Die Nacht ist kurz, der Schlaf ist zu wenig: Knapp sieben
Stunden benötigt der Flieger von Paris bis zum Umsteigen in
Addis Abeba. Zwischendurch werden wir zweimal vom Personal der
Ethiopian Airlines für eine Mahlzeit geweckt. Kurz nach sechs
Uhr früh überfliegen wir den Obelisken – das Wahrzeichen von
Addis Abeba -, Hochhaussiedlungen sowie Kathedralen mit
Kuppeldächern und landen in der Hauptstadt Äthiopiens. Ihr
moderner Flughafen kann sich sehen lassen. Nach fünf Stunden
Aufenthalt geht es weiter: Eine kleinere Maschine fliegt die
Hauptstädte von Rwanda und Burundi, Kigali respektive Bujumbura,
an. Drei Stunden später werden wir im französischsprachigen
Ostafrika sein.
Zunächst gleitet das Flugzeug über grüne Hochflächen, auf denen
zahlreiche hell silbern schimmernde, langgestreckte Blechdächer
– wie man sie in allen Bergländern im östlichen Afrika antrifft
– in der Sonne aufblitzen. Einige Zeit später, nach dem Überflug
über den Turkana-See, wechselt das Panorama radikal. Der
Nordwesten von Kenya ist eine Halbwüste, die sich von oben als
Mondlandschaft darstellt. Im Norden Ugandas weicht sie einer mit
Bäumen durchsetzten Savanne. Später schäumt unten die
Wellenbrandung des Victoria-Sees. Winzig klein ist die
Landepiste von Entebbe, wo 1976 die berühmt-berüchtigte
Flugzeugentführung durch (west)deutsche und palästinensische
Militante endete, direkt am Ufer des Victoria Lake. Dort
überqueren wir auch den Äquator. Bald darauf folgt eine
Landschaft aus langgestreckten Hügelketten, die immer weiter
durch breitere oder schmälere, grüne und grünscheckige Bänder
unterbrochen wird. Ausnahmslos auf jeder kultivierbaren Fläche
in Rwanda und Burundi, zweien der am dichtesten besiedelten
Ländern Afrikas, wird Ackerbau betrieben.
Der Flughafen von Bujumbura, unserer ersten Station, ist fast
winzig klein. Vier runde Waben beherbergen fast die gesamte
Einrichtung. Drauben
auf den Parkplätzen werden wir erwartet. Die knapp zehn
Kilometer lange Strabe
ins Zentrum der Hauptstadt von Burundi führt durch das
Industriegebiet, wo ein Grobteil
der wenigen Industrien des Landes – das noch zu 96 Prozent von
Agrarproduktion und Agrarexporten (Kaffee, Tee) lebt –
konzentriert ist: Fabriken für Farben, Lacke, aber vor allem
Bierbrauereien. Dazwischen von Stacheldraht geschützte, grobe
und auffällige Niederlassung der UN und ihres „Büros der
Vereinten Nationen in Burundi“, BINUB, und wieder Brauereien.
Bierfabriken haben in der gesamten Region, in Burundi und in den
Nachbarländern, regen Absatz. Hergestellt werden vor allem Biere
belgischer Herkunft in lokaler Lizenzproduktion, Amstel und
Primus, neben Heineken, einer Marke niederländischen Ursprungs.
Lange ziehen sich die Aubenmauern
der Brauereien hin: Kirinyota mugenzi! (Auf Deinen Durst,
Freund!) Kleine Gruppen stehen zu jeder Tageszeit Schlange, um
am Eingang Eisbarren zu erwerben: Viele Einwohner besitzen keine
Kühlschränke, aber wer an der Brauereitür den gefrorenen Stoff
erwirbt, dem bleibt die Kühlwirkung einige Stunden lang
erhalten.
Wir wurden erwartet, da wir von Paris aus Kontakte aufgenommen
hatten. Zwei Gruppen von Europäern treffen an diesem und am
folgenden Tag in der Hauptstadt Burundis ein. Unsere Gruppe
besteht aus AktivistInnen von Menschenrechtsvereinigungen und
anderen NGOs aus Frankreich, die zu Treffen mit örtlichen
Organisationen verabredet sind. Die andere, gröbere
Gruppe umfasst Jugendliche und junge Erwachsene aus Belgien und
Québec – dem französischsprachigen Kanada -, die nach wenigen
Tagen in eine Provinzhauptstadt im Norden Burundis, Ngozi,
aufbrechen. Dort werden sie zusammen mit Gleichaltrigen aus
Burundi und der benachbarten République Démocratique du Congo
(RDC) zwei Wochen lang auf der Baustelle einer Schule arbeiten.
Für dieses freiwillige humanitäre Engagement ist in Brüssel,
Paris und Montréal sowie in Burundi und Congo geworben worden.
Die Idee für dieses Engagement in einer „gemischten“ Gruppe ist
durch die burundische Liga für Menschenrechte, auch „la Ligue
Iteka (Ehre) genannt“, zu Anfang des Jahrzehnts entworfen
worden. Seitdem findet einmal jährlich das „Forum Nord-Süd“ in
den Nordprovinzen Burundis statt. Es soll, so die Absicht der
Erfinder, auch Anlass zu gemeinsamen Debatten und Konferenzen
über gesellschaftliche Themen, Menschenrechtsfragen u.ä. sein.
Wir werden die Forumsleute am Ende ihres Aufenthalts
wiedertreffen, und ich werde eine Veranstaltung zum Thema
Einwanderungspolitik in Europa halten. Im Anschluss gurken wir
zusammen mit der bunten Truppe drei Tage lang im Bus quer durch
Burundi.
