Reportage
BURUNDI, RWANDA UND REPUBLIQUE DEMOCRATIQUE DU CONGO (R.D.C.)


von Bernard Schmid

10/09

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Die Nacht ist kurz, der Schlaf ist zu wenig: Knapp sieben Stunden benötigt der Flieger von Paris bis zum Umsteigen in Addis Abeba. Zwischendurch werden wir zweimal vom Personal der Ethiopian Airlines für eine Mahlzeit geweckt. Kurz nach sechs Uhr früh überfliegen wir den Obelisken – das Wahrzeichen von Addis Abeba -, Hochhaussiedlungen sowie Kathedralen mit Kuppeldächern und landen in der Hauptstadt Äthiopiens. Ihr moderner Flughafen kann sich sehen lassen. Nach fünf Stunden Aufenthalt geht es weiter: Eine kleinere Maschine fliegt die Hauptstädte von Rwanda und Burundi, Kigali respektive Bujumbura, an. Drei Stunden später werden wir im französischsprachigen Ostafrika sein.

Zunächst gleitet das Flugzeug über grüne Hochflächen, auf denen zahlreiche hell silbern schimmernde, langgestreckte Blechdächer – wie man sie in allen Bergländern im östlichen Afrika antrifft – in der Sonne aufblitzen. Einige Zeit später, nach dem Überflug über den Turkana-See, wechselt das Panorama radikal. Der Nordwesten von Kenya ist eine Halbwüste, die sich von oben als Mondlandschaft darstellt. Im Norden Ugandas weicht sie einer mit Bäumen durchsetzten Savanne. Später schäumt unten die Wellenbrandung des Victoria-Sees. Winzig klein ist die Landepiste von Entebbe, wo 1976 die berühmt-berüchtigte Flugzeugentführung durch (west)deutsche und palästinensische Militante endete, direkt am Ufer des Victoria Lake. Dort überqueren wir auch den Äquator. Bald darauf folgt eine Landschaft aus langgestreckten Hügelketten, die immer weiter durch breitere oder schmälere, grüne und grünscheckige Bänder unterbrochen wird. Ausnahmslos auf jeder kultivierbaren Fläche in Rwanda und Burundi, zweien der am dichtesten besiedelten Ländern Afrikas, wird Ackerbau betrieben.

Der Flughafen von Bujumbura, unserer ersten Station, ist fast winzig klein. Vier runde Waben beherbergen fast die gesamte Einrichtung. Drauben auf den Parkplätzen werden wir erwartet. Die knapp zehn Kilometer lange Strabe ins Zentrum der Hauptstadt von Burundi führt durch das Industriegebiet, wo ein Grobteil der wenigen Industrien des Landes – das noch zu 96 Prozent von Agrarproduktion und Agrarexporten (Kaffee, Tee) lebt – konzentriert ist: Fabriken für Farben, Lacke, aber vor allem Bierbrauereien. Dazwischen von Stacheldraht geschützte, grobe und auffällige Niederlassung der UN und ihres „Büros der Vereinten Nationen in Burundi“, BINUB, und wieder Brauereien. Bierfabriken haben in der gesamten Region, in Burundi und in den Nachbarländern, regen Absatz. Hergestellt werden vor allem Biere belgischer Herkunft in lokaler Lizenzproduktion, Amstel und Primus, neben Heineken, einer Marke niederländischen Ursprungs. Lange ziehen sich die Aubenmauern der Brauereien hin: Kirinyota mugenzi! (Auf Deinen Durst, Freund!) Kleine Gruppen stehen zu jeder Tageszeit Schlange, um am Eingang Eisbarren zu erwerben: Viele Einwohner besitzen keine Kühlschränke, aber wer an der Brauereitür den gefrorenen Stoff erwirbt, dem bleibt die Kühlwirkung einige Stunden lang erhalten.

Wir wurden erwartet, da wir von Paris aus Kontakte aufgenommen hatten. Zwei Gruppen von Europäern treffen an diesem und am folgenden Tag in der Hauptstadt Burundis ein. Unsere Gruppe besteht aus AktivistInnen von Menschenrechtsvereinigungen und anderen NGOs aus Frankreich, die zu Treffen mit örtlichen Organisationen verabredet sind. Die andere, gröbere Gruppe umfasst Jugendliche und junge Erwachsene aus Belgien und Québec – dem französischsprachigen Kanada -, die nach wenigen Tagen in eine Provinzhauptstadt im Norden Burundis, Ngozi, aufbrechen. Dort werden sie zusammen mit Gleichaltrigen aus Burundi und der benachbarten République Démocratique du Congo (RDC) zwei Wochen lang auf der Baustelle einer Schule arbeiten. Für dieses freiwillige humanitäre Engagement ist in Brüssel, Paris und Montréal sowie in Burundi und Congo geworben worden. Die Idee für dieses Engagement in einer „gemischten“ Gruppe ist durch die burundische Liga für Menschenrechte, auch „la Ligue Iteka (Ehre) genannt“, zu Anfang des Jahrzehnts entworfen worden. Seitdem findet einmal jährlich das „Forum Nord-Süd“ in den Nordprovinzen Burundis statt. Es soll, so die Absicht der Erfinder, auch Anlass zu gemeinsamen Debatten und Konferenzen über gesellschaftliche Themen, Menschenrechtsfragen u.ä. sein. Wir werden die Forumsleute am Ende ihres Aufenthalts wiedertreffen, und ich werde eine Veranstaltung zum Thema Einwanderungspolitik in Europa halten. Im Anschluss gurken wir zusammen mit der bunten Truppe drei Tage lang im Bus quer durch Burundi.

