Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

10/09

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Tatsache - das Wort «Tatsache» («Fakt», «Faktum», «Datum») wird in der
philosophischen und methodologischen Literatur in verschiedenen Bedeutungen verwendet. So werden mit «Tatsache» sowohl Sachverhalte (z.B. «Tatsachen feststellen») als auch wahre Aussagen bezeichnet (z.B. «Tatsachen verallgemeinern»). Mit diesen beiden Grundbedeutungen von «Tatsache» sind weitere Bedeutungsvariantcn verbunden. Sie sind durch den Charakter der Philosophie bedingt, in deren Zusammenhang oder unter deren Voraussetzung das Wort «Tatsache» benutzt wird, aber auch durch die speziellen Zwecke, die bestimmte methodologische Untersuchungen verfolgen. So werden in der marxistischen Philosophie als «Tatsache» bisweilen nur objektiv-reale Sachverhalte oder sogar nur bestimmte dieser Sachverhalte bezeichnet.

Die vielfache Verwendungsweise des Wortes «Tatsache» bedingt, daß mit den unterschiedlichen Tatbeständen, die es bezeichnet, auch unterschiedliche philosophische und methodologische Fragen verknüpft sind. Viele dieser Fragen werden aber bereits durch andere bewährte Termini beschrieben, zu denen dann «Tatsache» nur als Synonym auftritt. So ist das Verhältnis einer wahren Aussage zu einem objektiv-realen Sachverhalt nur ein Spezialfall der Relation, in der ein Abbild zum Abgebildeten steht, usw.

Eine besondere philosophische und methodologische Problematik eröffnet sich hingegen dann, wenn wir als «Tatsachen» bzw. «Tatsachenaussagen» jene wahren Aussagen bezeichnen, die innerhalb eines Aussagensystems andere Aussagen begründen oder durch andere Aussagen erklärt werden. In diesem funktionalen Sinne soll nun «Tatsache» verstanden werden. Eine wahre Aussage ist also in bezug auf andere Aussagen eines Aussagensystems genau dann eine Tatsache, wenn sie dazu dient, andere Aussagen zu begründen, oder wenn sie durch andere Aussagen dieses Systems erklärt wird. Wenn ein solches Aussagensystem wissenschaftlicher Natur ist, dann heißen die in Frage stehenden Aussagen wissenschaftliche Tatsachen und die diese erklärenden bzw. die durch die wissenschaftlichen Tatsachen begründeten Aussagen theoretische Aussagen. Wahre Aussagen, die innerhalb eines wissenschaftlichen Systems theoretische Aussagen sind, können innerhalb eines davon verschiedenen Systems als Tatsachen füngieren. Die marxistische Philosophie beispielsweise stützt sich auf wahre theoretische Aussagen anderer Wissenschaften, d.h., sie benutzt sie als Tatsachen. Die mit dieser Bedeutung von «Tatsache» verbundenen methodologischen und philosophischen Probleme betreffen etwa folgendes: die Abhängigkeit der der Menschheit zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Tatsachen vom Entwicklungsstand der Praxis und insbesondere auch von den theoretischen Bedürfnissen der Gesellschaft; die zwischen den Tatsachen und den theoretischen Aussagen bestehenden Beziehungen ( Empirisches und Theoretisches); die Art und Weise des Verallgemeinerns von Tatsachen; die Beschaffenheit von Tatsachenmengen, die eine Hypothese zu begründen oder zu beweisen vermögen usw. Soweit eine Wissenschaft die von ihr benötigten Tatsachen nicht anderen Wissenschaften oder auch dem Alltagswissen entnehmen kann, werden Tatsachen durch spezielle Methoden gewonnen: etwa Beobachtung, Experiment, empirische Sozialuntersuchungen, historische Quellenstudien usw. Tatsachen, die quantitative Stufungen bestimmter Wirklichkeitsbereiche wiedergeben, können heute mittels Automaten gruppiert und klassifiziert werden (Datenverarbeitung).

Das Verhältnis der Tatsachen zu den sie erklärenden theoretischen Aussagen eines wissenschaftlichen Systems unterliegt in der Gegenwart heftigen philosophischen Auseinandersetzungen. So verabsolutieren Vertreter des modernen Empirismus den zwischen den Tatsachen und den theoretischen Aussagen eines wissenschaftlichen Systems bestehenden Unterschied dahingehend, daß nur den Tatsachen ein Bezug zu den Sachverhalten zugesprochen wird, nicht aber den theoretischen Aussagen.

Neupositivistische Philosophen meinen, daß die theoretischen Aussagen eines wissenschaftlichen Systems nicht auf Sachverhalte zutreffen könnten, die nicht bereits durch die diesem System zugrunde liegenden Tatsachen erfaßt worden sind. Im Gegensatz hierzu demonstriert die Geschichte der Wissenschaften, daß Aussagen über bislang nicht erschlossene Bereiche der Wirklichkeit aus theoretischen Aussagen abgeleitet und daß somit wissenschaftliche Voraussagen getroffen werden können. Das zeugt zugleich davon, daß durch die Verallgemeinerung von Tatsachen neue wahre Aussagen gewonnen werden können, die ebenso wie die Tatsachen selbst Sachverhalte der Wirklichkeit abbilden.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.1069f

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