Aber zunächst trennen sich unsere Wege, denn unsere Gruppe
bleibt erst einmal in Bujumbura. Wir treffen mit Führungsleuten
von der Iteka-Liga, dem „Forum von Organisationen der
Zivilgesellschaft“ FORSC und der „Koalition der
Zivilgesellschaft für die Überwachung der Wahlen“ (COSOME) sowie
Journalisten zu angeregten Gesprächen zusammen. Der FORSC ist
eine Koalition aus 146 Verbänden und NGOs, unter ihnen mehrere
Gewerkschaften; Letztgenannte sind in Burundi vor allem unter
den Lehrerinnen und Lehrern von Bedeutung. Später folgen noch
die „Beobachtungsstelle für die Rechte der Kinder“, die sich
etwa auch um die Demobilisierung früherer Kindersoldaten – von
denen es im Bürgerkrieg in Burundi (1993 bis 2008) mehrere
Tausend gab – kümmert, und die Vereinigung für die Rechte von
Häftlingen. Überall können wir mit wichtigen Leitungsmitgliedern
sprechen: Monsieur Pacifique, Monsieur Jean-Marie, Monsieur
David.
Die Menschenrechtsaktivisten sind besorgt. Im kommenden Jahr,
2010, ist in Burundi ein „Superwahljahr“ angesetzt: Im Frühjahr
und Sommer werden sowohl der Präsident als auch das Parlament
und die Kommunalversammlungen alle nacheinander neu gewählt. Die
Manöver haben bereits begonnen. Eine der groben
Diskussionen des Augenblicks zwischen der Regierungspartei
CNDD-FDD (Nationale Koalition zur Verteidigung der Demokratie –
Kräfte zur Verteidigung der Demokratie) und den anderen
politische Parteien dreht sich um die Frage des
Abstimmungsmodus. Die Alternative lautet bulletin unique oder
bulletins multiples. In Europa würde es sich um eine Frage nach
technischen Modalitäten handeln: Die eine Möglichkeit läuft
darauf hinaus, wie in Deutschland auf einem einheitlichen
Stimmzettel ein Kreuzchen hinter dem Namen – oder eher dem
Bildsymbol, da grobe
Teile der Bevölkerung keine Schulbildung genossen haben – einer
Partei zu machen. Die andere Möglichkeit beruht auf dem
französischen Wahlsystem: Auf einem Tisch im Wahlbüro liegen
mehrere Stimmzettel bereit, für jede antretende Kandidatenliste
gibt es einen. Davon wirft die Wählerin einen in einem Umschlag
in die Urne, die übrigen nimmt man mit hinaus.
In
Frankreich ist dieser letztgenannte Wahlmodus unbedenklich, und
die nicht benutzten Stimmbulletins landen im Papierkorb. In
einem Land wie Burundi, wo der politische Wettbewerb in den
letzten Jahren häufig mit Waffengewalt und unter Rückgriff auf
„ethnische“ Zugehörigkeiten ausgetragen wurde – und in einer
Region, wo alle benachbarten Länder (Rwanda, Burundi, RDC)
derzeit von früheren bewaffneten Rebellenbewegungen regiert
werden – hingegen nicht. Bei der letzten Wahl im Juni 2005, bei
denen die regierende CNDD-FDD mit über 60 Prozent gewann, wurden
die Wähler in den Dörfern im Nachhinein von Waffen tragenden
Anhängern der Gewinnerpartei dazu aufgefordert, die nicht
benutzten Bulletins vorzuzeigen. Eine einfache Methode, um zu
kontrollieren, wer wie gestimmt hat – unter Androhung von
ernsthaften Repressalien.
Im
Augenblick hat die Regierungspartei bereits entschieden, bei den
Urnengängen im kommenden Jahr erneut das System der „vielfachen
Stimmzettel“ (bulletins multiples) zu benutzen. Die
Menschenrechtsorganisationen und NGOs fürchten deshalb, vor
diesem Hintergrund, bereits ein erneutes Aufflammen von
Spannungen und Gewalt. Zumal es auch in diesem Jahr schon ein
paar ernstere Zwischenfälle gegeben hat, vor allem die Ermordung
des Aktivisten Ernest Manirumva, der unermüdlich gegen
Korruption und Selbstbereicherung der Eliten gekämpft hatte. Am
30. April wurde er in seinem Haus in der Avenue Sanzu im
Stadtteil Mutanga-Sud – in dessen unmittelbarer Nachbarschaft
wir, zufällig, untergebracht werden - von Bewaffneten entführt.
Seine Leiche, so erzählen es Nachbarn, wurde kurz darauf dorthin
zurückgebracht. Niemand in der Umgebung hatte reagiert, die
Nachbarschaft war offenkundig eingeschüchtert. Offiziell handelt
es sich um eine Tat von „Unbekannten“. Die Regierung unter
Präsident Pierre Nkurunziza weib
von des Hintergründen des Mordes angeblich nichts, was sehr
Viele bezweifeln. Deshalb hat die Regierung, um ihre „Unschuld“
zu bewiesen, Beamte der US-amerikanischen Bundeskriminalbehörde
FBI neben denen der eigenen Polizei zu den Ermittlungen
hinzugezogen. Seitdem sind die Erkenntnisse jedoch um keinen
Millimeter vorangekommen. Viele sind jedoch der Auffassung, in
Wirklichkeit bräuchte man nicht lange zu suchen, um den
Auftraggebern auf die Spur zu kommen.
