entstehen, in
Bombay rechnet man mit 33 Millionen Einwohnern, wobei man nicht
weiß, ob diese Armutskonzentration dann überhaupt
überlebensfähig sei. 35 indische Städte haben inzwischen die
Millionengrenze überschritten. Es wird gewarnt, dass man bald
keine Städte, sondern nur noch Slums hätte. Im Buch „Planet der
Slums“ von Mike Davis wird diese Schreckensvision aufgestellt.
Nach eingeschränkten Schätzungen gab es 2001 921 Millionen
Slumbewohner, 2005 mehr als eine Milliarde. Bombay ist die
globale Hauptstadt der Slums, gefolgt von Mexiko- Stadt und
Dhaka. „Es gibt wahrscheinlich mehr als 200 000 Slums auf der
Erde, deren jeweilige Bevölkerungszahl von ein paar hundert bis
zu mehr als einer Million reicht.“ (Davis, S.30) Die größten
Megaslums sind Nezal/ Chalco/ Izta in Mexiko-Stadt (4 Mio),
Libertador in Caracas (2,2 Mio) und El Sur/Ciudad Bolivar in
Bogota (2 Mio). Die meisten Pflasterbewohner hat Bombay, das
sind meistens „einfache Arbeiter..., die durch ihre Arbeit
gezwungen sind, im sonst unbezahlbaren Herz der Metropole zu
leben.“ (Davis, S. 40) Oftmals müssen Bürgersteigbewohner Geld
an die Polizei oder Verbrechersyndikate bezahlen. Slums
entstehen oft durch Besetzungen, heute meistens auf
minderwertigem städtischen Grund, z.B. an stinkenden
Uferböschungen von stark verschmutzten Flüssen. In Slums gibt es
aber auch viele Untervermietungen, Mieter sind oft die
machtlosesten Slumbewohner. Immobilienmärkte haben inzwischen
die Slums zurückerobert, aus der Armut wird Profit gemacht. Mike
Davis schreibt: „In erster Linie sind die Stadtrandgebiete der
Dritten Welt aber ein Müllabladeplatz für Menschen. In manchen
Fällen landen der städtische Müll und unerwünschte Zuwanderer
sogar am selben Ort...“ (Davis, S.50) Ein weiteres Problem ist
die Bevölkerungsverdichtung, so müssen sich in den bustees von
Kalkutta durchschnittlich 13,4 Menschen in jedes bewohnte Zimmer
drängen. „Die Ungleichheit in den Städten der Dritten Welt ist
sogar aus dem Weltraum zu sehen: Satellitenbilder von Nairobi
zeigen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf nur 18
Prozent des Stadtgebietes lebt. Das weist natürlich auf
kolossale Unterschiede der Bevölkerungsdichte hin.“ (Davis, S.
103) Die Armen in den Slums sind nicht nur eingezwängt, sie
werden auch oft gewaltsam geräumt. Die städtischen Armen sind
daher Nomaden. „Die urbane Segregation ist kein starrer Zustand,
sondern ein endloser sozialer Krieg...“ (Davis, S.105) Slums
werden gesäubert, wenn in den Städten Großereignisse anstehen
oder wegen der Verbrechensbekämpfung, die dann als Begründung
herhalten muß. Zudem sind die Slumbewohner von Naturkatastrophen
bedroht. „Da sich heute weltweit die Mehrheit der städtischen
Bevölkerung auf aktiven Rändern tektonischer Platten oder in
deren Nähe konzentriert, besonders in den Küstengebieten des
Indischen und Pazifischen Ozeans, sind mehrere Millionen
Menschen von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Tsunamis und
Sturmfluten oder Taifunen bedroht."“(Davis, S. 134) Mike Davis
stellt folgende Formel auf: Umweltrisiko = Gefährdung (das ist
die Häufigkeit und Großenordnung des Naturereignisses) x
Aktivposten (das ist die Anzahl der gefährdeten Bevölkerung und
Unterkünfte) x Anfälligkeit (das ist die physische
Beschaffenheit der Bebauung). „Die Informelle Urbanisierung hat
überall die naturgegebene Gefährdung der städtischen Umwelt-
manchmal um das Zehnfache oder mehr- vervielfacht.“ (Davis,
S.132) Die Slums werden weder durch öffentliche Maßnahmen
gesichert, noch gibt es Versicherungen. Slums sind zudem
feuergefährliche Milieus. Slums sind oft lebensgefährlich, sie
befinden sich neben Chemieanlagen, Pipelines und Raffinerien,
die Straßen sind verstopft. „Mehr als eine Million Menschen-
zwei Drittel von ihnen Fußgänger, Radfahrer und Fahrgäste-
sterben jedes Jahr bei Verkehrsunfällen in der Dritten Welt.
‘Menschen, die niemals in ihrem Leben ein Auto besitzen werden’
berichtet ein Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation, ‘sind
am meisten gefährdet.’“ (Davis, S. 140) So nennt man in Lagos
Busse „fliegende Särge“ und „rollende Leichenschauhäuser“. Die
Luftverschmutzung ist alptraumhaft, ein Wissenschaftszentrum in
Dehli warnt vor „tödlichen Gaskammern“. Und die Slums dringen
auch in Naturschutzgebiete, durch die Urbanisierung wurden viele
landwirtschaftliche Anbauflächen zerstört. Das Abwasser
vergiftet zudem die Trinkwasserquellen. Aber das Schlimmste an
allem ist das Leben im Unrat. Mike Davis beschreibt, wie die
Slumbewohner buchstäblich in der Scheiße leben. „Die heutigen
armen Megastädte- Nairobi, Lagos, Bombay, Dhaka usw.- sind
stinkende Kotberge...Die intime Nähe zum Müll anderer Menschen
ist in der Tat das Spiegelbild einer tiefgreifenden sozialen
Spaltung.“ (Davis, S.145) Kinshasa mit 10 Millionen Einwohnern
hat überhaupt kein Abwasserkanalisationssystem, in einem Slum in
Nairobi gab es 1998 zehn Latrinengruben für 40 000 Menschen, in
Mathare 4A gab es zwei Toiletten für 28 000 Einwohner. Die
Bewohner bedienten sich daher „fliegender Toilletten“, sie
verrichteten ihre Notdurft in Plastiktüten und warfen sie weg.
In Indien müssen ca. 700 Millionen Menschen ihren Darm im Freien
entleeren. 9 von 22 untersuchten indischen Slums hatten keine
Latrine, in zehn weiteren gab es 19 Latrinen für 102 000
Menschen. Gerade für Frauen ist das ein Problem, denn sie sollen
sich an strenge Sitten halten, dabei haben sie keine Möglichkeit
zur Körperhygiene. Oftmals müssen sie warten, bis es dunkel
wird, und dann können sie nur in Gruppen gehen. Die mangelnde
Hygiene und Trinkwasserverschmutzung führen oft zu Krankheiten,
die vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern zum Tode führen.
Auch Cholera, Ruhr, Malaria, Typhus, Hepatitis u.a. wüten oft in
Slums. Wasser ist inzwischen zum lukrativen Geschäft in der
Dritten Welt geworden, denn sauberes Wasser wäre die billigste
Medizin. Arme zahlen mehr für Wasser. In Afrika ist Aids das
größte Problem, 25 Millionen Menschen südlich der Sahara sind
infiziert. Statt Hilfe zu bekommen, müssen die Länder der
Dritten Welt ihre Schulden an die Wohlstandsstaaten abbezahlen.
Bis 2030 oder 2040 soll es zwei Milliarden Slumbewohner geben.
Allerdings sind nicht nur die Slumbewohner das Problem, bis 2020
sollen weltweit 45 bis 50% der städtischen Bevölkerung arm sein.
Die urbane Armut schreitet voran. Und auch die
Einkommensunterschiede in den Städten. So zum Beispiel in
Moskau, dort gibt es wahrscheinlich mehr Millionäre als in New
York, aber auch eine Million Squatter. Millionen arme russische
Stadtbewohner leiden unter unerträglichen Zuständen. In Sofia
gibt es mittlerweile den schlimmsten Slum in Europa, dort wohnen
35 000 Roma. Mike Davis schreibt, dass „Städte zum
Müllabladeplatz für eine überschüssige Bevölkerung ungelernter,
unterbezahlter und entgarantierter Arbeitskräfte im informellen
Dienstleistungsgewerbe und Handel geworden (sind)...Insgesamt
zählt die globale informelle Arbeiterklasse etwa eine Milliarde
Menschen (sie überschneidet sich mit der Slumbevölkerung, deckt
sich aber nicht mit ihr), damit ist sie die am schnellsten
wachsende soziale Klasse der Welt und historisch ohne Beispiel.“
(Davis, S.183ff.) Die Armutsbevölkerung in den Slums sei in der
gegenwärtigen internationalen Ökonomie heimatlos. Sie sei zum
Unternehmertum in der informellen Ökonomie gezwungen. Es warte
eine Reservearmee von Überflüssigen darauf, in den Arbeitsprozeß
integriert zu werden, was aber auf Dauer nicht geschieht. „Ende
der 1990er Jahre gab es eine Milliarde arbeitsloser oder
unterbeschäftigter Arbeiter, die meisten davon im Süden...(es
gibt) auf offizieller Seite keinerlei Vorstellungen, wie diese
gewaltige Masse an überschüssiger Arbeitskraft wieder in den
allgemeinen Lauf der Weltwirtschaft eingegliedert werden kann.“
(Davis, S. 208) Die Slumbevölkerung wachse weltweit jährlich um
25 Millionen. Mike Davis Fazit: „Die Zukunft der menschlichen
Solidarität wird tatsächlich von der entschlossenen Weigerung
der neuen städtischen Armen abhängen, ihre endgültige
Marginalisierung innerhalb des globalen Kapitalismus zu
akzeptieren...Während das Imperium über ein Orwell`sches Arsenal
an Repressionstechnologien verfügt, haben die Geächteten die
Götter des Chaos auf ihrer Seite“ (Davis, S.210ff.) Jede/r
sollte dieses Buch gelesen haben, auch um unseren
Privilegiertenstatus zu begreifen. Wir alle leben auf Kosten der
Dritten Welt.
Die soziale
Verunsicherung und die damit verbundenen Ängste auch in
Deutschland führen zur Politikverdrossenheit.
Die Legitimationskrise der Demokratie
Die
Entmündigung der Bürger in der parlamentarischen Demokratie
schreitet voran. Viele sehen keine Möglichkeit mehr, sich ins
politische Geschehen einzubringen. Häufig führt das zu
Sprachlosigkeit. Die Demokratie steckt in der Krise.
Der Bürger:
Die Bürger
spielen in der heutigen Demokratie eine passive Rolle. Die
Politiker interessieren sich nicht für die wirkliche Beteiligung
der Bürger, sondern nur für die Wahlbeteiligung,. Entscheidend
ist das Wahlkreuz, die parlamentarische Demokratie reduziert
sich so auf das Abhalten von Wahlen, darin erschöpft sich die
politische Partizipation. Dabei nimmt die Wahlbeteiligung mit
dem Sozialstatus in der Regel zu. Die meisten Nichtwähler gäbe
es bei Menschen mit geringem Bildungsstand, wie nach Iris Huth
alle empirischen Studien belegen. Wechselwähler seien dagegen
vor allem im neuen Mittelstand zu finden. Ein Protestwähler kann
sogar ein ansonsten bürgerlicher Stammwähler sein, der damit
seine Enttäuschung über seine Partei ausdrückt. Enttäuscht sind
auch Menschen, die aus Parteien austreten.
Die Wirtschaft:
Die Macht der
Wirtschaftseliten ist riesig, denn den Regierungen geht es vor
allem um ökonomischen Erfolg. Der Staat wird zum
Selbstbedienungsladen der Wirtschaftslobby. Die Eliten wissen
auch, wie man Menschen steuert und manipuliert, das sie genau
das wählen. Per Wahl haben die Bürger der Deregulierung und
Privatisierung zugestimmt, von der sie dann betroffen waren.
Die Medien:
Die Medien,
die zumeist nur von wenigen Reichen kontrolliert werden, spielen
in dem „Meinungsbildungsprozeß“ eine wichtige Rolle, dabei sind
sie eigentlich die wichtigste Ressource für das Funktionieren
der Demokratie. Den Bürgern und Konsumenten der Medien geht
verloren, was private und was öffentliche Interessen sind. Sie
verwechseln die Interessen der Wirtschaftseliten mit denen einer
demokratischen Gesellschaft. Nach der Devise: Wenn es der
Wirtschaft gut geht, geht es auch mir gut.
Die Politik:
Die Politik
kümmert sich um die Interessen von Wirtschaftsführern. Sie
übernimmt deren Programm: Showbusiness und Marketing.
Entscheidend wird die perfekte Präsentation. Entsprechend sehen
die Statements der Politiker aus, aalglat, nichts sagend,
ausgefeilt. Politiker werden zu Produktverkäufern, die ihr
Programm vermarkten und manipulative Techniken anwenden. Die
Politik ist heutzutage höchstgradig personalisiert. Die Sprache
der Politiker soll wie in der Werbung Bilder hervorrufen und
nicht zum selbständigen Denken anregen.