Aber zunächst trennen sich unsere Wege, denn unsere Gruppe bleibt erst einmal in Bujumbura. Wir treffen mit Führungsleuten von der Iteka-Liga, dem „Forum von Organisationen der Zivilgesellschaft“ FORSC und der „Koalition der Zivilgesellschaft für die Überwachung der Wahlen“ (COSOME) sowie Journalisten zu angeregten Gesprächen zusammen. Der FORSC ist eine Koalition aus 146 Verbänden und NGOs, unter ihnen mehrere Gewerkschaften; Letztgenannte sind in Burundi vor allem unter den Lehrerinnen und Lehrern von Bedeutung. Später folgen noch die „Beobachtungsstelle für die Rechte der Kinder“, die sich etwa auch um die Demobilisierung früherer Kindersoldaten – von denen es im Bürgerkrieg in Burundi (1993 bis 2008) mehrere Tausend gab – kümmert, und die Vereinigung für die Rechte von Häftlingen. Überall können wir mit wichtigen Leitungsmitgliedern sprechen: Monsieur Pacifique, Monsieur Jean-Marie, Monsieur David.

Die Menschenrechtsaktivisten sind besorgt. Im kommenden Jahr, 2010, ist in Burundi ein „Superwahljahr“ angesetzt: Im Frühjahr und Sommer werden sowohl der Präsident als auch das Parlament und die Kommunalversammlungen alle nacheinander neu gewählt. Die Manöver haben bereits begonnen. Eine der groben Diskussionen des Augenblicks zwischen der Regierungspartei CNDD-FDD (Nationale Koalition zur Verteidigung der Demokratie – Kräfte zur Verteidigung der Demokratie) und den anderen politische Parteien dreht sich um die Frage des Abstimmungsmodus. Die Alternative lautet bulletin unique oder bulletins multiples. In Europa würde es sich um eine Frage nach technischen Modalitäten handeln: Die eine Möglichkeit läuft darauf hinaus, wie in Deutschland auf einem einheitlichen Stimmzettel ein Kreuzchen hinter dem Namen – oder eher dem Bildsymbol, da grobe Teile der Bevölkerung keine Schulbildung genossen haben – einer Partei zu machen. Die andere Möglichkeit beruht auf dem französischen Wahlsystem: Auf einem Tisch im Wahlbüro liegen mehrere Stimmzettel bereit, für jede antretende Kandidatenliste gibt es einen. Davon wirft die Wählerin einen in einem Umschlag in die Urne, die übrigen nimmt man mit hinaus.

In Frankreich ist dieser letztgenannte Wahlmodus unbedenklich, und die nicht benutzten Stimmbulletins landen im Papierkorb. In einem Land wie Burundi, wo der politische Wettbewerb in den letzten Jahren häufig mit Waffengewalt und unter Rückgriff auf „ethnische“ Zugehörigkeiten ausgetragen wurde – und in einer Region, wo alle benachbarten Länder (Rwanda, Burundi, RDC) derzeit von früheren bewaffneten Rebellenbewegungen regiert werden – hingegen nicht. Bei der letzten Wahl im Juni 2005, bei denen die regierende CNDD-FDD mit über 60 Prozent gewann, wurden die Wähler in den Dörfern im Nachhinein von Waffen tragenden Anhängern der Gewinnerpartei dazu aufgefordert, die nicht benutzten Bulletins vorzuzeigen. Eine einfache Methode, um zu kontrollieren, wer wie gestimmt hat – unter Androhung von ernsthaften Repressalien.

Im Augenblick hat die Regierungspartei bereits entschieden, bei den Urnengängen im kommenden Jahr erneut das System der „vielfachen Stimmzettel“ (bulletins multiples) zu benutzen. Die Menschenrechtsorganisationen und NGOs fürchten deshalb, vor diesem Hintergrund, bereits ein erneutes Aufflammen von Spannungen und Gewalt. Zumal es auch in diesem Jahr schon ein paar ernstere Zwischenfälle gegeben hat, vor allem die Ermordung des Aktivisten Ernest Manirumva, der unermüdlich gegen Korruption und Selbstbereicherung der Eliten gekämpft hatte. Am 30. April wurde er in seinem Haus in der Avenue Sanzu im Stadtteil Mutanga-Sud – in dessen unmittelbarer Nachbarschaft wir, zufällig, untergebracht werden - von Bewaffneten entführt. Seine Leiche, so erzählen es Nachbarn, wurde kurz darauf dorthin zurückgebracht. Niemand in der Umgebung hatte reagiert, die Nachbarschaft war offenkundig eingeschüchtert. Offiziell handelt es sich um eine Tat von „Unbekannten“. Die Regierung unter Präsident Pierre Nkurunziza weib von des Hintergründen des Mordes angeblich nichts, was sehr Viele bezweifeln. Deshalb hat die Regierung, um ihre „Unschuld“ zu bewiesen, Beamte der US-amerikanischen Bundeskriminalbehörde FBI neben denen der eigenen Polizei zu den Ermittlungen hinzugezogen. Seitdem sind die Erkenntnisse jedoch um keinen Millimeter vorangekommen. Viele sind jedoch der Auffassung, in Wirklichkeit bräuchte man nicht lange zu suchen, um den Auftraggebern auf die Spur zu kommen.         