Burundi wurde ab 1993 von einem Bürgerkrieg erschüttert, der
laut Auffassung von UN und Menschenrechtsverbänden rund 300.000
Menschenleben kostete und dessen letzte Ausläufer sich bis im
Juni vergangenen Jahres hinzogen. Deswegen die massive,
auffällige Präsenz der Vereinten Nationen im Land. Zahlreiche
Waffen befinden sich jedoch noch im Umlauf, die bei
Gewaltkriminalität und besonders bei Konflikten um die
Landverteilung – in einem Land, dessen Agrarfläche mit
steigernder Bevölkerungszahl (derzeit acht Millionen bei 27.000
Quadratkilometern) und bei geringer Produktivität allmählich
deutlich zu klein wird – zum Einsatz kommen.
Die Hintergründe des Konflikts in Burundi ähneln denen im
nördlichen Nachbarland Rwanda, aber mit zum Teil umgekehrten
Fronten. Sie wurzeln in einer gemeinsamen Geschichte. Beide
Staaten sind, aufgrund ihrer geographischen Situation als
küstenferne Bergländer „im Herzen Afrikas“, erst spät von
Europäern entdeckt und kolonisiert worden, nachdem sie – aus
geographischen Gründen – als einzige von den Aktivitäten und
Streizfügen europäischer sowie arabischer Sklavenhändler
verschont geblieben waren. Nach der Berliner Konferenz, bei der
Afrika 1884 unter den Kolonialmächten aufgeteilt worden war,
wurden beide Königreiche zunächst dem damaligen
„Deutsch-Ostafrika“ zugeschlagen, das überwiegend aus dem
späteren Tanzania bestand. Die deutsche Kolonialmacht reagierte
aber äuberst
indirekt und gestützt auf die traditionelle Monarchie und
Feudalelite. Im Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich die
Oberhoheit, zurück blieb ein deutscher Soldantefriedhof in
Cibitoke im Nordwesten Burundis, der heute noch von der Landstrabe
aus gut sichtbar ist.
Belgien erhielt später das Mandat des Völkerbunds – des
Vorläufers der UN -, um das Gebiet der beiden Länder (gemeinsam
als „Ruanda-Urundi“ bezeichnet) zu verwalten, und schlug es
seiner damaligen Kolonie „Belgisch-Congo“ hinzu. Die Eliten der
beiden Kolonialmächten, in Berlin und in Brüssel, waren von der
damals in Europa weit verbreiteten Ideologie und
Pseudowissenschaft der „Rassenkunde“ beeinflusst. Sie glaubten,
in Rwanda und Burundi jeweils zwei verschiedene „Stämme“ – oder
getrennte „Ethnien“ – anzutreffen, die Hutu und die Tutsi, und
beschrieben sie nach „Rassenmerkmalen“: Die Tutsi seien relativ
hellhäutig, grobgewachsen
und intelligent, eine Art natürlicher Elite, die Hutu hingegen
dunkelhäutiger und eine stumpfsinnig vor sich hinbrütende Masse.
In Wirklichkeit gab es jedoch nie zwei getrennte ethnische
Gruppen, vielmehr bildeten Hutu und Tutsi in der prä-kolonialen
Feudalgesellschaft zwei soziale Kasten. Ihr Unterschied deckt
sich ungefähr mit der sozialen Aufteilung zwischen Ackerbauern
und (damals wohlhabenderen) Viehzüchtern und –besitzern. Um es
ihrer Verwaltung einfach zu machen, schuf die belgische
Kolonialmacht jedoch im Jahr 1931 starre Kategorien und teilte
die gesamte Bevölkerung in getrennte „Ethnien“ auf: Wer mehr als
zehn Rinder besab,
wurde einfach administrativ zum „Tutsi“ erklärt, und wer weniger
oder gar kein Vieh hatte, wurde zum „Hutu“. Erstere machten
knapp 15, die Letztgenannten 85 Prozent der Bevölkerung aus.
Daneben gab es als kleine Restgruppe die Twa oder BaTwa, eine
kleinwüchsige Bevölkerungsgruppe, die man als Pygmäen bezeichnen
könnten und die bis vor wenigen Jahren zurückgezogen in Wäldern
lebten. Die belgische Herrschaft versuchte sich dabei anfänglich
besonders auf die Tutsi und ihr Königshaus zu stützen.
Beruhte die administrative Einteilung auf sozialen Kategorien,
so fuhren die Europäern gleichzeitig vor, Hutu und Tutsi als
angebliche unterschiedliche Rassen zu beschreiben. Angeblich
seien sie sogar getrennten geographischen Ursprungs: Die Hutu
seien, so stand es bis in den achtziger Jahren in zahllosen
Lehrbüchern, seien „Bantuneger“ (so ein deutsches geographisches
Lexikon im Jahr 1983), die Tutsi hingegen stammten vom Nil, aus
Ägypten oder dem Vorderen Orient. Diese Mischung aus Rassen- und
weitgehend mythischer Herkunftslehre, traditionellen
Ungleichheiten in der Feudalgesellschaft und moderner sozialen
Ungleichheit wurde zur explosiven Mischung. Denn viele Hutu
erklärten sich von nun ab, sobald die Unzufriedenheit wuchs,
ihre schlechte soziale Situation aus der Vorherrschaft der
„Tutsi-Rasse“ – und sie glaubten, dank der von den Europäern
verbreiteten „wissenschaftlichen“ Lehre auch die „Lösung“ für
das Problem zu besitzen: Diese „fremdstämmige Rasse“ solle doch
das Land verlassen und „zu ihren Ursprüngen zurückkehren“. Die
Rassifizierung der sozialen Frage hatte perfekt funktioniert.