Das führt zur Politikverdrossenheit:
Die Apathie
der Bürger beunruhigt einerseits die Politiker, die Politiker
wollen aber auch nicht, dass Bürger sich in oppositionellen
Gruppen, wie den sozialen Bewegungen, engagieren. Dabei könnten
gerade die sozialen Bewegungen zu einer Demokratisierung
beitragen. Iris Huth benennt in ihrem Buch „Politische
Verdrossenheit“ mehrere Symptome für dieses Phänomen:
„ Die
Mitgliedschaft in Parteien, Verbänden und Organisationen
schmilzt.
Die Wahlbeteiligung sinkt stetig...
Der Stammwähleranteil reduziert sich beständig.
Der Anteil der Wechsel- und Protestwähler wird größer.
Die Zahl der politischen Skandale nimmt zu.
Die Entfremdung von Jugendlichen zur Politik steigt an.
Das Vertrauen in die Parteien und Politiker schwindet...
Die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten erschwert sich.
Der Rechtsextremismus verschärft sich...“ (Huth, S. 24)
In Zeiten der
Politikverdrossenheit entfremden sich Bevölkerung und politische
Klasse zusehens. Die Parteien erscheinen als „politischer
Einheitsbrei“. Apathie und „Ohne-Mich-Haltung“ der Menschen
nehmen zu.
Demokratieverdrossenheit:
Aber nicht nur
das Vertrauen in Politiker bei der Bevölkerung nimmt ab, sondern
auch das Vertrauen in die Demokratie. Die Demokratie in den
kapitalistischen Ländern wird von vielen als sozial ungerecht
empfunden, und die Menschen sind auch mit ihrer persönlichen
Lage unzufrieden. Die politischen Eliten
werden abgelehnt. Das heißt, es gibt eine
Demokratieverdrossenheit. So bejahten 1997 nur noch 33 Prozent
der Ostdeutschen die Frage „ob die bundesdeutsche Demokratie die
beste Staatsform sei“, 1990-1992 waren es noch 41 Prozent.
Lobbyismus
Misstrauisch
macht die Bürger auch der Lobbyismus. „Sozial ist, was Arbeit
schafft.“ war der bekannteste Slogan der Initiative Neue
Soziale Marktwirtschaft. Damit versuchte die Initiative
Politiker und das Meinungsklima in der Gesellschaft zu
beeinflussen. Die Bevölkerung soll den Reformen zustimmen, wie
sie mit der Hartz IV-Reform begonnen wurden. Die INSM will
Politik mitgestalten, daher machen sie auch
Öffentlichkeitsarbeit. Sie wissen, wie man gezielt Informationen
einsetzt oder blockiert. Da die Medien auch zunehmend PR
aufnehmen, inszenieren sie Kampagnen und produzieren Bilder, um
die Deutungsmacht zu gewinnen. Für ihre Kampagnen setzen sie
Politiker wie Oswald Metzger oder auch Fußballmanager wie Ulli
Hoeneß ein. Medien übernahmen PR-Berichte der INSM und
kooperierten, wie die Financial Times Deutscland oder das
Handelsblatt. Lobbying vermittelt normalerweise oft den Eindruck
einer heimlichen Macht, es vollzieht sich außerhalb der
Öffentlichkeit. Nach Thomas Leif und Rudolf Speth vollzieht sich
Lobbying vor allem in den drei ersten Phasen des
Politikprozesses. Zuerst wird das Problem definiert, das Thema
wird in die politische Agenda aufgenommen und schließlich wird
ein politisches Programm formuliert. Der dritte Punkt ist der
intensivste beim Lobbying. Ein Autobauer, der zum Beispiel will,
das seine neue Technik zwingend in die Straßenverkehrsordnung
geschrieben wird, muß das Vorhaben erst zum Thema machen und die
Politiker überzeugen, dass sie als Gesetzgeber tätig werden. In
der dritten Phase versuchen dann Lobbyisten, bereits den
Referentenentwurf für ein Gesetzesvorhaben zu beeinflussen.
Oftmals sind dabei „Formulierungshilfen“ willkommen. Lobbyisten
müssen „geräuschlos“ und so früh wie möglich arbeiten. Daher
sind sie auch ständig an engen Kontakten zu Referenten bemüht.
Es gibt aber auch Lobbyisten, die im Parlament sitzen und zum
Beispiel auf den Gehaltslisten der Wirtschaft stehen.
Instrumente
der Lobbyisten sind die Sammlung, Aufbereitung und Weitergabe
von Informationen, die Kontaktpflege und die Bildung von
Allianzen (Interessenkoalitionen). Lobbyisten verfolgen
politische Prozesse und analysieren diese. Medien inszenieren
Spitzentreffen, es werden parlamentarische Abende und Anhörungen
veranstaltet. Instrumente z.B. von Wirtschaftsverbänden sind
aber auch PR-Kampagnen/ Werbung und Wahlkampfunterstützung und
Spenden.
In Berlin sind
ca.1760 Lobbygruppen offiziell registriert, es gibt rund 4500
Interessenvertreter. So ist die Pharmaindustrie eine Lobbymacht
im Gesundheitswesen, z.B. nimmt sie Einfluß auf die Neuzulassung
von Arzneimitteln. Auch die Ärzte versucht sie, in ihrem
Verschreibungsverhalten zu beeinflussen.
Politiker
werden nach Ablauf ihres Mandates gerne Lobbyisten, sie kennen
sich aus in diesem Geschäft. Thomas Leif und Rudolf Speth
schreiben: „ Lobbyismus ist eine Macht ohne Legitimation: eine
Macht, die die Öffentlichkeit scheut, die gezielt intransparent
vorgeht.“ (Reif/Speth, S. 352)
Korruption
Ein
Graubereich ist die Korruption, sie ist ein weltweites
gravierendes Problem, auch in Deutschland. So werden z.B.
Bestechungsgelder gezahlt, um Aufträge zu bekommen. (z.B. Bau)
Korruption gibt es vor allem im Bereich Bau, Steine, Erde, im
Speditionswesen, in der Abfallwirtschaft, in der
Immobilienbranche, in der Pharmaindustrie.
Wolfgang
Hetzer schreibt: „Wirtschaftsunternehmen haben sich in
Hochburgen krimineller Machenschaften verwandelt, in denen
Handlungsmuster der Organisierten Kriminalität alltägliche
Geschäftspraxis geworden sind.“ ( APuZ, 3-4/2009, S.7) In vielen
Ländern hätten sich Verknüpfungen zwischen Politik, Wirtschaft,
Justiz, Polizei und Armee gebildet, die „die Leistungskraft
konventioneller krimineller Vereinigungen oft überschreiten“.
(APuZ, 3-4/2009, S. 8) Korrumpierungsrisiken gebe es besonders
bei der Gesetzgebung aufgrund von Inkompetenz der Politik, ein
Beispiel sei das deutsche Investmentmodernisierungsgesetz, das
von den Profiteuren des Gesetzes formuliert wurde. „In einer
Welt, in der materieller Wohlstand Lebenssinn geworden ist und
zwischen Arbeit und Einkommen kein nachvollziehbarer
Zusammenhang mehr besteht, ist Korruption allgegenwärtig.“
(APuZ, 3-4/2009, S. 12) Tanja Rabl hat die empirische Forschung
zur Korruption ausgewertet und beschreibt die Täter wie folgt:
meistens Männer, „gesellschaftliche Aufsteiger und erfahrene
Leistungsträger“, „nicht vorbestraft und zeigt keine
abweichenden Wertvorstellungen“, aufgrund der hohen
Fachkompetenz wird ihnen viel Vertrauen entgegengebracht. „Sie
sind ehrgeizig und karriereorientiert und verfügen über Macht-
und Entscheidungsbefugnisse in ihrer beruflichen Position.“ Der
Lebensstandard ist hoch. „Korrupte Akteure ähneln dabei stark
‘normalen’ erfolgreichen Managern.“ (APuZ, 3-4/2009, S. 27)
In den Medien
werden desöfteren Korruptionsskandale aufgedeckt, wie auch bei
Politikern, erinnert sei an die Spendengeldaffäre des ehemaligen
Bundeskanzlers Helmut Kohl.
Oftmals
empfinden die Menschen, dass Politiker den Staat wie einen
Selbstbedienungsladen ausnutzen. Sie legen schwarze Kassen für
die Parteienfinanzierung an. Berichte über Korruptionsskandale
reißen nicht ab. Die Politiker sichern sich ihre Pfründe auch
jenseits des Politikerlebens. Schröder wanderte gleich zu
Gasprom ab, Clement zu RWE, Schily zur Biometric System AG, die
die Software zur Iris-Erkennung entwickeln...Und auch als
Politiker sorgen sie dafür, dass es ihnen gut geht, erhöhen sich
selbst ihre Diäten, haben viele
lukrative
Nebentätigkeiten, die natürlich nicht angerechnet werden, und
haben das 35-fache der Rente eines/r normalen ArbeitnehmerIn,
natürlich ohne je einen Cent eingezahlt zu haben.
Nicht nur das
Sichern der Pfründe, sondern auch das Machtgerangel der
Politiker nervt viele Menschen. Der Beruf des Politikers hat
einen schlechten Ruf.
Forderung: Soziale Gleichheit
Demokratie
erfordert soziale Gleichheit, damit es allen möglich ist, auf
politische Entscheidungen einzuwirken. So war die Macht der
Wirtschaftslobby so groß, dass nicht einmal die massenhaften
Straßenproteste der Betroffenen Hartz IV aufhalten konnten. Ziel
war vor allem, mit Hartz IV auch zur Senkung der Löhne
beizutragen, da damit eine willige Arbeitskräftearmee zur
Verfügung stand und sich die Angst der noch Arbeitenden vor dem
sozialen Abstieg verstärkte. Kennzeichen dieser Art von
Demokratie ist auch, dass die Existenz von Privilegien und
sozialer Ungleichheit geleugnet wird. Dabei wären die Probleme
in der Arbeitswelt eigentlich die Dringendsten, die gelöst
werden müßten. Die Wirtschaft hat damit allerdings keine
Probleme, daher steht das auch nicht auf der politischen Agenda,
außer gelegentlich in der Diskussion um den Mindestlohn.
Ein Problem
für die Gesellschaft ist in Deutschland die Überalterung und im
globalen Maßstab die Bevölkerungsexpansion.
Die Bevölkerungskrise
In dem Buch
„Und mehret euch?“ wird eine Regel aufgestellt, im Weltmaßstab
bedeuten höhere Einkommen weniger Nachkommen, niedrige Einkommen
viele Nachkommen.
Es leben
gegenwärtig 6,4 Millionen Menschen auf der Erde, davon 17% in
Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen.
Aufgrund
mangelnder Altersversorgung und Knappheit von Ressourcen bahnt
sich eine Krise an. In zwanzig Jahren wird das Verhältnis der
Bevölkerung der Länder der Dritten Welt und der hochentwickelten
Länder 7:1 betragen. Claus D. Kernig schreibt: „Die Reichen im
Norden werden: weniger, älter und noch reicher, und die Armen im
Süden werden: mehr, jünger und noch ärmer.“ (Kernig, S.12)
Wobei er hierbei die soziale Spaltung innerhalb der Länder
übersieht.
Die Überalterung der „reichen“ Länder:
Etwa 1/3 der
Weltbevölkerung überaltert, da es an Nachwuchs fehlt. In
Deutschland gehen zwischen 2025 bis 2034 die Baby-Boomer ins
Rentenalter. Damit wird es eine massive Vergreisung der
Gesellschaft geben, die Rentenkassen werden dem Ansturm nicht
gewachsen sein. Die EU wird zum gigantischen Altersheim. In der
USA sieht es aufgrund der Zuwanderung besser aus.
Bevölkerungsexplosion:
In den Ländern
mit mittlerem bis niedrigen Pro-Kopf-Einkommen wird das
Verhältnis immer ungünstiger, da es immer mehr Alte gibt,
andererseits aber auch viele Kinder, die versorgt werden müssen.
Sinkende Sterberaten und hohe Geburtenraten führen zu einer
Bevölkerungsexplosion. So wird die Bevölkerung Indonesiens bis
zum Jahr 2050 auf 340 Millionen erhöhen. In China leben derzeit
1,4 Mrd. Menschen, in Indien etwas mehr als 1 Mrd., in
Indonesien 250 Millionen, in Brasilien 250 Millionen etc. In
diesen Ländern nähern sich einige Zentren dem Westen an, während
das Hinterland noch wenig entwickelt ist. Die US-Amerikaner (5%
der Weltbevölkerung) verbrauchen 30% des
Weltbruttosozialprodukts, die Chinesen (20% der Weltbevölkerung)
dagegen nur 4%.
Verelendung in Afrika:
In den
unterentwickelten Ländern, vor allem in Afrika, gibt es einen
auffallenden Kinderreichtum. Die durchschnittliche
Lebenserwartung ist geringer, denn Armut und Unterernährung
bilden ein Gegengewicht zu medizinischen Fortschritten. Mit
einem Kinderreichtum und einer geringen durchschnittlichen
Lebenserwartung weist die Bevölkerungsentwicklung in Afrika
südlich der Sahara eine Eifelturmform aus. Die Unterernährung
und Aids tragen dazu bei, dass die Lebenserwartung so gering
ist. Das Bevölkerungswachstum ist enorm und die Jugendlichen
drängen in die Städte. Die Hälfte der Stadtbewohner sind unter
19 Jahre alt. In Schwarzafrika sind 28 Millionen von Aids
betroffen, 17 Millionen sind bereits gestorben. In Botswana sind
40 Prozent infiziert, in Südafrika 20 Prozent. Eine arme
Bevölkerung und wohlhabende Herrscher kennzeichnen
Schwarzafrika.