Burundi wurde ab 1993 von einem Bürgerkrieg erschüttert, der laut Auffassung von UN und Menschenrechtsverbänden rund 300.000 Menschenleben kostete und dessen letzte Ausläufer sich bis im Juni vergangenen Jahres hinzogen. Deswegen die massive, auffällige Präsenz der Vereinten Nationen im Land. Zahlreiche Waffen befinden sich jedoch noch im Umlauf, die bei Gewaltkriminalität und besonders bei Konflikten um die Landverteilung – in  einem Land, dessen Agrarfläche mit steigernder Bevölkerungszahl (derzeit acht Millionen bei 27.000 Quadratkilometern) und bei geringer Produktivität allmählich deutlich zu klein wird – zum Einsatz kommen.

Die Hintergründe des Konflikts in Burundi ähneln denen im nördlichen Nachbarland Rwanda, aber mit zum Teil umgekehrten Fronten. Sie wurzeln in einer gemeinsamen Geschichte. Beide Staaten sind, aufgrund ihrer geographischen Situation als küstenferne Bergländer „im Herzen Afrikas“, erst spät von Europäern entdeckt und kolonisiert worden, nachdem sie – aus geographischen Gründen – als einzige von den Aktivitäten und Streizfügen europäischer sowie arabischer Sklavenhändler verschont geblieben waren. Nach der Berliner Konferenz, bei der Afrika 1884 unter den Kolonialmächten aufgeteilt worden war, wurden beide Königreiche zunächst dem damaligen „Deutsch-Ostafrika“ zugeschlagen, das überwiegend aus dem späteren Tanzania bestand. Die deutsche Kolonialmacht reagierte aber äuberst indirekt und gestützt auf die traditionelle Monarchie und Feudalelite. Im Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich die Oberhoheit, zurück blieb ein deutscher Soldantefriedhof in Cibitoke im Nordwesten Burundis, der heute noch von der Landstrabe aus gut sichtbar ist.

Belgien erhielt später das Mandat des Völkerbunds – des Vorläufers der UN -, um das Gebiet der beiden Länder (gemeinsam als „Ruanda-Urundi“ bezeichnet) zu verwalten, und schlug es seiner damaligen Kolonie „Belgisch-Congo“ hinzu. Die Eliten der beiden Kolonialmächten, in Berlin und in Brüssel, waren von der damals in Europa weit verbreiteten Ideologie und Pseudowissenschaft der „Rassenkunde“ beeinflusst. Sie glaubten, in Rwanda und Burundi jeweils zwei verschiedene „Stämme“ – oder getrennte „Ethnien“ – anzutreffen, die Hutu und die Tutsi, und beschrieben sie nach „Rassenmerkmalen“: Die Tutsi seien relativ hellhäutig, grobgewachsen und intelligent, eine Art natürlicher Elite, die Hutu hingegen dunkelhäutiger und eine stumpfsinnig vor sich hinbrütende Masse. In Wirklichkeit gab es jedoch nie zwei getrennte ethnische Gruppen, vielmehr bildeten Hutu und Tutsi in der prä-kolonialen Feudalgesellschaft zwei soziale Kasten. Ihr Unterschied deckt sich ungefähr mit der sozialen Aufteilung zwischen Ackerbauern und (damals wohlhabenderen) Viehzüchtern und –besitzern. Um es ihrer Verwaltung einfach zu machen, schuf die belgische Kolonialmacht jedoch im Jahr 1931 starre Kategorien und teilte die gesamte Bevölkerung in getrennte „Ethnien“ auf: Wer mehr als zehn Rinder besab, wurde einfach administrativ zum „Tutsi“ erklärt, und wer weniger oder gar kein Vieh hatte, wurde zum „Hutu“. Erstere machten knapp 15, die Letztgenannten 85 Prozent der Bevölkerung aus. Daneben gab es als kleine Restgruppe die Twa oder BaTwa, eine kleinwüchsige Bevölkerungsgruppe, die man als Pygmäen bezeichnen könnten und die bis vor wenigen Jahren zurückgezogen in Wäldern lebten. Die belgische Herrschaft versuchte sich dabei anfänglich besonders auf die Tutsi und ihr Königshaus zu stützen.

Beruhte die administrative Einteilung auf sozialen Kategorien, so fuhren die Europäern gleichzeitig vor, Hutu und Tutsi als angebliche unterschiedliche Rassen zu beschreiben. Angeblich seien sie sogar getrennten geographischen Ursprungs: Die Hutu seien, so stand es bis in den achtziger Jahren in zahllosen Lehrbüchern, seien „Bantuneger“ (so ein deutsches geographisches Lexikon im Jahr 1983), die Tutsi hingegen stammten vom Nil, aus Ägypten oder dem Vorderen Orient. Diese Mischung aus Rassen- und weitgehend mythischer Herkunftslehre, traditionellen Ungleichheiten in der Feudalgesellschaft und moderner sozialen Ungleichheit wurde zur explosiven Mischung. Denn viele Hutu erklärten sich von nun ab, sobald die Unzufriedenheit wuchs, ihre schlechte soziale Situation aus der Vorherrschaft der „Tutsi-Rasse“ – und sie glaubten, dank der von den Europäern verbreiteten „wissenschaftlichen“ Lehre auch die „Lösung“ für das Problem zu besitzen: Diese „fremdstämmige Rasse“ solle doch das Land verlassen und „zu ihren Ursprüngen zurückkehren“. Die Rassifizierung der sozialen Frage hatte perfekt funktioniert.