Rwanda und Burundi wurden am 1. Juli 1962 formal unabhängig.
Ökonomisch und politisch blieb eine starke Kontrolle und
Vorherrschaft zunächst bei Belgien, später bei Frankreich, das
Brüssels Rolle in Zentralafrika abzulösen begann. Der wichtige
Unterschied lag jedoch darin, dass die alte Tutsi-Elite in
Rwanda bei der Unabhängigkeit entmachtet worden war, was seit
1959 mit Massakern an Zivilisten unter den Tutsi einhergegangen
war und zu Flüchtlingsbewegungen nach Uganda und Tanzania
führte. Doch in Burundi behielten die Eliten unter „den Tutsi“
die politische und, vor allem, militärische Macht bei. Als
Ethno-Extremisten aus den Reihen der Hutu auch in Burundi
Massaker an der Minderheit vorbereiteten, schlug die – nach wie
vor von Tutsi dominierte – Armee im Jahr 1972 präventiv zu und
löschte einen Gutteil der Hutu-Elite, vom Offizier bis zum
Oberschüler, neben zahlreichen Zivilisten aus.
Die traditionelle Konstellation verfestigte sich noch, bis
Anfang 1993 in Burundi erstmals ein Präsident aus den Reihen der
Hutu demokratisch gewählt wurde: Melchior Ndadaye. Sein Portrait
steht heute auf einem zentralen Platz in Bujumbura, umrahmt von
der Aufschrift: „Held der Demokratie“. Melchior Ndadaye wurde
nach nur drei Monaten im Amt durch führende Militärs ermordet.
Hutu-Extremisten, die schon vor seiner Amtseinführung – in der
anfänglichen Erwartung, dass die Elite ihn gar nicht erst ins
Präsidentenamt einziehen lassen würden – Massaker an Tutsi
vorbereitet hatten, nahmen dies als Anlass zum Zuschlagen und
zum Morden. Im Gegenzug löschte die nach wie vor von Tutsi
dominierte Armee ganze Dörfer aus. Auch Tutsi-Extremisten
verübten, „ethnisch“ motivierte, Anschläge und warfen etwa in
Ngozi in Nordburundi Handgranaten in Schlafsäale für Schüler
eines Internats. In der Hauptstadt Bujumbura bildeten sich
„ethnisch reine“ Wohnbezirke: Tutsi-Zivilisten mussten aus von
Hutu dominierten Stadtteilen – wie dem von radikalen
Hutu-Kräften dominierten Armenviertel Kamenge – fliehen, und
umgekehrt. Wer am falschen Ort angetroffen wurde, konnte durch
die „Halskrause“, einen um den Hals gehängten und angezündeten
Autoreifen, eines qualvollen Todes sterben. Und doch gab es die
ganze Zeit über auch Menschen und Kräfte, die dieser Ethno-Logik
aktiven oder (vor allem) passiven Widerstand leisteten: Das
riesige Jugendzentrum von Kamenge etwa blieb während der ganzen
Dauer des Konflikts über ausdrücklich für Kinder und Jugendliche
aus allen „Ethnien“ offen, und kassierte deswegen finstere
Drohungen. Auch heute macht das Jugendzentrum weiter, wo
Sporteinrichtungen und Computerkurse zahllose Besucher anlocken
- während, wie man uns dort erzählt, der nahe Stadtteil
inzwischen wieder in Ansätzen „ethnisch gemischt“ geworden ist.
Zu
Anfang dieses Jahrzehnts wurde im tanzanischen Arusha ein
Friedensabkommen geschlossen und beendete 2000/01 offiziell den
Bürgerkrieg. Es sieht u.a. vor, dass erstmals auch Hutu
expliziten Zugang zu den Offiziersrängen der Armee haben und
dort künftig 40 % der Rangträger stellen sollen. Aber auch
danach blieb eine bewaffneten Bewegung - mutmablich
mit Unterstützung aus Libyen – aktiv, die ursprünglich aus der
1980 damals in der Illegalität gegründeten „Bewegung für die
Emanzipation der Hutu“ (Palipehutu) hervorging wie mehrere
andere Parteien, unter ihnen auch die aktuelle Regierungspartei
CNDD-FDD. Die verbleibende Guerillabewegung nannte sich
„Nationale Kräfte für die Befreiung“ (FNL, oder Palipehutu-FNL).
Ihre Anführer waren zum Teil auch von
christlich-fundamentalistischen Heilslehren beeinflusst und
glaubten in ihrem zum Teil religiösen Wahn, Gott habe ihnen eine
politische Mission verliehen. Vorwiegend vom dörflichen
Hinterland der Hauptstadt, der Provinz Bujumbura-Rural, aus
kämpften die FNL weiter. Ihre Guerilla rekrutierte auch
Hunderte, vielleicht Tausende von Kindersoldaten, denen oft die
Trommelfelle durchbohrt wurden, damit sie bei Angriffen nicht
das Gewehrfeuer hören und „ängstlich flüchten“ könnten. Noch im
April und Mai 2008 bombardierten sie die Hauptstadt Bujumbura,
von den nahe gelegenen Hügeln aus, mit Granatwerfern.