Verslumung der Dritten Welt
In vielen
Ländern der Dritten Welt gibt es einen großen Anteil von
erwerbsfähigen Menschen mit hohem Jugendanteil. Zum zentralen
Problem wird dabei die Fürsorge für die vielen Nachkommen. Die
Menschen suchen daher ihr Glück in den Städten. So entstehen in
den Städten immer mehr Slums. In Lateinamerika leben 32 Prozent
aller Stadtbewohner in Slums, auf dem indischen Subkontinent
sind es 59 Prozent und in Afrika südlich der Sahara 72 Prozent.
Weder die Besitztümer noch die Arbeitsleistungen der
Slumbewohner werden zur Kenntnis genommen. So werden die
Behausungen nicht als Unterpfand für kleine Kredite anerkannt.
Auch ihre Arbeit in der Schattenwirtschaft wird rechtlich nicht
gewürdigt, obwohl sie zum Funktionieren der Gesellschaft
wesentlich beiträgt. Ein Beispiel für eine Bevölkerungsexpansion
ist Mexiko. Bis 2050 wird es sich um die Hälfte seiner heutigen
Bevölkerung vergrößern. Die größte Verstädterung findet in
Lateinamerika statt, sie liegt dort bei 75 Prozent.
China und Indien:
Die
Metropolisierung ist auch in China gigantisch. In China gibt es
zwar kaum Slums, aber die Lebensverhältnisse der hundert
Millionen Wanderarbeiter sind erbärmlich. Durch die
Ein-Kind-Politik und Unterdrückung des Nachwuchses ist China
eine überalternde Gesellschaft. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen
(2003= 1100 US-Dollar) ist noch sehr gering. 20 Prozent der
Weltbevölkerung verfügen damit über 4 Prozent des
Weltbruttosozialprodukts. Die USA verfügen mit 5 Prozent der
Weltbevölkerung über 29 Prozent. Indien wird im Jahre 2050 mit
1,6 Milliarden Einwohner der bevölkerungsreichste Staat der Erde
sein, dabei kann die Wirtschaftsdynamik mit der
Bevölkerungsdynamik noch nicht Schritt halten.
Sonderfall Arabischer Raum:
Während Israel
überaltert, wissen die Palästinenser nicht, wie sie ihre vielen
Kinder und Jugendlichen betreuen sollen. Auch im arabischen Raum
gilt: "Niedrige Einkommen= viele Nachkommen". Die Ausnahme der
Regel sind allerdings Saudi-Arabien und die Emirate. Die Öl
fördernden Emirate im Nahen Osten gehören zu den reichsten
Staaten der Welt. Bei hohen Einkommen haben sie auch eine hohe
Fortpflanzungsrate.
Die wachsende
Bevölkerung ist auch ein Grund für die Ernährungskrise.
Die Ernährungskrise
Die
Nahrungsmittelkrise ist eng mit der Ölkrise (Düngemittelpreise)
und der Finanzkrise (Spekulation) verknüpft. Seit Mitte 2005
sind die Preise für Nahrungsmittel laut Weltbank um mehr als 80%
gestiegen. Für viele Menschen wurden Nahrungsmittel unbezahlbar.
Was sind die Ursachen?
Da ist
zunächst die Agrarpolitik.
Wenige Länder
produzieren in großem Umfang für den Weltmarkt (Mais- USA,
Argentinien, Brasilien- 88%), (Reis Thailand, Vietnam, USA,
Pakistan, Indien- 83%) so kontrollieren vier Konzerne den
Weltgetreidemarkt. Die große Mehrheit der Länder ist von
Nahrungsmittelimporten abhängig.
Dabei hat die
Liberalisierung und Deregulierung viele Entwicklungsländer von
Nahrungsmittelimporten abhängig gemacht (2/3 der
Entwicklungsländer sind Netto- Nahrungsmittelimporteure 105 von
148). „Vielen Entwicklungsländern ist ihre Abhängigkeit vom
Weltmarkt zum Verhängnis geworden. Jahrzehntelang wurde ihnen
weisgemacht, dass die Öffnung ihrer Märkte, der Import von
billigen Nahrungsmitteln und die Fokussierung auf die Produktion
einiger weniger Exportprodukte der richtige Weg sei. Aber dieser
Weg führte, wie die Erfahrung zeigt, in die Hungerkrise.“ (APuZ,
6-7/2009, S.17)
Viele Probleme
haben ihren Ursprung in der IWF- und Weltbank-Politik; z.B.
konnte sich Haiti vor 20 Jahren noch selbst mit Reis versorgen,
erst als der IWF und die Weltbank 1995 Haiti zwangen, den
Reiszoll von 50% auf 3% zu senken und Haiti mit Reis aus den USA
überschwemmt wurde, brach die Reisproduktion in Haiti zusammen.
Heute importiert Haiti 80% des Reis. 80% der Menschen auf dem
Land leben unter der Armutsgrenze, insbesondere die Reisbauern.
Der Premierminister mußte im April 2008 wegen der
Ernährungskrise zurücktreten. Aber immer noch werden vom IWF und
Weltbank Privatisierung und Liberalisierung zur Auflage für die
Kreditvergabe gemacht.
Zum Beispiel
Mexiko: es wurde Anfang 2007 mit der „Tortilla-Krise“ zum
Vorboten der Ernährungskrise; auch hier war IWF und Weltbank mit
Strukturanpassungsmaßnahmen beteiligt. Das staatliche
Unterstützungssystem wurde abgebaut, das machte den Weg frei für
wenige Agrarkonzerne. Mit dem NAFTA-Abkommen 1994 wurde der
Liberalisierung des Maissektors zugestimmt, subventionierter
Mais überschwemmte Mexiko, die Preise fielen und die Kleinbauern
wurden vom Markt verdrängt. Mexiko wurde zum Netto-Importeur von
Mais.
Die
Agrarsubventionen in den Industrieländern führten zu einem
massivem Ausbau der landwirtschaftlichen Produktion. Das
Überangebot führte wiederum zu niedrigen Preisen und für die
Kleinbauern zu niedrigen Einkommen. Im Frühjahr 2008 fielen die
Preise wegen guter Ernten und dem Abzug des spekulativen
Kapitals aus den Rohstoffmärkten.
Weitere Ursachen der Ernährungskrise sind:
Zunächst der
Bevölkerungszuwachs. Bis 2050 wird die Weltbevölkerung auf 9
Mrd. anwachsen.
Dann die
Bodenknappheit. Gegenwärtig stehen 5 Mrd. Hektar zur Verfügung,
jedes Jahr gehen 10 Mill. wegen der Intensivierung verloren,
auch durch Versteppung, Versiegelung und Wüstenbildung.
Ein weiteres
Problem ist die Wasserknappheit. 70% des globalen
Süßwasserverbrauches gehen auf das Konto der Landwirtschaft;
oftmals muß man schon 100 m nach Wasser bohren.
Natürlich ist
eine wichtige Ursache der Klimawandel, dieser begünstigt die
Produktion in den Ländern des Nordens und erschwert sie in
Entwicklungsländern. Das führt zum Rückgang der biologischen
Vielfalt.
Eine Ursache
sind auch die Biotreibstoffe. 10% des Mais wird zu Treibstoffen
verarbeitet, in den USA sind es 30%. Der hohe Ölpreis führt
dazu, dass Biotreibstoffe konkurrenzfähig werden, die
Biotreibstoffe verbrauchen immer mehr Anbaufläche, da sie zu
einer Intensivierung der Bewirtschaftung führen. So sollen in
Indonesien bis zum Jahre 2020 20 Mill. ha für die
Palmölproduktion genutzt werden. In Brasilien wird der Sojaanbau
ausgeweitet, was z.B. zur Regenwaldrodung führt.
Natürlich sind
es auch die Hungerlöhne und miserable Arbeitsbedingungen, damit
können die Arbeiter in den Entwicklungsländern kaum noch ihre
Ernährung bezahlen.
„Das
Wohlergehen armer Arbeiterinnen und Arbeiter hängt sehr stark
vom Einkommen und von den Preisen ab. Heute gibt es 550
Millionen Menschen auf der Welt, die arbeiten, aber trotzdem mit
weniger als einem Dollar am Tag auskommen müssen...Die
Preisexplosion trifft insbesondere arme Arbeiterinnen und
Arbeiter, die 60-70% ihres Einkommens für Nahrungsmittel
aufwenden.“ (APuZ, 6-7/2009, S.20)
Und es sind
auf der anderen Seite auch Wohlstandszuwächse der asiatischen
Schwellenländer. Damit ändern sich auch die
Ernährungsgewohnheiten, in China wird heute 5x mehr Fleisch
verzehrt als 1980.
Was sind nun die Auswirkungen?
Es steigen die
Nahrungsmittelpreise. Während in Deutschland nur 10% des
Einkommens für Nahrungsmittel ausgegeben wird, bei Hartz
IV-Beziehern sieht das anders aus, gibt eine Familie in
Bagladesch 80% des Einkommens aus. Ca.3 Mrd. Menschen haben zwar
genug Kalorien, sie leiden aber an einem Mangel an Proteinen,
Eisen, Jod und Vitaminen.
Die Anzahl der
hungernden Menschen steigt an. Vor der jüngsten Preisexplosion
wurden die Hungernden auf 860 Millionen geschätzt, mit der
Preisexplosion waren es ca. 70-100 Millionen mehr. Hunger hat
ein ländliches Gesicht; 50% sind Kleinbauern, 22% Landlose, 8%
leben von der Fischerei- und Waldwirtschaft (UN-Angaben). Die
450 Millionen LandarbeiterInnen (20-30% Frauen) gehören zu den
Ärmsten im ländlichen Raum.
Was könnten nun Wege aus der Krise sein?
In den
Entwicklungsländern müssen die Probleme der Landarbeiter im
Mittelpunkt stehen, ihre Arbeitsrechte müssen beachtet werden.
Sie müssen als Zulieferer fair behandelt werden.
Kleinbauern
sind Preisschwankungen schutzlos ausgeliefert, sie wurden vom
Markt gedrängt. Dabei müssen 400 Millionen Kleinbauern der Welt
gestärkt werden; sie brauchen einen besseren Zugang zu den
Märkten und eine Absatzgarantie zu fairen Preisen. Kleinbauern,
die ihr eigenes Saatgut verwenden, erhalten und fördern die
biologische Vielfalt. Daher sind Landreformen notwendig. Frauen
spielen eine tragende Rolle in der Nahrungsmittelproduktion,
ihre Position muß aufgewertet werden, es müssen neue
Verdienstmöglichkeiten geschaffen werden.
In den
Industrieländern muß ein Umdenken erfolgen, es ist ein Wandel
zur ökologischen Landwirtschaft notwendig. Die intensive
Bewirtschaftung mit Dünger, Pestiziden und zu viel Wasser
zerstört ihre Grundlagen, der ökologischer Landbau will dagegen
die Bodenfruchtbarkeit langfristig erhalten.
Insgesamt muß
die lokale Nahrungsmittelproduktion absolute Priorität haben.
Die
Ernährungskrise hängt natürlich eng mit dem Klimawandel
zusammen.
Der Klimawandel und die Folgen
Die globale
Erwärmung der Erde ist eine Tatsache, sie ist vor allem auf den
Anstieg der Treibhausgaskonzentration (insbesondere Anstieg CO²)
zurück zu führen. Die Folgen des Klimawandels sind vielfältig:
Berggletscher, die Antarktis und Arktis schmelzen ab, der
Meeresspiegel steigt an, Meeresströmungen ändern sich. Es kommt
zu Wetterextremen wie Stürmen (z.B. Hurrikan Katrina),
Überschwemmungen (wie die Oderflut) oder Dürren. Das Ganze hat
Auswirkungen auf die Artenvielfalt (Biodiversität), auf die
Landwirtschaft und Ernäherungssicherheit. Es breiten sich zudem
verstärkt Krankheiten aus.
„Die
Klimaerwärmung, ein Ergebnis des unstillbaren Hungers nach
fossiler Energie in den frühindustrialisierten Ländern, trifft
die ärmsten Regionen der Welt am härtesten; eine bittere Ironie,
die jeder Erwartung Hohn spricht, dass das Leben gerecht sei.“,
Harald Welzer im Buch „Klimakriege“. (Welzer, S. 10) Die
Klimaerwärmung vertieft die globalen Ungleichheiten. Die
Verursacherländer haben die größten Chancen, Nutzen daraus zu
ziehen. In den armen Ländern dagegen finden immer mehr Menschen
immer weniger Grundlagen, um ihr Überleben zu sichern.
Lösungsansätze
gegen den Klimawandel sind oftmals, dass auf der Verhaltensebene
der Menschen angesetzt wird, das Problem wird also
individualisiert. Harald Welzer plädiert aber dafür, das Problem
des Klimawandels als kulturelle Frage zu behandeln. Wie will man
eigentlich in Zukunft leben. Es geht nicht um Verzicht, sondern
um Engagement.