Rwanda und Burundi wurden am 1. Juli 1962 formal unabhängig. Ökonomisch und politisch blieb eine starke Kontrolle und Vorherrschaft zunächst bei Belgien, später bei Frankreich, das Brüssels Rolle in Zentralafrika abzulösen begann. Der wichtige Unterschied lag jedoch darin, dass die alte Tutsi-Elite in Rwanda bei der Unabhängigkeit entmachtet worden war, was seit 1959 mit Massakern an Zivilisten unter den Tutsi einhergegangen war und zu Flüchtlingsbewegungen nach Uganda und Tanzania führte. Doch in Burundi behielten die Eliten unter „den Tutsi“ die politische und, vor allem, militärische Macht bei. Als Ethno-Extremisten aus den Reihen der Hutu auch in Burundi Massaker an der Minderheit vorbereiteten, schlug die – nach wie vor von Tutsi dominierte – Armee im Jahr 1972 präventiv zu und löschte einen Gutteil der Hutu-Elite, vom Offizier bis zum Oberschüler, neben zahlreichen Zivilisten aus.

Die traditionelle Konstellation verfestigte sich noch, bis Anfang 1993 in Burundi erstmals ein Präsident aus den Reihen der Hutu demokratisch gewählt wurde: Melchior Ndadaye. Sein Portrait steht heute auf einem zentralen Platz in Bujumbura, umrahmt von der Aufschrift: „Held der Demokratie“. Melchior Ndadaye wurde nach nur drei Monaten im Amt durch führende Militärs ermordet. Hutu-Extremisten, die schon vor seiner Amtseinführung – in der anfänglichen Erwartung, dass die Elite ihn gar nicht erst ins Präsidentenamt einziehen lassen würden – Massaker an Tutsi vorbereitet hatten, nahmen dies als Anlass zum Zuschlagen und zum Morden. Im Gegenzug löschte die nach wie vor von Tutsi dominierte Armee ganze Dörfer aus. Auch Tutsi-Extremisten verübten, „ethnisch“ motivierte, Anschläge und warfen etwa in Ngozi in Nordburundi Handgranaten in Schlafsäale für Schüler eines Internats. In der Hauptstadt Bujumbura bildeten sich „ethnisch reine“ Wohnbezirke: Tutsi-Zivilisten mussten aus von Hutu dominierten Stadtteilen – wie dem von radikalen Hutu-Kräften dominierten Armenviertel Kamenge – fliehen, und umgekehrt. Wer am falschen Ort angetroffen wurde, konnte durch die „Halskrause“, einen um den Hals gehängten und angezündeten Autoreifen, eines qualvollen Todes sterben. Und doch gab es die ganze Zeit über auch Menschen und Kräfte, die dieser Ethno-Logik aktiven oder (vor allem) passiven Widerstand leisteten: Das riesige Jugendzentrum von Kamenge etwa blieb während der ganzen Dauer des Konflikts über ausdrücklich für Kinder und Jugendliche aus allen „Ethnien“ offen, und kassierte deswegen finstere Drohungen. Auch heute macht das Jugendzentrum weiter, wo Sporteinrichtungen und Computerkurse zahllose Besucher anlocken - während, wie man uns dort erzählt, der nahe Stadtteil inzwischen wieder in Ansätzen „ethnisch gemischt“ geworden ist.

Zu Anfang dieses Jahrzehnts wurde im tanzanischen Arusha ein Friedensabkommen geschlossen und beendete 2000/01 offiziell den  Bürgerkrieg. Es sieht u.a. vor, dass erstmals auch Hutu expliziten Zugang zu den Offiziersrängen der Armee haben und dort künftig 40 % der Rangträger stellen sollen. Aber auch danach blieb eine bewaffneten Bewegung - mutmablich mit Unterstützung aus Libyen – aktiv, die ursprünglich aus der 1980 damals in der Illegalität gegründeten „Bewegung für die Emanzipation der Hutu“ (Palipehutu) hervorging wie mehrere andere Parteien, unter ihnen auch die aktuelle Regierungspartei CNDD-FDD. Die verbleibende Guerillabewegung nannte sich „Nationale Kräfte für die Befreiung“ (FNL, oder Palipehutu-FNL). Ihre Anführer waren zum Teil auch von christlich-fundamentalistischen Heilslehren beeinflusst und glaubten in ihrem zum Teil religiösen Wahn, Gott habe ihnen eine politische Mission verliehen. Vorwiegend vom dörflichen Hinterland der Hauptstadt, der Provinz Bujumbura-Rural, aus kämpften die FNL weiter. Ihre Guerilla rekrutierte auch Hunderte, vielleicht Tausende von Kindersoldaten, denen oft die Trommelfelle durchbohrt wurden, damit sie bei Angriffen nicht das Gewehrfeuer hören und „ängstlich flüchten“ könnten. Noch im April und Mai 2008 bombardierten sie die Hauptstadt Bujumbura, von den nahe gelegenen Hügeln aus, mit Granatwerfern.  