Aber am 10. Juni vergangenen Jahres unterzeichneten sie eine
Vereinbarung, die die Niederlegung ihrer Waffen und ihre
Umwandlung zu einer politischen Partei – ähnlich jener der
früheren Guerillabewegung und jetzigen Regierungspartei CNDD-FDD
– vorsieht. Auch die FNL möchten nun im kommenden Jahr zu den
allgemeinen Wahlen im Land antreten. Einer ihrer Anführer,
Agathon Rawsa, wurde vor kurzem zum Präsidenten der Nationalen
Sozialversicherungskasse (INSS) ernannt; es ist nicht untypisch,
dass Einstellungen auch auf hohen Positionen nicht nach Eignung,
sondern nach rein politischen Kriterien vorgenommen werden. So
leitet ein früherer Klempner heute das Office national du thé,
das den zweitwichtigsten Ausfuhrartikel und Devisenbringer
Burundis – den Tee – international vermarktet. In einem
Interview mit der Zeitung Iwacu (Zusammen) bedauerte Agathon
Rawsa Anfang August, das massenhafte Rekrutieren eigener
Anhänger auf Posten in der Struktur bis zu den Wahlen sei ihm
nicht möglich, „weil die Rekrutierung immer zu Jahresanfang
stattfindet“.
Droht nun im kommenden Jahr die Gewalt wieder aufzuflammen,
nachdem sich schon jetzt andeutet, dass es zu massivem
Wahlbetrug kommen könnte? Nicht sicher, meinen die
Menschenrechts- und NGO-Aktivisten sowie burundischen
Journalisten, mit denen wir sprechen können. „Heute verläuft der
Machtkampf nicht mehr entlang <ethnischer> Grenzen, sondern
zwischen so genannten Hutu-Parteien“, meint einer von ihnen.
Sowohl die Regierungspartei CNDD-FDD als auch die stärkste
Oppositionspartei FRODEBU (Demokratische Front Burundis) wie
auch die FNL stammen alle aus der, früher einheitlichen,
Hutu-Bewegung. Deswegen, und weil viele Menschen im Lande von
den Schrecken des Bürgerkriegs die Nase voll haben, habe sich
die Mobilisierungskraft des <ethnischen> Bezugs abgenützt.
„Die Leute sehen, dass die <ethnische> Politik zum Teil
Kasperltheater ist, hinter dem sich nur der Wunsch verbirgt, zu
den Fleischtöpfen der Macht vorzudringen“ berichtet die
burundische Journalistin Alice. Dies desillusioniert ihrer
Auffassung nach. Anlässlich einer Verhandlungsrunde zwischen
burundischen Parteien in Arusha habe der frühere südafrikanische
Präsident Nelson Mandela die Teilnehmer auf den verschiedenen
Seiten beobachtet – und zunächst geglaubt, die Gegensätze
zwischen ihnen seien unversöhnlich. Danach habe er die Hutu- und
Tutsi-Vertreter beim gemeinsamen Besäufnis am Abend
wiedergetroffen, und sein Urteil revidiert. Dies, immerhin,
könnte im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven tröstlich
wirken. Das Urteil fällt in Bezug auf Rwanda, wo die jüngere
Geschichte anders verlief, jedoch unterschiedlich auf. Sowohl
die Burunder als auch die Menschen in Rwanda, mit denen wir
später sprechen können, formulieren im Hinblick auf das
nördliche Nachbarland Rwandas ein pessimistischeres Urteil: Dort
ist es seit dem militärischen Sieg der früheren
Tutsi-dominierten Guerilla RPF über die Organisatoren des
Völkermords – im Juli 1994 – in der Öffentlichkeit tabu, die
„ethnische“ Zugehörigkeit zu erwähnen. Die Erwähnung der
Kategorien „Tutsi“, „Hutu“ oder „Twa“, die seit 1931 auf den
Ausweisen gestanden hatte, ist ersatzlos gestrichen worden. Doch
wiederholt müssen wir hören, dass im persönlichen Gespräch
„jeder sich nach zehn Minuten im Klaren darüber ist, ob er es
mit einem Hutu oder einem Tutsi zu tun hat“. Mehrere unserer
Gesprächspartner sind der Auffassung, dass Rwanda „auf die Dauer
auf einer Zeitbombe sitzen“ könnte, jedenfalls wenn das aktuelle
Regime unter dem früheren RPF-Chef und jetzigen
Staatspräsidenten Paul Kagamé destabilisiert werde oder die
Kontrolle verlieren. Alte, zerstörerische Leidenschaften könnten
durchaus neu entfesselt werden.
Als drittes Land der Region besuchen wir die République
démocratique du Congo, in ihrem östlichsten Zipfel. Auf unserem
Fahrplan stehen die Städte Bukavu und Goma, die Zentren der
beiden Provinzen Nord-Kivu und Sud-Kivu. Beide sind nach wie vor
Kriegsgebiet, wobei die Kampfhandlungen und die massive Gewalt
gegen Zivilisten sich inzwischen aus den Städten – die noch zur
Mitte des Jahrzehnts heftig umkämpft waren – hinaus in ländliche
Zonen verlagert haben. In den Stadtgebieten selbst hat die
Staatsmacht der RDC sich inzwischen weitgehend behaupten können.