Der
Klimawandel führt zu Ressourcenkriegen, zu Überzeugungskriegen
und zur Massenmigration. Und zu Klassenkonflikten, weil der
Klimawandel auch zu sozialen Problemen führt, dazu an anderer
Stelle.
Klimakriege
finden dort statt, wo Entstaatlichung und private Gewaltmärkte
Normalzustand sind. Deshalb ist auch anarchistische Staatskritik
in der heutigen Zeit zu überdenken. Denn solche Gesellschaften
ohne staatliche Strukturen sind kein Reich der Glückseligkeit.
Die Folgen des Klimawandels schränken Überlebenschancen ein und
verstärken die Probleme. Mit der einsetzenden Massenmigration
aufgrund des Klimawandels wird die Sicherheitspolitik in den
reichen Ländern verschärft. Der Terrorismus wird durch die
klimabedingte Ungleichheit legitimiert. Auch das ruft eine
verstärkte Sicherheitspolitik hervor. In den armen Ländern
entstehen Gewaltkonflikte und soziale Konflikte.
1) Ressourcenkriege
In Afrika
breiten sich mit den Dürren die Wüsten aus, damit gibt es Kämpfe
um fruchtbaren Boden und Weideland. Extreme Wetterereignisse
werden auch in reichen Ländern zu sozialen Katastrophen, wie zum
Beispiel New Orleans in den USA gezeigt hat. Mit dem Anstieg der
Meere, aufgrund des Abschmelzens der Meere, werden zum Beispiel
Inseln unbewohnbar. Auch die Inselbewohner suchen dann nach
neuen Orten, in denen sie leben können. Asien hat sowohl mit
Wasserknappheit als auch mit Überschwemmungen zu kämpfen. In
Australien wirkt sich das Ganze zum Beispiel in der
Artenvielfalt aus. In Dafur gab es den ersten Klimakrieg, es war
ein Konflikt zwischen sesshaften Bauern und viehzüchtenden
Nomaden. Aufgrund der Dürre waren Weideflächen nicht mehr
nutzbar. Hungernde Menschen zogen durchs Land. Konflikte, die
ökologische Ursachen hatten wurde hier als ethische
wahrgenommen, hier zwischen den afrikanischen Bauern und den
arabischen Nomaden. Landverluste sind in armen Ländern
katastrophal, der Überlebensraum wird eingeschränkt. Auch
Ernteausfälle können nicht kompensiert werden. Das Verschwinden
von Ressourcen führt zur Gewalt. Aber gerade auch dort, wo
Ressourcen vorhanden sind, werden arme Länder für die
Ausplünderung attraktiv. Man nennt das den „Fluch der
Rohstoffe“. Dazu mehr im Abschnitt zum Kampf um die Rohstoffe.
2006 gab es 35 schwerwiegende Gewaltkonflikte einschließlich
sechs Kriegen. Terroristen verüben oft Anschläge auf Pipelines
und Raffinerien. Auch die Gewaltkonflikte um das Wasser und
anderen existentiellen Rohstoffen werden zunehmen. In der Arktis
und Antarktis werden gigantische Rohstoffvorkommen vermutet, mit
dem Abschmelzen der Eismassen wird es auch dort zu Konflikten
kommen.
Exkurs: Der Kampf um die Rohstoffe
Auch hier
bannt sich eine Krise an. Am Bekanntesten ist hier wohl der
Kampf um das Erdöl, Irak hat riesige Rohstoffreserven. Auch der
Iran besitzt riesige Erdöl- und Ergasfelder. Der Präsident
Mahmud Ahmadinedschad sagte: „Der Westen braucht uns mehr, als
wir den Westen brauchen.“ Den 200 000 Staatsbürgern Katars
geht’s bestens, denn das Land besitzt riesige Vorkommen an
Erdgas. Die USA hat hier ihre größte Militärbasis am Persischen
Golf. Öl und Gas gehen also bestens. Und so arbeiten zum
Beispiel alle erdölproduzierenden Länder dicht am Förderlimit,
aber die Zeit des billigen Erdöls und Erdgases ist bald vorbei,
denn diese fossilen Rohstoffe stehen begrenzt zur Verfügung. Die
bekannten Reserven beim Öl reichen noch schätzungsweise 40
Jahre, wenn der Konsum so bleibt. Dabei nimmt der Bedarf bei
Schwellenländern wie China und Indien aber rasant zu. Indien
boomt, 70% des Öl- und 50% des Gasbedarfs importiert das Land.
China verursachte im Jahre 2004 36% des weltweiten Wachstums
beim Erdölverbrauchs. Erich Follath schreibt: „Es gibt
Schätzungen, dass sich die Zahl der chinesischen Pkw, Motorräder
und Mopeds in den nächsten 15 Jahren verfünffachen wird- und der
Energieverbrauch in dieser Zeit dementsprechend auch. Im
Weltmaßstab sind die Frauen und Männer im Reich der Mitte immer
noch sehr bescheiden. Würde ein Chinese im Durchschnitt so
verschwenderisch leben wie ein US-Amerikaner, würde sich sein
Konsum verdreizehnfachen. Die Volksrepublik brauchte alle 24
Stunden über
90 Millionen
Barrel Erdöl- mehr als die jetzige Tagesproduktion der ganzen
Welt.“ (Follath/Jung, S. 30) Das alles unbeachtet, wird es nach
2015 bis 2020 einen Rückgang der Förderung geben, das schwarze
Gold wird also knapp. Bei Erdgas werden die bekannten Reserven
wohl in 60 Jahren erschöpft sein. Vorkommen gibt es vor allem in
den instabilen Gegenden Iran, Quatar und Rußland. Erdgas hat bei
der Energieversorgung an Bedeutung gewonnen. Politisch bedingte
Engpässe sind zu erahnen. Russland nutzt Gasprom als politisches
Instrument. Erich Follath schreibt: „Alle großen Staaten haben
heute erkannt: Erdöl und Erdgas sind von existentieller
strategischer Bedeutung. Sie sind der Treibstoff der kommenden
Konflikte. Deshalb stecken die Mächtigen der Welt überall dort,
wo überlebenswichtige Rohstoffreserven liegen, mit Waffengewalt
oder aggressiver Diplomatie ihre Claims ab. Zu beobachten war
das große Hauen und Stechen auch wieder beim G-8-Gipfel in St.
Petersburg Mitte Juli 2006, wo Gastgeber Wladimir Putin keinen
Hehl daraus machte, dass ‘Rußland danach streben muss, die
Weltführung in Sachen Energie zu übernehmen’“. (Follath/Jung, S.
26) Die Energiepolitik ist das Fundament der Politik Putins.
Insgesamt wird es wohl auch auf eine Konfrontation zwischen den
USA und China in Sachen Energie hinauslaufen. (Zur
Hegemonie-Krise später.)
Rohstoffe wie
Erdöl, Gas und Uran sind weltwirtschaftlich entscheidende
Faktoren geworden. Inzwischen hat Ressourcen-Sicherheit die
politische Priorität Nr.1. Die Besitzer der Rohstoffe werden
umworben. Auch wenn Busch und Chavez sich gegenseitig
beschimpften, die USA
sind
Hauptabnehmer des Öls aus Venezuela, das Geschäft läuft
reibungslos. Venezuela gehört zu den führenden
Energielieferanten der USA und Chavez ist auf die
Milliardengewinne angewiesen. Gerade die staatliche
Erdölproduktion ist es, die Chavez Macht verleiht. Mit dem Geld
unterstützt er nicht nur die Armen im eigenen Land, sondern auch
andere linksgerichtete Staaten in Lateinamerika, die zum
Beispiel die Ölproduktion verstaatlichen. Der Wind von links aus
Lateinamerika bläst der USA ins Gesicht. Ein Lieferstopp des Öls
aus Venezuela würde die Benzinpreise in den USA erheblich
verteuern und zur Unruhe führen. So sind die USA und Venezuela
voneinander abhängig.
Die einzige
Erdöl- Supermacht ist Saudi-Arabien. Dort liegen 22% der
bekannten Weltreserven. Es ist ein Staat im Umbruch, die
Sicherheitsindustrie wächst am meisten, denn die Besitztümer der
Erdöl-Reichen und die Raffenerien müssen beschützt werden.
Islamischer Fundamentalismus ist dort Staatsdoktrin, und niemand
der Erdölabnehmer aus der westlichen Welt stört es. Denn es
herrscht Versorgungsangst und ein Rohstoff-Nationalismus. Die
Verbraucherländer werden abhängiger.
Öl und Gas
sind politische Rohstoffe. Aber Rohstoffe sind für die Länder,
die sie besitzen, auch ein Fluch. Im Buch „Der neue kalte Krieg“
heißt es: „Wo ein Land von Bodenschätzen lebt, da sind oft
autoritäre Regime an der Macht, die die Menschenrechte
missachten und Minderheiten unterdrücken. Da ist die
Kindersterblichkeit besonders hoch- im Kongo zum Beispiel liegt
sie im östlichen Teil bei 41 Prozent- und die Lebenserwartung
besonders
niedrig. Da
sind Korruption und Vetternwirtschaft allgegenwärtig. Da wird
kaum ein Cent investiert, jedenfalls nicht in Straßen, Schulen
und Krankenhäusern, sondern höchstens in Waffen. Die
Militärausgaben verschlingen in den Opec-Staaten fast ein
Fünftel des Staatshaushalts. Für Schüler und Studenten geben die
Mitglieder des Ölkartells hingegen nur halb soviel aus wie der
Rest der Welt im Durchschnitt...Es ist ein fataler Mechanismus:
Die Rohstoffe sind wertvoll, deshalb sind sie umkämpft. Dieser
Kampf aber ist nur zu führen, weil er durch die Erlöse aus den
Bodenschätzen finanziert wird. Und da die Ressourcen eine schier
unerschöpfliche Geldquelle darstellen, zieht sich der Konflikt
dahin, über Jahre und Jahrzehnte.“ (Follath/Jung, S. 72) Der
Weltbank-Ökonom Collier meint, Rohstoffe seien der bedeutsamste
Risikofaktor für einen Bürgerkrieg. Kennzeichen in diesen
Ländern ist oftmals auch, dass die breite Masse arm bleibt. In
Russland ist zum Beispiel durch den Öl- und Gasboom nur eine
kleine staatstreue Clique steinreich geworden. Mit weniger als
200 Euro im Monat müssen 70 Prozent der Russen auskommen, 27
Prozent sogar mit weniger als 100. „Good Governance“ sei die
Voraussetzung , so im Buch „Kampf um Rohstoffe“, für „breiten“
Wohlstand in Ländern, die rohstoffreich sind. So ist in Norwegen
das Lebensniveau der Masse ziemlich hoch. Oftmals fehlt aber der
Druck, sich zu verändern, da die Einnahmen durch die Rohstoffe
fließen.
Inzwischen ist
auch die Kohle bei den Rohstoffen wieder auf dem Vormarsch, so
deckt China 70 Prozent seines Energiebedarfes mit Kohle. China
giert nach Energie und ist nach den USA
zweitgrößter Verursacher von Treibhausgasen. Wieland Wagner
schreibt: „Doch so verzweifelt die Chinesen in ihrem Riesenreich
nach Energieträgern schürfen- sie werden immer abhängiger vom
Import. Pekings außenpolitische Strategie wird daher zunehmend
von der globalen Suche nach Rohstoffen geleitet.“ (Follath/
Jung, S. 107)
Australien ist
zum Beispiel großer Gewinner des Rohstoffbooms, weil es China
die Grundstoffe für das Wirtschaftswunder liefert. Mit dem
ökonomischen Aufstieg Chinas wächst auch die Wirtschaft in
Australien. Die Chinesen beliefern wiederum mit den billigen
Produkten, die sie aus den australischen Metallen hergestellt
haben. Außerdem will China bis 2020 viermal mehr Atomenergie
erzeugen, ist also auch auf der Suche nach Uran. Der Run aus
China, ein Fünftel der Menschheit, auf die Rohstoffe ist
gewaltig. Alexander Jung schreibt: „ ...der China-Faktor hat das
Gesicht der gesamten Rohstoffbranche verändert: Nur noch eine
Handvoll Unternehmen bestimmen das globale Geschäft. Wohl keine
andere Industrie hat in den vergangenen Jahren einen solch
tiefgreifenden Strukturwandel erlebt.“ (Follath/Jung, S.196)
Der
Rohstoffhunger von China und Indien wurde auch die Quelle der
Spekulation. Denn was immer man benutzt, es ist aus einem
Rohstoff.