Aber am 10. Juni vergangenen Jahres unterzeichneten sie eine Vereinbarung, die die Niederlegung ihrer Waffen und ihre Umwandlung zu einer politischen Partei – ähnlich jener der früheren Guerillabewegung und jetzigen Regierungspartei CNDD-FDD – vorsieht. Auch die FNL möchten nun im kommenden Jahr zu den allgemeinen Wahlen im Land antreten. Einer ihrer Anführer, Agathon Rawsa, wurde vor kurzem zum Präsidenten der Nationalen Sozialversicherungskasse (INSS) ernannt; es ist nicht untypisch, dass Einstellungen auch auf hohen Positionen nicht nach Eignung, sondern nach rein politischen Kriterien vorgenommen werden. So leitet ein früherer Klempner heute das Office national du thé, das den zweitwichtigsten Ausfuhrartikel und Devisenbringer Burundis – den Tee – international vermarktet. In einem Interview mit der Zeitung Iwacu (Zusammen) bedauerte Agathon Rawsa Anfang August, das massenhafte Rekrutieren eigener Anhänger auf Posten in der Struktur bis zu den Wahlen sei ihm nicht möglich, „weil die Rekrutierung immer zu Jahresanfang stattfindet“.

Droht nun im kommenden Jahr die Gewalt wieder aufzuflammen, nachdem sich schon jetzt andeutet, dass es zu massivem Wahlbetrug kommen könnte? Nicht sicher, meinen die Menschenrechts- und NGO-Aktivisten sowie burundischen Journalisten, mit denen wir sprechen können. „Heute verläuft der Machtkampf nicht mehr entlang <ethnischer> Grenzen, sondern zwischen so genannten Hutu-Parteien“, meint einer von ihnen. Sowohl die Regierungspartei CNDD-FDD als auch die stärkste Oppositionspartei FRODEBU (Demokratische Front Burundis) wie auch die FNL stammen alle aus der, früher einheitlichen, Hutu-Bewegung. Deswegen, und weil viele Menschen im Lande von den Schrecken des Bürgerkriegs die Nase voll haben, habe sich die Mobilisierungskraft des <ethnischen> Bezugs abgenützt.

„Die Leute sehen, dass die <ethnische> Politik zum Teil Kasperltheater ist, hinter dem sich nur der Wunsch verbirgt, zu den Fleischtöpfen der Macht vorzudringen“ berichtet die burundische Journalistin Alice. Dies desillusioniert ihrer Auffassung nach. Anlässlich einer Verhandlungsrunde zwischen burundischen Parteien in Arusha habe der frühere südafrikanische Präsident Nelson Mandela die Teilnehmer auf den verschiedenen Seiten beobachtet – und zunächst geglaubt, die Gegensätze zwischen ihnen seien unversöhnlich. Danach habe er die Hutu- und Tutsi-Vertreter beim gemeinsamen Besäufnis am Abend wiedergetroffen, und sein Urteil revidiert. Dies, immerhin, könnte im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven tröstlich wirken. Das Urteil fällt in Bezug auf Rwanda, wo die jüngere Geschichte anders verlief, jedoch unterschiedlich auf. Sowohl die Burunder als auch die Menschen in Rwanda, mit denen wir später sprechen können, formulieren im Hinblick auf das nördliche Nachbarland Rwandas ein pessimistischeres Urteil: Dort ist es seit dem militärischen Sieg der früheren Tutsi-dominierten Guerilla RPF über die Organisatoren des Völkermords – im Juli 1994 – in der Öffentlichkeit tabu, die „ethnische“ Zugehörigkeit zu erwähnen. Die Erwähnung der Kategorien „Tutsi“, „Hutu“ oder „Twa“, die seit 1931 auf den Ausweisen gestanden hatte, ist ersatzlos gestrichen worden. Doch wiederholt müssen wir hören, dass im persönlichen Gespräch „jeder sich nach zehn Minuten im Klaren darüber ist, ob er es mit einem Hutu oder einem Tutsi zu tun hat“. Mehrere unserer Gesprächspartner sind der Auffassung, dass Rwanda „auf die Dauer auf einer Zeitbombe sitzen“ könnte, jedenfalls wenn das aktuelle Regime unter dem früheren RPF-Chef und jetzigen Staatspräsidenten Paul Kagamé destabilisiert werde oder die Kontrolle verlieren. Alte, zerstörerische Leidenschaften könnten durchaus neu entfesselt werden. 

Als drittes Land der Region besuchen wir die République démocratique du Congo, in ihrem östlichsten Zipfel. Auf unserem Fahrplan stehen die Städte Bukavu und Goma, die Zentren der beiden Provinzen Nord-Kivu und Sud-Kivu. Beide sind nach wie vor Kriegsgebiet, wobei die Kampfhandlungen und die massive Gewalt gegen Zivilisten sich inzwischen aus den Städten – die noch zur Mitte des Jahrzehnts heftig umkämpft waren – hinaus in ländliche Zonen verlagert haben. In den Stadtgebieten selbst hat die Staatsmacht der RDC sich inzwischen weitgehend behaupten können. In Bukavu sind wir beinahe erstaunt, wie wenig „Unsicherheit“ die Provinzhauptstadt der Bürgerkriegsregion im Augenblick scheinbar verströmt. Noch vor vier Jahren waren die Straben nachts menschenleer, Schusswaffen waren in grober Zahl im Umlauf. Heute ist es offenkundig kein Problem, nach ein Uhr früh aus einer Kneipe wie der ‚Dallas Club’ aus auf dem Heimweg zu gehen. Im Stadtgebiet wirkt die Lage für die Staatsmacht relativ unter Kontrolle. Manche öffentliche Gebäude sind in jämmerlichem Zustand, so das Ministerium für soziale Angelegenheiten der Provinz, das kaputte Fensterscheiben aufweist und auf man dem Putz fast dabei zusehen kann, wie er in letzten Resten von der Fassade herunterfällt. Ausdruck eines Staates, der sich nur mühsam stabilisieren konnte, während die natürlichen Reichtümer seines Territoriums unzählige Begehrlichkeiten bei in- und ausländischen Akteuren weckten. Von diesen Schwierigkeiten, den Anschein von Stabilität und Normalität zu organisieren, zeugen auch die fast unablässigen Wasser-, Strom- oder das Internet betreffenden Server-Ausfälle. Selbst im Internetcafé des teuersten Hotels am Platze, „Résidence“, wo wir an einem Abend Zugang zum World Wide Web suchen, fällt nacheinander der Strom und dann der gesamte Serverbetrieb aus. Und  in unserem, weit billigeren, Hotel bzw. Gasthaus gibt es die Hälfte der Zeit über entweder kein Wasser aus dem Hahn oder keinen Strom aus der Steckdose.