In Bukavu sind wir beinahe erstaunt, wie wenig „Unsicherheit“
die Provinzhauptstadt der Bürgerkriegsregion im Augenblick
scheinbar verströmt. Noch vor vier Jahren waren die Straben
nachts menschenleer, Schusswaffen waren in grober
Zahl im Umlauf. Heute ist es offenkundig kein Problem, nach ein
Uhr früh aus einer Kneipe wie der ‚Dallas Club’ aus auf dem
Heimweg zu gehen. Im Stadtgebiet wirkt die Lage für die
Staatsmacht relativ unter Kontrolle. Manche öffentliche Gebäude
sind in jämmerlichem Zustand, so das Ministerium für soziale
Angelegenheiten der Provinz, das kaputte Fensterscheiben
aufweist und auf man dem Putz fast dabei zusehen kann, wie er in
letzten Resten von der Fassade herunterfällt. Ausdruck eines
Staates, der sich nur mühsam stabilisieren konnte, während die
natürlichen Reichtümer seines Territoriums unzählige
Begehrlichkeiten bei in- und ausländischen Akteuren weckten. Von
diesen Schwierigkeiten, den Anschein von Stabilität und
Normalität zu organisieren, zeugen auch die fast unablässigen
Wasser-, Strom- oder das Internet betreffenden Server-Ausfälle.
Selbst im Internetcafé des teuersten Hotels am Platze,
„Résidence“, wo wir an einem Abend Zugang zum World Wide Web
suchen, fällt nacheinander der Strom und dann der gesamte
Serverbetrieb aus. Und in unserem, weit billigeren, Hotel bzw.
Gasthaus gibt es die Hälfte der Zeit über entweder kein Wasser
aus dem Hahn oder keinen Strom aus der Steckdose.
Nord-Kivu und Sud-Kivu oder jedenfalls Teile dieser Provinzen
sind Kriegsschauplatz, seitdem die ganze Region 1997 in Flammen
aufgegangen war: Damals hatten Rebellenarmeen vom äubersten
Osten her das Staatsgebiet des damaligen Zaïre – der heutigen
RDC – aufgerollt, um den langjährigen Diktator Mobutu Sese Seko
zu stürzen. Militärisch geholfen hatte ihnen dabei die Armee und
die Regierung Rwandas, und dies durchaus aus eigenem Interesse:
Die Milizen der Hutu-Ethnoextremisten, die 1994 führend am
Völkermord gegen die Tutsi in Rwanda beteiligt waren, hatten
sich nach der Eroberung des Landes durch die RPF im Sommer 1994
in den Ostkongo geflüchtet. Ihre letzten Überreste, in Gestalt
der FLDR („Demokratische Kräfte zur Befreiung Rwandas“), haben
sich dort bis heute festgesetzt. Sie sitzen in schwer
zugänglichen Waldregionen im Osten des kongolesischen
Staatsgebiets, tyrannisieren die örtliche Bevölkerung und
finanzieren ihren Kampf durch ihre Teilnahme an der Ausbeutung
der massiven Rohstoffvorkommen – Gold, Diamanten, Coltan (für
Mobiltelefone) – in der Region. Über mehrere
Zwischenhändlerstufen gelangen die Rohstoffe in die
ostafrikanischen Hafenstädte wie Mombassa und Daressalem, und
von dort aus nach Indien, Europa oder Nordamerika. Aber auch die
mit ihnen verfeindete rwandische Armee, die seit 1997 die „Hutu
Power“-Milizen auf kongolesischem Boden bekämpft, hat an dieser
Ausbeutung der „offenen Adern des Kongo“ – dessen Reichtümer der
eigenen Bevölkerung zu allerletzt zugute kommen – teil. Ein
modernes Stadtviertel in der rwandischen Hauptstadt Kigali, wo
erste Buildings eines Geschäftsviertels mit Hochhäusern im
Entstehen begriffen sind, hört auf den Namen „Coltan“. Dieser
Rohstoff taucht in den Exportstatistiken Rwandas auf, obwohl er
sich nicht unter dem Boden des Landes findet, sondern ausschlieblich
im Ostkongo (und, in geringerem Ausmab,
angeblich auch in Burundi).
Zunächst möchten wir in Uvira über die Grenze, das in nur 30
Kilometern von Burundis Hauptstadt Bujumbura am Tanganijka-See
liegt. Doch wir erhalten Nachricht, dass die Route über Uvira
nicht empfehlenswert sei: Am Vortag sei ein Auto auf dieser Strabe
in einen Hinterhalt, mutmablich
von FLDR-Rebellen, geraten und bei einem Schusswechsel seien
Insassen getötet worden. Wir wählen also die Strabe
über den Südwesten Rwandas nach Bukavu, am Ufer des Kivu-Sees.
Von dort aus fahren wir weiter ins Landesinnere, wofür wir einen
offiziellen guten Grund besitzen: Im Landschaftsschutzgebiet
Kahuzi-Biega, rund 55 Kilometer landeinwärts von Bukavu aus,
möchten wir die dort freilebenden Gorillas im Bergurwald
besuchen. Was uns im Übrigen auch gelingt: Bis auf drei Meter
kommen wir, in 2.400 Meter Höhe und nach stundenlangem Marsch
durch das Unterholz, an den dort wild lebenden
Gorillapatriarchen, „Chimanuga“, heran. Dank der Mithilfe der
örtlichen Pygmäen, die das Naturschutzgebiet bewachen. Auch
diese Menschen profitieren davon, da dank des Parks, der
Besucher anlocken und eine Schutzfunktion für Flora und Fauna
haben soll, erstmals von offizieller Seite Bemühungen
unternommen werden, Häuser und Schulbildung für die Pygmäen zur
Verfügung zu stellen. Letztere können so umgekehrt für das
Schutzprojekt gewonnen werden.