Auch die
Natur-Ressourcen sind umkämpft. Brasilien, Thailand, Australien
sind klassische Zuckerrohrländer. Das Zuckerrohr wächst rasend,
es läßt sich leicht pflanzen und kann bis zu
acht Monaten im Jahr geerntet werden. Für die Ernte steht
zum Beispiel in Brasilien eine riesige Niedriglohnarmee zur
Verfügung. Und es stehen unendliche Flächen zur Verfügung. Damit
kann die deutsche Zuckerrübe nicht konkurrieren, Zucker wurde
lange subventioniert. Der deutsche Bauer ist der EU zu teuer, am
liebsten würde man ihn in den Ruhestand schicken. Aber was wird
dann aus den Flächen? „Darüber denken Sie nach, in Brüssel, im
Stab der Agrarkommission: Man müsse den Bauern abgewöhnen, Rüben
und Getreide zu pflanzen. Man müsste sie allmählich umschulen,
zu einer Art Landschaftspfleger, die Landschaft würde zu einem
Freizeitpark, zu einer Bühne, auf der die Bauern sich selbst
darstellen und wo der für den Export schuftende Deutsche am
Wochenende Romantik tankt.“ (Follath/Jung, S. 249)
Auch
Kaffeeproduzenten hoffen auf China. Je mehr es sich
verwestlicht, desto mehr Kaffee würde getrunken. Der Tageslohn
eines Kaffeepflückers in Kenia beträgt im Durchschnitt ungefähr
2 Euro. Da lohnt sich das Geschäft.
Auch Wasser
wird zum Geschäft. Denn in vielen Regionen der Welt wird Wasser
knapp. Mindestens 6000 Menschen sterben täglich, weil sie nur
dreckiges oder nicht genug Wasser zum Leben haben. 40 Prozent
der Weltbevölkerung haben keinerlei sanitäre Grundversorgung.
Auf täglich 500 bis 800 Liter schätzen dagegen Experten den
Pro-Kopf- Wasserverbrauch in den reichen Industrieländern.
Riesige Mengen werden in der
Landwirtschaft
verbraucht, in künstlich bewässerten Anbaugebieten, die
hochsubventioniert sind.
Immer mehr
wird in Zukunftsenergien investiert, hier eröffnet sich ein
riesiger Markt, so für die Biotreibstoffe. Denn die 800
Millionen Kraftfahrzeuge sind der größte Erdölverbraucher der
Welt, und Erdöl steht nur endlich zur Verfügung. Es wird riesige
Plantagen für Autofutter geben, was wiederum die Ernährungskrise
forciert.
Die
Rohstoffnachfrage nach Rohstoffen wird immer größer, selbst der
Abbau von Steinkohle boomt wieder. Der Weltmarkt für Steinkohle
wird wachsen. Die Kohle, zweitwichtigster Energieträger, steht
noch hundert Jahre zur Verfügung. Bei Erdöl, der wichtigste
Energieträger, wird es noch 10-15 Jahre eine uneingeschränkte
Versorgung geben, danach ist mit einer Deckungslücke zu rechnen.
Deshalb ist es bereits heute notwendig nach Alternativen zum
Erdöl zu suchen. Erdgas, drittwichtigster Energieträger, wird
noch bis über die Mitte dieses Jahrhunderts ausreichen. Uran
steht noch für die nächsten Jahrzehnte zur Verfügung. Zur Zeit
wird mehr verbraucht, als gefördert. Wie sich die Bewohner in
Hundert Jahre mit Energie versorgen werden, entscheiden
Zukunftstechnologien, die fossilen Brennstoffe neigen sich
jedenfalls dem Ende zu. Vorbote der Verknappung sind
Preisansteige. Aber auch andere Gründe sind entscheidend, wie
der Run Chinas auf Energieträger und alle Rohstoffe. Zudem sind
die Lieferregionen oftmals politisch instabil. Russland wird
seine Bedeutung als
Rohstofflieferant weiter ausspielen. Die Bedeutung der
Energiepolitik wird weiter wachsen und der Kampf um die
Rohstoffe wird sich forcieren.
2) Überzeugungskriege
Harald Welzer
schreibt, dass Terror ein soziales Phänomen sei. Bis 2006 wurden
350 Selbstmordattentate in 24 Ländern der Welt verübt. Viele
islamische Terroristen sind Studenten oder Migrantenkinder in
westlichen Ländern und keine sozialen Außenseiter. Sie nehmen
auch aufgrund der Bildung die gefühlte Ausgrenzung intensiver
wahr. Oftmals haben sie in ihren Gruppen ein Elitebewußtsein.
Der Islamische Fundamentalismus ist auch eine Antwort auf die
Modernisierung. Der Klimawandel kann diesbezüglich ein Anlaß für
Gewalt sein.
Exkurs: Islamismus und Terrorismus
Auch bei
Bin-Laden-Anhängern spielt der Glaube eine entscheidende Rolle.
Islamisten wollen eine Gesellschaft, die vollständig durch den
Islam bestimmt ist. Militante Islamisten führen einen
bewaffneten Kampf gegen Ungläubige. Radikale Islamisten deuten
das gesamte Weltgeschehen religiös. Dschihadisten wollen eine
weltweite Durchsetzung des Islam. Sie glauben, angegriffen
worden zu sein und sehen sich als Opfer. Sie führen nach ihrer
Interpretation einen Abwehrkrieg. Selbstmordattentäter seien
Märtyrer. Islamisten hegen eine Abneigung gegen das religiöse
Establishment, dadurch unterscheiden sie sich von der Mehrheit
der Muslime. Al-Quaida wurde auf den Schlachtfeldern von
Afghanistan gegen die sowjetische Invasion 1979 geboren. Sie
wollten den Kampf internationalisieren. Inzwischen hat al-Quaida
eine neue Gestalt angenommen. Yassin Musharabash schreibt, dass
„...drei Trends...ins Auge (fallen)...eine Professionalisierung
in Analyse und Zielauswahl; eine parallel ablaufende
Dezentralisierung und Regionalisierung; sowie eine weitgehende
Öffnung gegenüber den Sympathisanten.“ (Musharabash, S.54) Der
Terror findet dort statt, wo die Terroristen leben.
Hauptsächlich richten sich die Anschläge gegen Angehörige
westlicher Staaten, vor allem gegen westliche Touristen in
islamischen Staaten. Die neue al-Quaida sei weniger hierarchisch
als die Urorganisation. Al-Quaida machen ihre Schriften im
Internet bekannt, die Sympathisanten sollen selbst aktiv werden.
Yassin Musharbash unterscheidet drei Generationen: „Als ‘erste
Generation’ werden gemeinhin die in Afghanistan ausgebildeten
und ideologisierten al-Quaida-Kader bezeichnet. Die ‘zweite
Generation’ bilden jene viel schneller ideologisierten
Terroristen, die zuschlagen, ohne je länger oder überhaupt in
Afghanistan gewesen zu sein, und in arabischen oder islamischen
Staaten aufgewachsen sind. Die ‘dritte Generation’ wiederum
bezeichnet einen weiteren neuen Typus, der im Westen
aufgewachsen ist und noch rascher al-Quaidas Ideologie
übernimmt.“ (Musharbash, S.90) Islamisten nutzen das Internet,
damit westliche Technologie, für ihre Zwecke. Im Internet wird
die al-Quaida- Ideologie verbreitet, Leser sollen zu Aktivisten
werden. Für viele junge Muslime spielt Osama Bin Laden die Rolle
eines Popstars. Gerade im arabischen Raum haben gut ausgebildete
junge Menschen kaum Einstiegs- und Aufstiegschancen. Die Kinder
der Moderne sehnen sich nach Siegertypen so heißt es im Buch
„Die neue al-Quaida“.
Durch die
Migration zieht auch der Islam in Europa ein, dabei kommt es
immer wieder zu einer öffentlichen Beunruhigung. Der Islam steht
in der Öffentlichkeit unter Fundamentalismusverdacht.
Die Massenmigration
In der
globalisierten Welt überqueren nicht nur Waren-, Informations-
und Kapitalströme die Grenzen, sondern auch Migrationsströme.
Sie sind die sichtbarste Auswirkung der Globalisierung. Zwar
sind Westeuropa und vor allem die USA (also die Industrieländer
des Westens) meistens Ziel der Migranten, aber tatsächlich haben
die armen Länder die Hauptlast der Flüchtlingsbetreuung zu
tragen.
Migration hat
verschiedene Formen, z.B. die Arbeitsmigration, die
Kettenwanderungen durch Familienzusammenführung und die illegale
Einwanderung. Die Globalisierung mobilisiert immer mehr
Menschen, gleichzeitig versuchen die Staaten, die Einwanderung
zu begrenzen, ihre Asylpolitik wird immer restriktiver. Nur bei
hochqualifizierten Arbeitskräften wird eine Ausnahme gemacht.
Allerdings ist nur einem Bruchteil der Weltbevölkerung Migration
möglich, denn die Ärmsten haben dafür keine Ressourcen. Die
meisten wandern in den Fußstapfen anderer, also von Freunden und
Angehörigen, in einem Netzwerk. MigratInnen werden als
Bedrohungspotential präsentiert, gerade dadurch werden auch
„einheimische“ Deklassierte erreicht.
Nach dem
Mauerfall 1989 wurde von 1990 bis 1993 in der Öffentlichkeit
von einer „Überflutung“ gesprochen. Es gab 1990: 193 063
Asylanträge, 1991: 256 112, 1992: 438 191 und 1993: 322 599. Es
kamen immer mehr Menschen aus Osteuropa, nach 1989 kam die
politisch motivierte Bevorzugung der Osteuropäer ins Wanken. Die
Asylbewerber wurden in Sammellager eingewiesen, die
Freizügigkeit wurde eingeschränkt und sie wurden zum Nichtstun
gezwungen. Weil sie keine Arbeitserlaubnis hatten, mußten sie
Sozialhilfe beziehen und wurden dann als Schmarotzer und
„Wirtschaftsasylanten“ in der Öffentlichkeit präsentiert. In
dieser Stimmungslage wurden die Asylbewerber ab Dezember 1990 in
die neuen Bundesländer verteilt. In der DDR hatte es nur 1%
Migranten (meistens Vertragsarbeiter) gegeben. Ein Synonym für
Ausländerfeindlichkeit im Osten wurden Hoyerswerda
(17-22.9.1991) und Rostock-Lichtenhagen (23-27.8.1992). Schuld
daran war neben der zunehmenden Arbeitslosigkeit auch die
Asylkampagne 1990- 1993. Die These dieser Hetze war, dass es
sich bei den Asylbewerbern um Betrüger handelt, die vom
Sozialstaat angelockt werden. Sie würden hohe Kosten
verursachen.
Seit 1995 ist
das Schengener Abkommen in Kraft, das bedeutete einen Ausbau der
Festung Europa.
2005 startete
die Grenzschutzagentur FRONTEX (2005 bekamen sie 6 Millionen,
2009 130 Millionen finanzielle Unterstützung) . Es gibt 1792
offizielle Grenzposten. Jährlich gibt 300 Millionen
Grenzüberschreitungen; davon entfallen 160 Millionen auf
EU-Bürger, 60 Millionen auf Drittstaatenangehörige ohne und 80
Millionen mit Visumspflicht. Auf den Kanarischen Inseln landeten
2006 über 31 000 Migranten, an den Küsten Italiens 22 000.
Europa und die
USA sichern ihre Grenzen vor der Massenmigration. Europa hat mit
dem Schengener Abkommen 1995 die Grenzsicherung an die
Außenränder Europas verlegt. Die Drittstaatenregelung bewirkt,
dass Flüchtlinge aus Afrika, die es zum Beispiel nach
Deutschland geschafft haben, wieder nach Spanien abgeschoben
werden, wenn sie dort zuvor den Boden betreten hatten. Frontex
wurde eingerichtet, um die Grenzen noch schärfer zu schützen,
die Agentur kooperiert mit den Geheimdiensten der EU. Frontex
befragt zum Beispiel Flüchtlinge nach den Fluchtrouten. In den
USA ist die Wüste von Arizona der Brennpunkt illegaler
Einwanderung aus Mexiko. In Mexiko gibt es bereits 41
Abschiebegefängnisse, die von den USA finanziert werden. Der
Druck auf die Grenzen der Wohlstandsinseln Europa und
Nordamerika wird größer werden, denn der Klimawandel führt zu
Hunger, Kriegen, Verwüstungen und Wasserproblemen. Die
Überlebenschancen in den armen Ländern werden immer kleiner.
Europa schottet sich ab, um den Flüchtlingsstrom abzuwehren. Oft
wird versucht, bereits in Afrika den Aufbruch zu verhindern. Auf
die Herkunfts- aber auch Transitländer wird Druck ausgeübt. In
der EU und den Transitländern außerhalb der EU werden Auffang-
und Abschiebelager eingerichtet. Illegale, die kein Asyl
erhalten, werden abgeschoben.
Die
Auswirkungen des Klimawandels sind also immens. Was aber noch zu
erwarten ist, ist auch ein Konfrontation zwischen den
Weltmächten USA und China.
Die Krise der Hegemonie
Nach dem
Zusammenbruch des Ostblockes war die USA die führende Weltmacht.
Aufgrund der
Wirtschaftskraft ist aber nun China prädestiniert zur führenden
Weltmacht im 21.Jahrhundert zu werden. Daher sagen Experten
vorher, dass es zu Konfrontationen zwischen der USA und China
kommen könnte. Eine wirtschaftliche Auseinandersetzung ist schon
im Gange, allerdings militärisch ist China der USA noch nicht
gewachsen.
China und die
USA sind wirtschaftlich eng miteinander verwoben. Die Chinesen
finanzieren das Haushaltsdefizit und damit den Lebensstil der
Amerikaner, die sich hoch verschuldet haben, denn in den
vergangenen Jahren hat China US-Schatzbriefe von mehr als 500
Milliarden Dollar gekauft. Die USA sorgt wiederum für das
Wirtschaftswachstum in China, denn die Amerikaner kaufen die
chinesischen Produkte.
Seit 1979
begann China eine Marktwirtschaft aufzubauen, dazu wurden u.a.