Nord-Kivu und Sud-Kivu oder jedenfalls Teile dieser Provinzen sind Kriegsschauplatz, seitdem die ganze Region 1997 in Flammen aufgegangen war: Damals hatten Rebellenarmeen vom äubersten Osten her das Staatsgebiet des damaligen Zaïre – der heutigen RDC – aufgerollt, um den langjährigen Diktator Mobutu Sese Seko zu stürzen. Militärisch geholfen hatte ihnen dabei die Armee und die Regierung Rwandas, und dies durchaus aus eigenem Interesse: Die Milizen der Hutu-Ethnoextremisten, die 1994 führend am Völkermord gegen die Tutsi in Rwanda beteiligt waren, hatten sich nach der Eroberung des Landes durch die RPF im Sommer 1994 in den Ostkongo geflüchtet. Ihre letzten Überreste, in Gestalt der FLDR („Demokratische Kräfte zur Befreiung Rwandas“), haben sich dort bis heute festgesetzt. Sie sitzen in schwer zugänglichen Waldregionen im Osten des kongolesischen Staatsgebiets, tyrannisieren die örtliche Bevölkerung und finanzieren ihren Kampf durch ihre Teilnahme an der Ausbeutung der massiven Rohstoffvorkommen – Gold, Diamanten, Coltan (für Mobiltelefone) – in der Region. Über mehrere Zwischenhändlerstufen gelangen die Rohstoffe in die ostafrikanischen Hafenstädte wie Mombassa und Daressalem, und von dort aus nach Indien, Europa oder Nordamerika. Aber auch die mit ihnen verfeindete rwandische Armee, die seit 1997 die „Hutu Power“-Milizen auf kongolesischem Boden bekämpft, hat an dieser Ausbeutung der „offenen Adern des Kongo“ – dessen Reichtümer der eigenen Bevölkerung zu allerletzt zugute kommen – teil. Ein modernes Stadtviertel in der rwandischen Hauptstadt Kigali, wo erste Buildings eines Geschäftsviertels mit Hochhäusern im Entstehen begriffen sind, hört auf den Namen „Coltan“. Dieser Rohstoff taucht in den Exportstatistiken Rwandas auf, obwohl er sich nicht unter dem Boden des Landes findet, sondern ausschlieblich im Ostkongo (und, in geringerem Ausmab, angeblich auch in Burundi).

Zunächst möchten wir in Uvira über die Grenze, das in nur 30 Kilometern von Burundis Hauptstadt Bujumbura am Tanganijka-See liegt. Doch wir erhalten Nachricht, dass die Route über Uvira nicht empfehlenswert sei: Am Vortag sei ein Auto auf dieser Strabe in einen Hinterhalt, mutmablich von FLDR-Rebellen, geraten und bei einem Schusswechsel seien Insassen getötet worden. Wir wählen also die Strabe über den Südwesten Rwandas nach Bukavu, am Ufer des Kivu-Sees. Von dort aus fahren wir weiter ins Landesinnere, wofür wir einen offiziellen guten Grund besitzen: Im Landschaftsschutzgebiet Kahuzi-Biega, rund 55 Kilometer landeinwärts von Bukavu aus, möchten wir die dort freilebenden Gorillas im Bergurwald besuchen. Was uns im Übrigen auch gelingt: Bis auf drei Meter kommen wir, in 2.400 Meter Höhe und nach stundenlangem Marsch durch das Unterholz, an den dort wild lebenden Gorillapatriarchen, „Chimanuga“, heran. Dank der Mithilfe der örtlichen Pygmäen, die das Naturschutzgebiet bewachen. Auch diese Menschen profitieren davon, da dank des Parks, der Besucher anlocken und eine Schutzfunktion für Flora und Fauna haben soll, erstmals von offizieller Seite Bemühungen unternommen werden, Häuser und Schulbildung für die Pygmäen zur Verfügung zu stellen. Letztere können so umgekehrt für das Schutzprojekt gewonnen werden.