Auf dem Weg ins Innere des Landes werden wir auch mit der
politischen Situation der Region konfrontiert. Immer wieder
fahren wir an Armeestützpunkten vorbei. Auf vorbeikommenden
Militärs-LKWs tragen Soldaten manchmal eine Gesichtsmaske
ähnlich wie Ninjas. Aus anderem Anlass sehen wir frühere
Rebellen aus den Reihen des CNDP („Kongress für die
Verteidigung des Volkes“) des kongolesischen Tutsi-Rebellen
Laurent Nkunda auf einem Armeefahrzeug sitzen. Die CNDP
eroberten im Herbst 2008 einen bedeutenden Teil des Ostkongo und
gingen im Namen der örtlichen kongolesischen Tutsi gegen die aus
Rwanda stammenden Hutu-Extremisten – die ihre Bevölkerungsgruppe
jahrelang bedrohten – vor. Ihr Vormarsch unter dem als gröbenwahnsinnig
geltenden Rebellenchef und christlichen Laienprediger Laurent
Nkunda wurde im November gestoppt. Sie sind offiziell vor kurzem
in die kongolesische Armee integriert worden, nachdem es eine
trilaterale Vereinbarung zwischen dem Kongo, Rwanda und dem
früher durch die Rwander protegierten CNDP gegeben hat. Der
Preis dafür war die Entmachtung des früheren Rebellenchefs
Laurent Nkunda, der jenseits der Grenze in Rwanda unter
Hausarrest gestellt wurde – der kongolesischen Regierung
zuliebe, die jedoch auf seine Auslieferung drängt, bislang aber
vergeblich. Die mitreisenden Kongolesen begrüben
die früheren CNDP-Rebellen und äubern
sich ironisch über deren offizielle „Integration und
Vermischung“ in der kongolesischen Armee.
Ein vorbeikommender Militärlaster trägt die Aufschrift
„Kimia-II“. Kimia (Zusammen) ist der offizielle Name der
gemeinsamen Militäroperationen, welche die Regierungen der RDC
und Rwandas im vergangenen Winter starteten, um die FLDR aus der
Grenzregion zu vertreiben, sie zu besiegen oder zu zerstreuen.
Erstmals hatte die kongolesische Regierung – die bis dahin eher
die Hutu-Extremisten gegen das mehr oder minder verfeindete
Nachbarland Rwanda unterstützt, zumindest toleriert hatte – in
diesem Zusammenhang offiziell rwandische Truppen ins Land
gelassen. Unter der Auflage, dass nunmehr auch die RDC ihren
Beitrag zur Bekämpfung der „Hutu Power“-Milizen leiste; dass die
rwandischen Truppen sich aber umgekehrt erstmals dazu
verpflichten sollten, nach getaner Arbeit abzurücken. Ende
Februar dieses Jahres wurde die Stufe „Kimia I“, an der Rwanda
offiziell militärisch teilhatte, beendet. In der nun folgenden
Phase, „Kimia II“, sollten die Rwander sich hingegen
zurückziehen und die kongolesische Armee zusammen mit der
UN-Truppe im Kongo – der MONUC – das Werk fortsetzen. Die
US-Administration, vor und nach dem Amtswechsel von Bush zu
Obama, stand als Vermittlerin dieser Vereinbarung dafür offenbar
„Pate“.
Dies ist offiziell auch der aktuelle Stand. Sofern jedenfalls
die Theorie. Alice, eine mitreisende burundische Journalistin,
kritische Tutsi und mit zahllosen Kontakten in der Region
ausgestattet, beobachtet jedoch etwas anderes: „Vor kurzem war
ich in einem Hotel im Ostkongo. Dort waren auch
rwandischsprechende Soldaten untergebracht, die mich als ihre
<Schwester< begrübten.
Ich dachte, es handele sich um frühere CNDP-Rebellen, die nun in
die Armee integriert seien, da sie kongolesische Uniformen
trugen. Die Männer sagten jedoch etwas anderes: Sie gaben an,
sie seien rwandische Soldaten, die von ihrer Armee bei deren
offiziellem Rückzug zurückgelassen worden seien und sich nun
plötzlich offiziell als kongolesische Regierungssoldaten
wiederfänden. Sie fanden ihre Situation sehr seltsam.“ Eine
Reihe von Zeugenaussagen deuteten darauf hin, dass die
rwandische Armee zwar offiziell, in Wirklichkeit jedoch nicht
faktisch abgezogen sei. Zu verlockend sei die Aussicht, im
riesigen Ostkongo zu bleiben – sowohl aus strategischen
Sicherheitsmotiven als auch aufgrund des immensen
Rohstoffreichtum des Landes. Für einen Teil der politischen
Elite Rwandas sei der Ostkongo ihre „neue Front“, und rwandische
Journalisten sprächen offen von der „zivilisatorischen Mission“
ihres Landes in den Weiten des Kongo – als sprächen hier
Vertreter der früheren Kolonialmächte über ein afrikanisches
Land.
Offenkundig wird die aktuelle politische und gesellschaftliche
Stabilität in Rwanda - die auch mit dem in jüngerer Zeit
anhaltenden Wirtschaftsboom zusammenhängt - durch eine
Expansionspolitik zu Lasten des Nachbarn, des „kranken Mannes
Afrikas“ und maroden Riesenreichs Kongo, zusammengehalten.