Sonderwirtschaftzonen geschaffen. China sucht weltweit Märkte
für seine Produkte, so ist es zum Hersteller der Wal
Mart-Produkte geworden. Für ausländische Investoren sind der
chinesische Markt, das riesige Reservoir an billigen
Arbeitskräften (500-600 Mio.) und vorteilhafte Investitions- und
Steuerregelungen attraktiv. China nimmt als Produktionsstandort
die Spitzenposition ein. Gleichzeitig ist die Wirtschaft Chinas
nach außen orientiert, 1/3 der Produktion wird ausgeführt. 50
Prozent der chinesischen Ausfuhren stammen dabei von
Tochterfirmen ausländischer Unternehmen. Gleichzeitig importiert
China vor allem Rohstoffe. China ist der zweitgrößte Verbraucher
von Erdöl. Während für Clinton gute Beziehungen zu China
äußerste Priorität hatten, wollte Bush China eindämmen, dabei
kamen die Konservativen mit den Neoliberalen, die China als
Geschäftspartner schätzen, in Konflikt.
Obama mahnte,
China nicht zu dämonisieren. Er meinte aber auch, dass man auf
die militärische Entwicklung achten werde, der Aufstieg Chinas
solle friedlich sein.
Da die soziale
Situation in den beiden Ländern sehr dramatisch ist, möchte ich
an dieser Stelle darauf eingehen, um zu zeigen, was denn das für
Führungsmächte im 21. Jahrhundert sind.
China
Für die
chinesische Führung ist das Wirtschaftswachstum ihre
Legitimationsgrundlage. Aufgrund dessen steckt die Umwelt Chinas
schon jetzt in einer Krise. Mit der Einführung der
Marktwirtschaft und des Aktienmarktes beschritt China den
kapitalistischen Weg, das führte wiederum so sozialen
Spannungen. Qinglian He schreibt, dass mit der Etablierung eines
Bodenmarktes 1986 damit begonnen wurde, in den Entwicklungszonen
Grund und Boden unter den Machthabern der Verwaltungsebenen
aufzuteilen. Seit 2000 begann die „Einhegungsbewegung“ Häuser
abzureißen und ein Teil der Stadtbevölkerung umzusiedeln. Der
staatseigene Boden wurde aufgeteilt, dabei kooperierten
Regierungsbeamte und Immobilienhändler eng miteinander. Bauern
wurde das Land geraubt, von dem sie lebten. Städter, deren
Häuser abgerissen wurden, wurden so um ihren Besitz betrogen.
90% der Immobilienunternehmen würden massiv Steuern
hinterziehen, oftmals pressen sie auch noch aus den
Immobilienkäufern Geld heraus. Qinglian He resümiert: „Die
Tatsachen zeigen deutlich, dass die Immobilienbranche, die als
lukrativstes Gewerbe für Spekulationsgewinne eingestuft wird,
ein perfektes Beispiel für hochgradige Korruption ist, bei der
Immobilienerschließer, Regierungsbeamte und Bankmitarbeiter eng
kooperieren und gemeinsam das öffentliche Eigentum Chinas und
das Privateigentum der Bevölkerung ausplündern.“ (He, S. 92)
Ein weiterer
Schritt der chinesischen Regierung war die Reform der
staatseigenen Betriebe. Die Staatsbetriebe wurden zum beliebten
Jagdobjekt auf der Suche nach Profit. Seit Mitte der 1990er
Jahre wurden viele kleine und mittlere Staatsbetriebe in
Privateigentum umgewandelt. Das Staatsvermögen fließt in private
Taschen ab. Qinglian He beschreibt vier Formen der Korruption
der Kader: „1.Annahme und Verteilung von Bestechungsgeldern...2.
Die Praxis, öffentliche Gelder für private Unterhaltung, Essen
und Trinken auszugeben...3. Eine dritte Form der Korruption in
staatseigenen Unternehmen ist die unter Kadern weit verbreitete
Praxis, Verwandte und enge Freunde auf guten Posten
unterzubringen und so das Unternehmen in ein persönliches, auf
Vetternwirtschaft beruhendes ‘Königreich’ umzuwandeln...4.
Plünderung von Staatseigentum.“ (He, S. 123f.)
Seit den
1990er Jahren haben eine Reihe von Neureichen Reichtum
angehäuft, der nicht mit marktwirtschaftlichen Mitteln
entstanden ist, so He. Das haben sie vor allem durch
Beziehungsnetzwerke geschafft. 28,2 Prozent der Besitzer von
Privatunternehmen sind Funktionäre, 14,2 Prozent waren
Delegierte des Volkskongresses, 33,9 Prozent Mitglied der
Politischen Konsultativkonferenz Organisationen aller Ebenen.
55,3 Prozent der Besitzer der Privatunternehmen hoffen Mitglied
des Volkskongresses zu werden. Das Beziehungsnetzwerk dient oft
der Gründung von Fabriken, gemeinsamen Geschäften, dem Verkauf
von Produkten etc. Der Reichtum Chinas konzentriert sich in den
Händen weniger. Nutznießer sind die „Verwalter
gesellschaftlicher Ressourcen“, so im Grund- und Bodenamt; es
sind „Verantwortliche staatseigener Unternehmen“; es sind
„Mittelsleute mit der Fähigkeit, ihre Macht in Geld zu
verwandeln“, es sind „Mitarbeiter von Organisationen mit
chinesischem Kapital im Ausland sowie in Hongkong und Macao“, es
sind „Besitzer von Privatkapital, die günstige Gelegenheiten für
ihre Geschäfte ausgenutzt haben“. (He, S.176ff.) 70 Prozent der
Unternehmen auf Kreis- und Dorfebene würden eine „rote Mütze“
tragen.
Qinglian He
schreibt, dass ein Problem das niedrige Bildungsniveau vieler
Neureicher sei.
Ihr Reichtum
ist oftmals das Produkt eines bloßen Glückfalls, so bei den
Bauern um Shenzen, der Sonderwirtschaftszone. Chinas Neureiche
bedienen sich oft skrupelloser und krimineller Methoden, so He.
Die Aneignung öffentlichen Eigentums vertieft die soziale
Spaltung in China. 1995 veröffentlichte das Staatliche
Statistische Amt Zahlen, 7 Prozent der reichsten Familien
verfügten über 30,2 Prozent des gesamten Finanzkapitals in
China. Die ärmsten 38 Prozent besaßen 11,9 Prozent des gesamten
Vermögens. Auch die Chinesische Volksuniversität brachte 1995
Zahlen heraus, wonach die reichen 20 Prozent über 50,24 Prozent
des Einkommens verfügen und die ärmsten 20 Prozent nur über 4,27
Prozent. 2001 mußten 23 Millionen Menschen mit ca. 200 Yuan
auskommen, 14 Millionen mit weniger als 100 Yuan. Die
Armutbevöllkerung in China wächst ständig. Unzufriedenheit gibt
es in China vor allem über die Art und Weise, wie manche reich
geworden sind. Die Vermögensverteilung kommt durch den Einfluss
von Macht zustande, Korruption und Bestechlichkeit nehmen zu.
Wer Macht und gute Beziehen hatte, kam zu Wohlstand.
Auf der
Gegenseite des Reichtums steht die Flut von Wanderarbeitern,
viele sind Analphabeten. Für die städtische Bevölkerung sind die
Wanderarbeiter ein Problem, weil die Straftaten meistens auf
Wanderarbeiter zurückgehen, so He. Sehr verbreitet sind
Eigentumsdelikte. He schreibt, dass die Brutalität der
Straftaten von Leuten aus den Randgruppen etwas mit ihrer
Lebensweise zu tun haben. Ihre Familien leben in extremer Armut,
sie konnten keine Schule besuchen und keinen Beruf erlernen, so
werden sie an den Rand gedrängt. Seit 1996 wird der Zustrom von
Wanderarbeitern kontrolliert. Die Arbeitsbedingungen der
Wanderarbeiter sind katastrophal: „1. Hohe Arbeitsintensität und
lange Arbeitszeiten...2. Häufige Arbeitsunfälle mit
Verletzungen...3. Ein unsicheres Arbeitsumfeld und häufig
auftretende Berufskrankheiten...4. Häufige Lohnrückstände und
-veruntreuungen...5. Häufige Misshandlungen von Personen...“
(He, S. 305ff.)
Die
Mafia-Organisationen in den Städten rekrutieren ihre Mitglieder
aus dem Heer der Wanderarbeiter, sie werden die
„Drei-Ohne-Personen“ genannt, es gibt für sie keine Arbeit, sie
haben ein geringes Bildungsniveau und kaum noch moralische
Hemmungen. In den Dörfern herrschen wiederum Klans. Unterwelt
(der schwarze Weg) und Politik (der weiße Weg) arbeiten in China
oft zusammen. In China existieren drei Typen der
Untergrundwirtschaft: die Schattenwirtschaft wie Drogenhandel,
Herstellung gefälschter Produkte, Bestechlichkeit etc., die
undeklarierte Wirtschaft, die sich nicht nach Gesetzen und
politischen Vorgaben richten, und die statistisch nicht erfasste
Wirtschaft, die den Ämtern verborgen bleibt. Schwarzgeld kann in
China z.B. aus der „Blasenwirtschaft“ (Profite aus Aktien und
Grundbesitz) und Untergrundfabriken (Markenpiraterie) erzielt
werden. In China würde gespottet, dass dort die
„Fünf-Farben-Wirtschaft“ weit verbreitet sei:
„Schwarzwirtschaft- Deals zwischen Geld und Macht wie
Korruption und Bestechung.
Grauwirtschaft- Untergrundfabriken, die gefälschte
minderwertige Produkte herstellen und vertreiben.
Weißwirtschaft- Drogendelikte.
Gelbwirtschaft- Sexgewerbe.
Blauwirtschaft- Schmuggelgeschäfte (da der Schmuggel auf dem
Meer stattfindet...)“ (He, S.385)
Viele
Mafia-Bosse in China tragen die „rote Mütze“. Ihr Kapital ist
die Gewalt. So boomt in China der Drogenhandel. Die Mafia
gründet aber auch Betriebe, wie Inkasso-Firmen.
Funktionäre
wiederum nutzten ihre wichtigen Positionen in der Verwaltung und
sicherten sich den Zugang zum Markt. So konnten sie sich als
politische und wirtschaftliche Elite etablieren. Oftmals waren
es Familienbande und Insiderwissen, die sie zur ökonomischen
Elite machten. Zur Elite Chinas gehören ca. 7 Millionen
Menschen.
Je mehr
ausländisches Kapital in China investiert, desto geringer wird
der politische Druck. China ist ein riesiges Investitionsmarkt.
Und auch wenn es in China nach He nur 300 Millionen Menschen mit
Kaufkraft gibt, ist das immer noch gewaltig.
USA
Nach Loic
Wacquant markiert der autoritäre Staat die Grenze zwischen den
„würdigen“ und „unwürdigen“ Armen. Die Überzähligen werden
weggesperrt, bei den anderen wird die Disziplin der Lohnarbeit
durchgesetzt. In den USA werden soziale Probleme mittels
workfare und prisonfare unsichtbar gemacht. Die diffusen Ängste
aufgrund der sozialen Verunsicherung (Angst vor dem sozialen
Abstieg) und der Aushöhlung der Autoritätsverhältnisse werden
auf die Figur des Straßenkriminellen gelenkt. Der Blick wird auf
die besitz- und ehrlosen Bevölkerungsteile gerichtet.
Das große
Wegsperren in den USA hat eine Geschichte. Zunächst wurde das
Ende der Nachsicht ausgerufen, dann wurde eine Flut von Gesetzen
erlassen, dabei wurde auf einen Kathastrophendiskurs
zurückgegriffen. Die Repression wurde aufgewertet und die
angeblichen Urheber der „Gewalt in den Städten“ stigmatisiert.
Schließlich weitete man das polizeiliche Schleppnetz aus. 1975
gab es in den USA 380 000 Inhaftierte, 1990 waren es 1
Millionen, am 30.Juni 2000 schließlich 1.931.850. Nach Chicago
ist der Gefängniskomplex damit die viertgrößte Stadt der USA.
Innerhalb von 30 Jahren hat sich die Zahl der Gefängnisse
verdreifacht. Das US-amerikanische Gefängnissystem gliedert sich
in 3 300 Gefängnisse der Städte und Countys, (Die Insassen
warten auf den Prozeß oder müssen Reststrafen unter einem Jahr
absitzen), 1450 Gefängnisse der Bundesstaaten, davon 309
Hochsicherheitseinrichtungen (Das sind Strafen von mehr als
einem Jahr, sogenannte „felons“ Schwerverbrecher) und 125
Bundesgefängnisse (hauptsächlich Strafen wegen
Wirtschaftsverbrechen, Verstöße gegen Drogengesetz und
organisiertes Verbrechen).