Auf dem Weg ins Innere des Landes werden wir auch mit der politischen Situation der Region konfrontiert. Immer wieder fahren wir an Armeestützpunkten vorbei. Auf vorbeikommenden Militärs-LKWs tragen Soldaten manchmal eine Gesichtsmaske ähnlich wie Ninjas. Aus anderem Anlass sehen wir frühere Rebellen aus den Reihen des  CNDP („Kongress für die Verteidigung des Volkes“) des kongolesischen Tutsi-Rebellen Laurent Nkunda auf einem Armeefahrzeug sitzen. Die CNDP eroberten im Herbst 2008 einen bedeutenden Teil des Ostkongo und gingen im Namen der örtlichen kongolesischen Tutsi gegen die aus Rwanda stammenden Hutu-Extremisten – die ihre Bevölkerungsgruppe jahrelang bedrohten – vor. Ihr Vormarsch unter dem als gröbenwahnsinnig geltenden Rebellenchef und christlichen Laienprediger Laurent Nkunda wurde im November gestoppt. Sie sind offiziell vor kurzem in die kongolesische Armee integriert worden, nachdem es eine trilaterale Vereinbarung zwischen dem Kongo, Rwanda und dem früher durch die Rwander protegierten CNDP gegeben hat. Der Preis dafür war die Entmachtung des früheren Rebellenchefs Laurent Nkunda, der jenseits der Grenze in Rwanda unter Hausarrest gestellt wurde – der kongolesischen Regierung zuliebe, die jedoch auf seine Auslieferung drängt, bislang aber vergeblich. Die mitreisenden Kongolesen begrüben die früheren CNDP-Rebellen und äubern sich ironisch über deren offizielle „Integration und Vermischung“ in der kongolesischen Armee.

Ein vorbeikommender Militärlaster trägt die Aufschrift „Kimia-II“. Kimia (Zusammen) ist der offizielle Name der gemeinsamen Militäroperationen, welche die Regierungen der RDC und Rwandas im vergangenen Winter starteten, um die FLDR aus der Grenzregion zu vertreiben, sie zu besiegen oder zu zerstreuen. Erstmals hatte die kongolesische Regierung – die bis dahin eher die Hutu-Extremisten gegen das mehr oder minder verfeindete Nachbarland Rwanda unterstützt, zumindest toleriert hatte – in diesem Zusammenhang offiziell rwandische Truppen ins Land gelassen. Unter der Auflage, dass nunmehr auch die RDC ihren Beitrag zur Bekämpfung der „Hutu Power“-Milizen leiste; dass die rwandischen Truppen sich aber umgekehrt erstmals dazu verpflichten sollten, nach getaner Arbeit abzurücken. Ende Februar dieses Jahres wurde die Stufe „Kimia I“, an der Rwanda offiziell militärisch teilhatte, beendet. In der nun folgenden Phase, „Kimia II“, sollten die Rwander sich hingegen zurückziehen und die kongolesische Armee zusammen mit der UN-Truppe im Kongo – der MONUC – das Werk fortsetzen. Die US-Administration, vor und nach dem Amtswechsel von Bush zu Obama, stand als Vermittlerin dieser Vereinbarung dafür offenbar „Pate“.

Dies ist offiziell auch der aktuelle Stand. Sofern jedenfalls die Theorie. Alice, eine mitreisende burundische Journalistin, kritische Tutsi und mit zahllosen Kontakten in der Region ausgestattet, beobachtet jedoch etwas anderes: „Vor kurzem war ich in einem Hotel im Ostkongo. Dort waren auch rwandischsprechende Soldaten untergebracht, die mich als ihre <Schwester< begrübten. Ich dachte, es handele sich um frühere CNDP-Rebellen, die nun in die Armee integriert seien, da sie kongolesische Uniformen trugen. Die Männer sagten jedoch etwas anderes: Sie gaben an, sie seien rwandische Soldaten, die von ihrer Armee bei deren offiziellem Rückzug zurückgelassen worden seien und sich nun plötzlich offiziell als kongolesische Regierungssoldaten wiederfänden. Sie fanden ihre Situation sehr seltsam.“ Eine Reihe von Zeugenaussagen deuteten darauf hin, dass die rwandische Armee zwar offiziell, in Wirklichkeit jedoch nicht faktisch abgezogen sei. Zu verlockend sei die Aussicht, im riesigen Ostkongo zu bleiben – sowohl aus strategischen Sicherheitsmotiven als auch aufgrund des immensen Rohstoffreichtum des Landes. Für einen Teil der politischen Elite Rwandas sei der Ostkongo ihre „neue Front“, und rwandische Journalisten sprächen offen von der „zivilisatorischen Mission“ ihres Landes in den Weiten des Kongo – als sprächen hier Vertreter der früheren Kolonialmächte über ein afrikanisches Land.

Offenkundig wird die aktuelle politische und gesellschaftliche Stabilität in Rwanda - die auch mit dem in jüngerer Zeit anhaltenden Wirtschaftsboom zusammenhängt - durch eine Expansionspolitik zu Lasten des Nachbarn, des „kranken Mannes Afrikas“ und maroden Riesenreichs Kongo, zusammengehalten.