Dies führt auch zu hasserfüllten Reaktionen bei einem Teil der
Kongolesen. Auf dem Schiff, das uns über den Kivu-See nach Goma
bringt – von wo aus wir nach Rwanda und später nach Burundi
zurückkehren -, lernen wir einen netten kongolesischen Arzt
kennen. Er leitet eine Klinik und eine Gesundheitszentrum in
Goma, das lange Jahr Epizentrum der Bürgerkriegszone im Ostkongo
gewesen war, und kümmert sich dort um die zahllosen
Vergewaltigungsopfer. Der brutale Bürgerkrieg im Osten der RDC,
mit wechselnden Fronten zwischen Rebellengruppen und
massenhaften Übergriffen von allen Seiten (inklusive der
schlecht bezahlten und kaum motivierten Regierungstruppen) auf
die systematisch ausgeplünderte Zivilbevölkerung, fordert vor
allem unter den Frauen Hunderttausende Opfer sexualisierter
Gewalt. Wir dürfen sein Gesundheitszentrum, wo diese Frauen auch
psychische Betreuung finden, besuchen. Der Doktor berichtet,
sein Bruder sei Mitglieder „in einer etwas extremistischen
Partei, die gegen die Rwander eintritt“, und habe deswegen
Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt. Sein Bruder sehe dies
zu extrem. Aber tatsächlich seien die Rwander Invasoren, und
deswegen bei allen Kongolesen im Verruf. Sie nähmen der
einheimischen Bevölkerung den Ackerboden weg. Als wir genauer
nachfragen, stellt sich heraus, dass unser Gesprächspartner
unter „Rwandern“ sowohl die Hutu-Rebellen der FLDR als auch die
offizielle Armee, und wohl auch die einheimischen kongolesischen
Tutsi im Umfeld des CNDP, versteht: Für ihn stecken sie ohnehin
alle unter einer Decke. Eine Sichtweise, die wir noch öfter
antreffen werden.
Auf dem Schiff nach Goma begegnen wir auf dem Oberdeck auch
einen ungemütlich aussehenden Europäer mit kastenförmigem,
schmalem Gesicht, der im Gegensatz zu uns jeden Kontakt zur
einheimischen Bevölkerung offensichtlich streng vermeidet. Im
Hafen von Goma werden wir zu „Formalitäten“ bei der Hafenpolizei
gebeten - ein anderer Ausdruck für die in zahllosen Varianten
anzutreffenden Bemühungen örtlicher untergeordneten Behörden,
den Besuchern ein weiteres Mal fünf Dollar unter irgendeinem
Vorwand abzuknöpfen. Dort treffen wir das Kastengesicht wieder,
und neben ihm einen wesentlich stämmiger wirkenden Weiben,
der bis dahin auf der gesamten fünfstündigen Überfahrt
unsichtbar geblieben waren. Freundlich frage ich den
vorgeblichen Leidensgenossen, woher die beiden denn kämen. Aus
Russland und der Ukraine stammen die beiden Hackfressen. Ich
würde meine Grobmutter
dagegen verwetten, soeben zwei Söldnern begegnet zu sein. „Nicht
unbedingt solchen, die hierzulande mit der Waffe kämpfen“,
präzisieren mir später örtliche kongolesische Bekannte. „Aber
höchstwahrscheinlich ist, dass sie zu den Söldnern im weiteren
Sinne zählen, die in gröberer
Zahl hier vor Ort sind - meist frühere russische oder
sowjetische Piloten. Sie steuern oft die Flugzeuge, mit denen
Rohstoffe heraus- und Waffen hereingeschafft werden.“
Der aktive Vulkan, der 18 Kilometer nördlich des Zentrums von
Goma liegt und zuletzt 2008 einen verheerenden Ausbruch hatte,
taucht die Stadt in aschefarbenen Rub.
Am Abend erfahren wir, dass wir uns gleichzeitig mit US-Aubenministerin
Hillary Clinton und Präsident Joseph Kabila in Goma befunden
haben. Clinton hatte in einer Rede die massive sexuelle Gewalt
im kongolesischen Bürgerkrieg verurteilt, und ansonsten, nach
Auffassung unserer Begleiter, weitgehend die rwandische Position
in der Region unterstützt.
Am
folgenden Vormittag kehren wir über Rwanda in Richtung Burundi
zurück. Als „Belohnung“ nach unserer Polit-Reise, und für das
humanitäre Engagement der jungen Teilnehmer am „Forum Nord-Süd“,
gibt es nun noch drei Tage Rundfahrt quer durch Burundi mit
landschaftlichen Sehenswürdigkeiten. Auf die Hügellandschaft im
Norden folgen die eher kahlen Hochplateaus im Zentrum des
Landes. In Teza und Djenda, auf der Wasserscheide zwischen dem
Nil- und dem Kongobecken, sticht das statte Grün der
Teeplantange ins Auge. Aber auch hier zeugt eine Stele, direkt
vor der Teefabrik von Teza, von der extremen Gewalt vergangenen
Jahr: Die Arbeiter des Etablissements waren 1996 durch einen
Angriff ethnoextremistischer Rebellen massakriert worden.
Jahrelang war die Teefabrik – die immerhin das zweitwichtigste
Exportgut des Landes verarbeitet – dicht, erst vor kurzem
eröffnete sie wieder ihre Tor. In Gishora wird die Kunst der
„Königstrommeln“, Wahrzeichen Burundis, kultiviert und die
Besucher werden mit donnerndem Trommelwirbel empfangen. Weiter
geht es über Mikrokreditanstalten, Krankenhäuser und ein
Waisenheim: das berühmte Waisenprojekt von Margarite Bankirantse
alias „Madame Maggy“, die während der Hochphase des Bürgerkriegs
die Kinder von Massakeropfern „aller Ethnien“ aufnahm. Die
Wasserfälle von Carera, die südlichste Quelle des Nil oder die
kochendheiben
Thermalquellen – mitten im Palmenwald – in der Nähe von Rugombe
runden das Bild ab. Zurück geht es im Küstengebirge am Ostrand
des Tangayika-Sees durch ausgedehnte Palmölplantagen.