Das
Gefängnisnetz in den USA ist sehr heterogen; einerseits gibt es
Isolation (23 Stunden am Tag im Stahlkäfig unter ständiger
elektronischer Überwachung und ohne Kontakt zu anderen Menschen-
in Hochsicherheitstrakten), andererseits überfüllte
heruntergekommene Gefängnisse. Es gibt auch Insassen in
Arbeitslagern, die einer regulären Arbeit nachgehen. Die
Gefängnislaufbahnen und Erfahrungen sind je nach Schicht
unterschiedlich, so sind Wirtschaftskriminelle oft im Offenen
Vollzug mit Komfort ausgestattet. Seit 1975 hat sich die
Inhaftierungsrate verfünffacht, 2000 waren es 702 Häftlinge auf
100 000 Einwohner, in Texas ist der Zuwachs am größten. Die
Inhaftierungsrate in den USA ist 6 bis 12x so hoch wie in
EU-Ländern. Die USA ist Weltspitzenreiter in Sachen
Inhaftierung, nur Russland lag 1999 knapp vor der USA. Das
US-amerikanische Gefängnissystem platzt aus allen Nähten.
Oftmals werden Tausende entlassen, um Platz zu schaffen. Jedes
5. Gefängnis hat einen Numerus clausus. Wacquant schreibt: „Die
Contygefängnisse, erstes Bollwerk gegen soziale Unruhen und Ort
des Eintritts in das Gefängnisnetz, sind zu riesigen Verwahr-
und Sortieranstalten für arme und prekäre Gruppen geworden, die
jedes Jahr Millionen von Körpern durch ihre Mühlen drehen- und
Milliarden von Dollar einsaugen.“ (Waquant, S. 138)
Los Angeles
hatte 1998 21 000 Insassen, New York 17.500. New York brachte
Inhaftierte in Lastkähnen unter, Los Angeles setzte Busse ein,
in Phoenix wurde in der Wüste ein Lager aus Armeezelten
errichtet. Viele bekennen sich schuldig, um nicht in die
Stadtgefängnisse zu kommen. Sie erhalten damit Strafmilderung-
entweder eine Bewährungsstrafe oder kommen in ein
Bundesstaatsgefängnis. Hauptfunktionen des Gefängnisses sind,
Schuldbekenntnisse zu erpressen. Es finden kaum noch
Gerichtsprozesse bei der Mehrheit der städtischen Armen statt.
Der Anstieg der Inhaftierung erfolgte in einer Zeit, da die
Kriminalität erst stagnierte und dann zurückging. Die
Tötungsdelikte waren gleich bleibend, bei Raubüberfällen
schwankte die Zahl. Bei schwerer Körperverletzung und
Eigentumsdelikten gingen die Zahlen zurück. Seit 1995 war bei
allen Delikten ein Abwärtstrend zu bemerken.
„Die
Vervierfachung der US-amerikanischen Häftlingspopulation ist
nicht durch eine Zunahme der Gewaltverbrechen zu erklären; sie
ist eine Folge der Ausdehnung der Haftstrafen auf eine Reihe von
Straßendelikten und -vergehen, für die früher keine Haftstrafen
verhängt wurden, insbesondere kleine Drogenvergehen und
Verhalten, das als Ordnungswidrigkeit oder Erregung öffentlichen
Ärgernisses bezeichnet wird; und sie ist eine Folge der
kontinuierlichen Strafverschärfung.“ (Waquant, S. 142f.)
Nur die
Wirtschaftsverbrechen und-vergehen werden mit Milde geahndet.
Bei Börsenspekulanten, die nachweislich betrogen hatten, kamen
nur 3% ins Gefängnis.
Die größte
Strenge lässt der Staat gegen kleine, durchschnittliche
Delinquenten walten, insbesondere bei den unteren Schichten des
Proletariats und den Schwarzen und Hispanics, insbesondere beim
schwarzen Subproletariat der Ghettos. Inhaftiert werden vor
allem nicht gewalttätige Delinquenten und Kleinstkriminelle.
(nicht gewalttätige Delikte 73% in Bundesstaatsgefängnissen und
94% in Bundesgefängnissen) Es geht um die Kontrolle des Unruhe
stiftenden „Straßenpöbels“. Die Zahl der Insassen wegen
Drogenvergehen stieg um 478% und bei Verstößen gegen die
öffentliche Ordnung um 187%; meistens sind es kleine,
undisziplinierte Täter, die zur Kriminalität gelangen, die
unfähig sind, dauerhaft im Erwerbsleben Fuß zu fassen. Es gab
eine Strafverschärfung bei kleineren Vergehen, bei der dritten
Verurteilung gibt es lebenslang („Three Strikes und You’re
Out“). 2000 waren 6,47 Millionen Menschen unter
strafrechtlicher Überwachung. 2 von 5 zu Bewährung Verurteilten
und 6 von 10 auf Bewährung Entlassenen, die 1997 aus dem Status
ausschieden, landeten wieder im Gefängnis. Es werden auch immer
mehr Menschen inhaftiert. Auch die Beobachtungsfunktion wurde
verstärkt. Es existieren 55 Millionen Kriminaldateien zu ca. 30
Millionen Personen, das sind fast 1/3 der erwachsenen männlichen
Bevölkerung. In Denver waren 2/3 der 12-bis 24jährigen
Afroamerikaner in der Datei, wobei Denver zu 80% aus Weißen
besteht. Diese Strafregister benutzen z.B. Arbeitgeber.
Entlassene haben es daher schwer, einen Job zu bekommen. Die
Bewährungshelfer studierten früher Sozialarbeit, heute werden
sie in Polizeitechniken ausgebildet und lernen den Umgang mit
Schußwaffen.
Der
Strafvollzugssektor expandierte; die Ausgaben stiegen unter
Clinton von 1,6 Mrd. US$ 1992 auf 3,4 Mird. US$ im Jahre 2000.
Inzwischen nimmt er 1/3 des Justizhaushaltes ein; die Ausgaben
für den Bau von Strafanstalten nahmen von 1979 -1989 um 612% zu.
Seit 1977 hat das kalifornische Parlament mehr als 1000 Gesetze
zur Strafverschärfung und -verlängerung beschlossen; die
Gewerkschaft der Aufseher ist der größte Geldgeber für den
Wahlkampf. Der Strafvollzug ist der drittgrößte Arbeitgeber der
USA, 1997 waren es 708 200 Beschäftigte (ohne Private
Einrichtungen und Jugendarrest), hinter Manpower und Wal Mart.
Die Zahl der Beschäftigten stieg 1997 auch bei den Gerichten
auf 950 000 und bei der Polizei auf 420 000. Der kalifornische
Strafvollzug hat 2x so viel Beschäftigte wie Microsoft weltweit.
Dagegen ging der Sozialhaushalt von 1976 bis 1989 um 41% zurück.
Als Reagan ins Weiße Haus kam, wurden für den sozialen
Wohnungsbau 27,4 Mrd. US$ und den Strafvollzug 6,9 Mrd. US$
ausgegeben, zehn Jahre später waren es 10,9 Mrd. für den
Wohnungsbau und 26,1 Mrd. für den Strafvollzug. Die USA sieht
die Armen lieber auf der Straße oder im Gefängnis. Die
Gefängnisse sind zum größten Sozialwohnungsprogramm des Landes
geworden. Das straforientierte Armutsmanagement ist in den USA
positiv besetzt, während die Wohlfahrt mit Unmoral behaftet ist.
Die Repression sei erfolgreich, im sozialen Bereich sei der
Staat machtlos. Allerdings ist das Wegsperren ein Faß ohne
Boden; ein Häftling kostet pro Jahr ca. 22000 $ (Ernährung und
medizinische Versorgung nicht eingerechnet). Die medizinische
Versorgung verschlingt viele Kosten (Tuberkulose, HIV,
Alterung). Wege zur Kostensenkung sind die Privatisierung: 1987
waren es 3100 Plätze, 1999 145 000 Plätze im Privatsektor. 7
Strafanstalten sind an der Börse notiert, diese 7 kontrollierten
1998 87% des kommerziellen Sektors. Ein Weg zur Kostensenkung
ist auch, die Kosten der Inhaftierung den Häftlingen oder ihren
Familien aufzubürden. Eine 3. Strategie ist die Absenkung des
Lebensstandards im Gefängnis, die Verschlechterung der
Dienstleistungen. Die 4. Strategie ist, die Häftlinge arbeiten
zu lassen und dann die Löhne abzuschöpfen. 2001 gab es in den
USA 2,1 Millionen Gefängnisinsassen, 6,5 Millionen waren
insgesamt von strafrechtlichen Überwachungsmaßnahmen betroffen.
Die gleichen
Leute, die einen Minimalstaat fordern, um den Markt
durchzusetzen, wollen einen Maximalstaat aufbauen, um die
„Sicherheit“ zu gewährleisten.
In den USA
kann man nicht von einem Wohlfahrtsstaat, sondern muß von einem
Almosenstaat sprechen. Das Leitprinzip staatlichen Handelns ist
Mitleid, nur die krasseste Not wird gelindert. Demgegenüber gibt
es Hilfen für die Mittel- und Oberschichten. Ein großer Teil der
Leistungen, die der Staat vergibt, wird von den Privilegierten
vereinnahmt. Die „64 Milliarden US$ Subventionen in Gestalt von
Steuerfreibeträgen für reiche Hausbesitzer stellten die
nationalen Ausgaben für Wohlfahrt (17 Milliarden US$),
Lebensmittelkarten (25 Milliarden US$) und Essenszuschüsse für
Kinder (7,5 Milliarden US$) weit in den Schatten.“ (Waquant,
S.62) Der Almosenstaat kürzte auch bei Versicherungsleistungen
(z.B. bei Erwerbsunfähigkeit), bei Wohngeld und bei öffentlichen
Dienstleistungen (z.B. beim Gesundheitswesen). 1994 war der
Anteil der Armen auf 40 Millionen (15% der Bevölkerung)
gestiegen. Die prekäre Lohnarbeit nahm rasant zu. „Heute ist
jeder dritte amerikanische Arbeitnehmer ein
Nicht-Standardlohnempfänger.“ (Waquant, S.74) Jeder, der eine
Stunde im Monat arbeitete, war laut Statistik beschäftigt. Auch
jeder Arbeitslose, der als „entmutigt“ galt, wurde aus der
Arbeitslosenstatistik herausgenommen. Drei von vier Amerikanern
haben selbst oder in ihrem Umfeld Erfahrungen mit Entlassungen.
41% der Entlassenen waren von 1980-95 nicht
arbeitslosenversichert, 2/3 mußten sich mit schlechter bezahlter
Arbeit abfinden. Die Frustration der Mittelschicht richtete sich
gegen den Staat und gegen die „unwürdigen“ Armen. „All das
führte schließlich zum Ausbruch der nationalen Hysterie über das
‘Wohlfahrtsproblem’, die dann in die Sozialhilfe’reform’ des
Jahres 1996 mündete...“ (Waquant, S.77)
Der Abbau des
Almosenstaates ging einher mit dem Ausbau des Strafrechtssaates
und seinen Disziplinierungsmaßnahmen. Damit sollte ein
Aufbegehren gegen die Marginalisierung und soziale Unsicherheit
verhindert werden.
Der Folgen der
vom Staat voran getriebenen Armut wurde auf zwei Weisen
begegnet:
„Umorganisation der Sozialbehörden in ein Instrument zur
Überwachung und Kontrolle“ der Gruppen, die sich der neuen
Ordnung nicht fügen. Es wurden Arbeitspflichtprogramme
(workfare) aufgelegt. Damit sollten die Armen unsichtbar gemacht
werden. Workfare diente auch als Warnung an die Lohnabhängigen.
Arme wurden „kulturell wie Kriminelle“ behandelt, „die gegen das
bürgerliche Gesetz der Lohnarbeit verstoßen haben“. (Waquant,
S.79)
„Die zweite
Komponente des straforientierten In-Schach-Haltens der Armen ist
der massive und systematische Rückgriff auf den
Freiheitsentzug.“ (Waquant, S.79) Loic Waquant schreibt, dass
das Gefängnis zum „physikalischen Aufbewahrungsort für
unerwünschte schwarze Körper“ wird. „Afroamerikaner stellten
1995 12% der Gesamtbevölkerung, aber 53% der Gefängnisinsassen“.
(Waquant, S. 80) Das schwarze Ghetto wird zum stigmatisierten
Ort, seine männlichen Bewohner weggesperrt. Der Gefängniskomplex
in den USA nahm industrielle Außmaße an, mit ihm entstand ein
kommerzieller Sektor der Gefängnisindustrie. Somit wurden
Inhaftierungen profitorientiert.
Ursache des
Aufstiegs des Strafrechtsstaat sind nicht der Anstieg der
Kriminalität, sondern die sozialen Verwerfungen, die durch den
Rückzug des Almosenstaates und die Zunahme prekärer Arbeit
verursacht sind.
Interessant ist dabei die soziale Struktur der
Gefängnisinsassen:
Sie kommen
insbesondere aus den „farbigen Familien des Subproletariats in
den segregierten, großen Städten“ (Waquant, S.88). 6 von 10
Insassen in County-Gefängnissen sind Schwarze (41%) und Latinos
(19%). 49% hatten eine Vollzeitstelle vor der Verhaftung, 15%
eine Teilzeit- oder Gelegenheitsarbeit, der Rest suchte Arbeit
(20%) oder war nicht aktiv (16%). Die Hälfte hatte keinen
Highschool-Abschluss, obwohl dafür keine Prüfung notwendig ist.