Dies führt auch zu hasserfüllten Reaktionen bei einem Teil der Kongolesen. Auf dem Schiff, das uns über den Kivu-See nach Goma bringt – von wo aus wir nach Rwanda und später nach Burundi zurückkehren -, lernen wir einen netten kongolesischen Arzt kennen. Er leitet eine Klinik und eine Gesundheitszentrum in Goma, das lange Jahr Epizentrum der Bürgerkriegszone im Ostkongo gewesen war, und kümmert sich dort um die zahllosen Vergewaltigungsopfer. Der brutale Bürgerkrieg im Osten der RDC, mit wechselnden Fronten zwischen Rebellengruppen und massenhaften Übergriffen von allen Seiten (inklusive der schlecht bezahlten und kaum motivierten Regierungstruppen) auf die systematisch ausgeplünderte Zivilbevölkerung, fordert vor allem unter den Frauen Hunderttausende Opfer sexualisierter Gewalt. Wir dürfen sein Gesundheitszentrum, wo diese Frauen auch psychische Betreuung finden, besuchen. Der Doktor berichtet, sein Bruder sei Mitglieder „in einer etwas extremistischen Partei, die gegen die Rwander eintritt“, und habe deswegen Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt. Sein Bruder sehe dies zu extrem. Aber tatsächlich seien die Rwander Invasoren, und deswegen bei allen Kongolesen im Verruf. Sie nähmen der einheimischen Bevölkerung den Ackerboden weg. Als wir genauer nachfragen, stellt sich heraus, dass unser Gesprächspartner unter „Rwandern“ sowohl die Hutu-Rebellen der FLDR als auch die offizielle Armee, und wohl auch die einheimischen kongolesischen Tutsi im Umfeld des CNDP, versteht: Für ihn stecken sie ohnehin alle unter einer Decke. Eine Sichtweise, die wir noch öfter antreffen werden.

Auf dem Schiff nach Goma begegnen wir auf dem Oberdeck auch einen ungemütlich aussehenden Europäer mit kastenförmigem, schmalem Gesicht, der im Gegensatz zu uns jeden Kontakt zur einheimischen Bevölkerung offensichtlich streng vermeidet. Im Hafen von Goma werden wir zu „Formalitäten“ bei der Hafenpolizei gebeten - ein anderer Ausdruck für die in zahllosen Varianten anzutreffenden Bemühungen örtlicher untergeordneten Behörden, den Besuchern ein weiteres Mal fünf Dollar unter irgendeinem Vorwand abzuknöpfen. Dort treffen wir das Kastengesicht wieder, und neben ihm einen wesentlich stämmiger wirkenden Weiben, der bis dahin auf der gesamten fünfstündigen Überfahrt unsichtbar geblieben waren. Freundlich frage ich den vorgeblichen Leidensgenossen, woher die beiden denn kämen. Aus Russland und der Ukraine stammen die beiden Hackfressen. Ich würde meine Grobmutter dagegen verwetten, soeben zwei Söldnern begegnet zu sein. „Nicht unbedingt solchen, die hierzulande mit der Waffe kämpfen“, präzisieren mir später örtliche kongolesische Bekannte. „Aber höchstwahrscheinlich ist, dass  sie zu den Söldnern im weiteren Sinne zählen, die in gröberer Zahl hier vor Ort sind  - meist frühere russische oder sowjetische Piloten. Sie steuern oft die Flugzeuge, mit denen Rohstoffe heraus- und Waffen hereingeschafft werden.“

Der aktive Vulkan, der 18 Kilometer nördlich des Zentrums von Goma liegt und zuletzt 2008 einen verheerenden Ausbruch hatte, taucht die Stadt in aschefarbenen Rub. Am Abend erfahren wir, dass wir uns gleichzeitig mit US-Aubenministerin Hillary Clinton und Präsident Joseph Kabila in Goma befunden haben. Clinton hatte in einer Rede die massive sexuelle Gewalt im kongolesischen Bürgerkrieg verurteilt, und ansonsten, nach Auffassung unserer Begleiter, weitgehend die rwandische Position in der Region unterstützt.

Am folgenden Vormittag kehren wir über Rwanda in Richtung Burundi zurück. Als „Belohnung“ nach unserer Polit-Reise, und für das humanitäre Engagement der jungen Teilnehmer am „Forum Nord-Süd“, gibt es nun noch drei Tage Rundfahrt quer durch Burundi mit landschaftlichen Sehenswürdigkeiten. Auf die Hügellandschaft im Norden folgen die eher kahlen Hochplateaus im Zentrum des Landes. In Teza und Djenda, auf der Wasserscheide zwischen dem Nil- und dem Kongobecken, sticht das statte Grün der Teeplantange ins Auge. Aber auch hier zeugt eine Stele, direkt vor der Teefabrik von Teza, von der extremen Gewalt vergangenen Jahr: Die Arbeiter des Etablissements waren 1996 durch einen Angriff ethnoextremistischer Rebellen massakriert worden. Jahrelang war die Teefabrik – die immerhin das zweitwichtigste Exportgut des Landes verarbeitet – dicht, erst vor kurzem eröffnete sie wieder ihre Tor. In Gishora wird die Kunst der „Königstrommeln“, Wahrzeichen Burundis, kultiviert und die Besucher werden mit donnerndem Trommelwirbel empfangen. Weiter geht es über Mikrokreditanstalten, Krankenhäuser und ein Waisenheim: das berühmte Waisenprojekt von Margarite Bankirantse alias „Madame Maggy“, die während der Hochphase des Bürgerkriegs die Kinder von Massakeropfern „aller Ethnien“ aufnahm. Die Wasserfälle von Carera, die südlichste Quelle des Nil oder die kochendheiben Thermalquellen – mitten im Palmenwald – in der Nähe von Rugombe runden das Bild ab. Zurück geht es im Küstengebirge am Ostrand des Tangayika-Sees durch ausgedehnte Palmölplantagen.

Editorische Anmerkungen

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