2/3 lebten in einem Haushalt unter 1000 US$ monatlich (45% unter
600 US$). Das ist weniger als die Hälfte der offiziellen
Armutsgrenze für eine dreiköpfige Familie, obwohl 2/3 Lohn
bezogen;. Sie schaffen es trotz Arbeit nicht, der Armut zu
entkommen. Kaum 14% erhielten vor der Inhaftierung staatliche
Unterstützung (Beihilfe für Alleinerziehende,
Lebensmittelmarken, Ernährungsbeihilfen für Kinder). 7% bekamen
Erwerbsunfähigkeits- und Altersrente, 3% Arbeitslosengeld. Damit
erhielten weniger als ¼ der Gefängnisinsassen staatliche
Unterstützung. Damit sind sie doppelt ausgegrenzt: aus fester
Lohnarbeit und staatlicher Unterstützung. Die illegale
Wirtschaft („kriminelle Ökonomie“) wird zur festen Einrichtung,
die Karrieren werden immer länger. Die Häftlingspopulation
altert (1996 war jeder 3. über 35). Es besteht ein Mangel an
sozialen Bindungen, nur 40% wuchsen mit beiden Eltern auf, 14%
verbrachten ihre Kindheit im Heim oder Waisenhaus. Fast die
Hälfte wuchs in Haushalten auf, die staatliche Unterstützung
erhielten; ¼ in Sozialwohnungsvierteln. Bei 30% war ein
Elternteil oder Vormund alkoholabhängig, bei 8% drogenabhängig.
Nur 16% waren verheiratet (58% der gleichaltrigen Männer in der
Gesamtbevölkerung sind das). Über die Hälfte hat oder hatte
einen nahen Verwandten im Gefängnis (30% einen Bruder, 16% den
Vater, 10% eine Schwester oder die Mutter). Jede dritte Frau und
jeder neunte Mann wurden in der Kindheit körperlich oder sexuell
mißbraucht, jede dritte Frau und 3% der Männer wurden
vergewaltigt. Bei Männern scheint diese Zahl viel höher zu sein,
da Vergewaltigungen im Gefängnis an der Tagesordnung sind. Über
die Hälfte der Männer war wegen der Folgen einer
Körperverletzung im Krankenhaus, 60% der Opfer von
Schießverletzungen hatten in der Kindheit Schießereien erlebt.
Eine andere Studie besagte, dass jeder Vierte schon einmal
schwer verletzt war. Interviews ergaben, dass 83% schon einmal
am Schauplatz einer Schießerei waren, bei 46% war ein
Familienmitglied mit einer Schußwaffe getötet worden. 40% litten
immer noch an den Folgen einer früheren Schußwunde. 37% gaben
an, dass sie unter körperlichen, psychischen oder emotionalen
Problemen leiden, die ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen.
Nicht nur das sie krank sind, wenn sie ins Gefängnis kommen, die
Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie im Gefängnis krank werden.
US-Gefängnisse sind „gigantische Brutstätten für ansteckende
Krankheiten...1997 waren in den USA Schätzungen zufolge 20% bis
26% aller mit HIV-AIDS infizierten Personen, 29% bis 43% aller
Personen mit einem diagnostizierten Hepatitis-C-Virus und 40%
aller Personen mit Tuberkulose irgendwann schon einmal im
Gefängnis.“ (Waquant, S.90f.) Die US-Gefängnisse sind die größte
Heimstatt für psychisch Kranke. ¼ der Gefängnisinsassen wurden
wegen psychischer Probleme behandelt, 10% waren früher einmal in
der Psychiatrie. 6 bis 15% der Insassen von Stadt- und
Countygefängnissen (10 bis 15% bei Staats- und
Bundesgefängnissen) leiden an schweren psychischen Erkrankungen.
Viele Gefängnisinsassen sind Stammgäste, 59% haben
Hafterfahrung. 14% hatten einmal eine Bewährungsstrafe, nur ¼
sind Neulinge. 1989 hatten weniger als ¼ drei Gefängnisstrafen
hinter sich, 1996 war es 1/3. 80% werden von Pflichtverteidigern
„verteidigt“, die kaum Zeit für ihre Mandanten haben. Oftmals
wird der sogenannte Pöbel nur als lästig und anstößig empfunden.
„Pöbelexistenzen“ seien Prostituierte, Kleinkriminelle,
Obdachlose, psychisch Kranke, Drogenabhängige, illegale
Einwanderer und „corner boys“. Die öffentliche Aufmerksamkeit
wird auf die Straßendelinquenz gelenkt, um von der Wirtschafts-
und Behördenkriminalität abzulenken
Bei der
Zusammensetzung der US-Häftlingspopulation hat man es
„überwiegend mit den prekärsten und am stärksten stigmatisierten
Segmenten der städtischen Arbeiterklasse zu tun..., die einen
unverhältnismäßig hohen Anteil an Nicht-Weißen aufweisen und
regelmäßig, wenn auch widerwillig, mit den verschiedenen
Sozialhilfeprogrammen für die Armen zu tun haben...den Armen
(wird) in den Städten der Teppich der Sozialleistungen unter den
Füßen weggezogen und durch ein Trampolin ersetzt..., mit dem sie
in Niedriglohn-Jobs und in die illegale Straßenökonomie
katapultiert werden..“ (Waquant, S.93)
Den Ausbau des
Gefängniskomplexes muß man in Zusammenhang mit der
Wohlfahrts“reform“ sehen, die 1996 unter Clinton verabschiedet
wurde. ¾ der befragten Amerikaner unterstützten die Reform,
obwohl sie laut einer Untersuchung kaum etwas vom Inhalt des
Gesetzes wußten. Damit wurde der Anspruch der Unterstützung der
ärmsten Kinder abgeschafft und die Mütter zu unterbezahlter und
unqualifizierter Lohnarbeit verpflichtet.
Die Reform
betraf nur einen Teil der US-Sozialabgaben- für mittelose
Familien, Behinderte und Notleidende, während die
Sozialversicherung für die Mittel- und Oberschichten verschont
blieb. Statt sozialpolitischer Maßnahmen gab es jetzt eine
straforientierte Disziplinierung (workfare+prisonfare). Durch
Verhaltenskontrollen und Sanktionen sollen die betroffenen
Gruppen gefügig gemacht werden. Die Wohlfahrtsempfänger stehen
unter einer „Schuldvermutung“ und werden mit Kriminellen
gleichgesetzt. Gekürzt werden sollte bei den Frauen und Kindern
aus dem prekären Proletariat, bei den bedürftigen Alten und den
neuen Migranten. Schon vor der Sozialhilfereform bekam nur ein
Teil der Bedürftigen staatliche Unterstützung. 1996 lebten 39
Millionen unter der Armutsgrenze, weniger als 13 Millionen
(davon 9 Millionen Kinder) erhielten ADFC-Unterstützung. Schuld
wurde der angeblichen Unmoral allein erziehender Mütter gegeben,
sie wurden zur Lohnarbeit verpflichtet. Das war bei der weißen
Arbeiter- und Mittelschicht populär. Je schwärzer das Bild der
Armut gezeichnet wurde, desto höher schlugen die Wellen der
weißen Feindseligkeit; es wurden Rassenressentiments und
Klassenvorurteile mobilisiert. Es gab folgende rassistisch
gezeichnete Figuren:1) „welfare queen“ die gerissene schwarze
Matriarchin, die die Arbeit scheut, die Behörden betrügt und das
Geld für Drogen und Schnaps ausgibt, 2) die afroamerikanische
minderjährige Mutter, die moralisch verkommen und sexuell
zügellos sei, 3) der Schnorrvater aus der Unterschicht, meistens
schwarz und arbeitslos, 4) der ältere Immigrant, der gekommen
sei, um die Sozialhilfe so zu manipulieren, das eine hohe
Gratisrente herausspringt. In Wirklichkeit war die Sozialhilfe
so gering, dass man andere Quellen finden mußte, um den
Lebensunterhalt zu bestreiten; d.h. die meisten gingen schon
einer bezahlten Arbeit nach. Auch wurden die ökonomischen
Ursachen der Armut nicht beachtet, so waren ¼ der Jobs Zeit-und
Leiharbeit.
Die Maßnahmen
der Reform waren: Mit der Reform gab es die Auflage, innerhalb
von 2 Jahren eine Arbeit aufzunehmen. Der Bezug hat eine
lebenslange Obergrenze von 5 Jahren. Die Zuständigkeit wurde an
die Bundesstaaten und Countys delegiert. Dabei gab es
Erfahrungen mit den psychisch Kranken, als in den 70er Jahren
die Zuständigkeit an die Bundesstaaten delegiert wurden und
diese die psychiatrischen Kliniken schlossen. Seitdem gibt es
eine Flut von psychisch-kranken Obdachlosen und Strafgefangenen
(meistens wegen kleiner Ordnungswidrigkeiten). Vielen sozialen
Gruppen wurde die Anspruchsberechtigung entzogen; z.B. durch
eine Neudefinition von Krankheiten. Tausende Behinderte wurden
als arbeitsfähig eingestuft.
Eine
Auswirkung der Reform war die Zunahme der Kinderarmut, obwohl
die USA ohnehin schon die höchste Rate in der westlichen Welt
aufweist. Jedes 4. Kind, jedes 2. Schwarze Kind wächst unterhalb
der Armutsgrenze auf. Viele der Ausgeschlossenen fanden keine
Arbeit, sie waren gezwungen in die informelle oder kriminelle
Ökonomie zu gehen oder sich von der Verwandschaft Unterstützung
zu holen. 30% jener, die eine Vollzeistelle hatten, konnten
davon nicht einmal die Miete zahlen, 46% machten sich über das
Essen sorgen, 11% hatten kein Telefon mehr. In einer
Untersuchung hatten 2/3 jener, die „erfolgreich“ in den
Arbeitsmarkt integriert waren, keine Krankenversicherung, 1/3
hatte eine Teilzeitstelle. Von den Abgehängten hatten 55% keinen
Highschool-Abschluß und 41% litten an gravierenden psychischen
und physischen Krankheiten. 1997 gab die Heilsarmee 51 Millionen
kostenlose Essen aus, 2003 65 Millionen. Das prekäre
Proletariat, das keine staatliche Unterstützung mehr bekommt,
ist von Lohnarbeit auf Armutsniveau, der familienzentrierten
Sozialökonomie und der informellen und kriminellen Ökonomie
abhängig. Die Bedürftigen wurden in workfare getrieben, das hat
die Marginalität in den Städten unsichtbar gemacht.
Interessant ist auch die Sozialstruktur der
ADFC-Empfängerinnen:
Das soziale
Profil ist deckungsgleich mit den Gefängnisinsassen, nur
umgekehrt vergeschlechtlicht. Fast alle leben auf dem
Niedriglohn-Arbeitsmarkt unterhalb der Hälfte der staatlichen
Armutsgrenze. 37% sind schwarz, 18% hispanisch. Gut die Hälfte
hat keinen Highschool-Abschluss. Sie sind selten verheiratet.
Sie sind bekannt mit Gewalt (60% sind schon einmal tätlich
angegriffen worden). 44% haben gravierende physische und
psychische Störungen.
„Damit
bestätigt sich, dass die Hauptklienten des Sozialhilfe- und des
Gefängnisarms des neoliberalen Staates im Wesentlichen die
beiden Gender-Seiten ein und derselben Medaille sind, nämlich
eine Population aus den marginalisierten Fraktionen der
postindustriellen Arbeiterklasse. Der Staat reguliert das
störende Verhalten dieser Frauen (und ihrer Kinder) durch
„workfare“ und das der Männer in ihrem Leben (das heißt, ihrer
Partner ebenso wie ihrer Söhne, Brüder, Vettern und Väter) durch
strafrechtliche Überwachung.“ (Waquant, S.117f.)
Die Zielgruppe
der Wohlfahrtsreform und die Hauptklientel des
Strafrechtsstaates werden öffentlich verunglimpft, moralisch
individualisiert und rassenspezifisch gewichtet.
Die
Wohlfahrtsämter holen ihr Handwerkszeug bei der Strafverfolgung.
Es gibt ein rigides System von Sanktionen für nicht-konformes
Verhalten. Die Atmosphäre in den Ämtern ist mit Mißtrauen,
Verwirrung und Angst aufgeladen, also wie im Gefängnis. Zwang,
Abschreckung und Verhaltenskontrolle werden zu zentralen
Elementen staatlicher Unterstützung. Die Wohlfahrt wird
straforientiert ausgerichtet. Wer Sozialleistungen empfängt,
wird abgewertet, wer arbeitet, wird glorifiziert. Den Armen soll
das Arbeitsethos eingebläut werden. Sie werden in den
Niedriglohnsektor gezwungen, um das Angebot an gefügigen
Arbeitskräften zu erhöhen. Wer sich nicht disziplinieren läßt,
den läßt man im Gefängnis verschwinden.
Literatur:
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Korruption,
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Kernig, Und mehret euch?, Bundeszentrale für politische Bildung
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Erich Follath/
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Welternährung,
Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 6-7/2009, Bundeszentrale
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Harald Welzer,
Klimakriege, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 2008
Yassin
Musharbash, Die neue al-Quaida, Bundeszentrale für politische
Bildung, Bonn 2006
Qinglian He,
China in der Modernisierungsfalle, Bundeszentrale für politische
Bildung Bonn 2006
Loïc Wacquant,
Bestrafen der Armen, UVK Konstanz
Editorische
Anmerkungen
Den Text erhielten wir von der
Autorin.
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