Wer wird "stärker aus der Krise herauskommen"?
Notizen zur Klassenkampfsituation in der BRD

von Alex Lehmann (RIO)

10/10

trend
onlinezeitung

Die anhaltende Wirtschaftskrise hat wieder ans Licht geholt, was lange Zeit von vielen Seiten geleugnet wurde: In Deutschland wird Klassenkampf geführt. Aber was heißt das für das politische Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital? Im Folgenden soll versucht werden, diese Frage zu beantworten, denn hieraus ergibt sich auch, wie wir als Teil der revolutionären Linken agieren können. Da einige Teile dieser Analyse in der revolutionären Linken umstritten sind (v.a. in Bezug auf die Linkspartei im zweiten Teil), freuen wir uns wie immer auf Kommentare und Kritik.

Nur wenige bringen die Verhältnisse der letzten Jahre so auf den Punkt wie der Börsenmakler Warren Buffet: „Es herrscht Klassenkrieg, aber es ist meine Klasse, die reiche Klasse, die diesen Krieg führt – und wir gewinnen.” [1]

Anders als Buffet ist die gesamte politische Elite Deutschlands darum bemüht, diese Verhältnisse zu verleugnen. Hier wird das Modell der Sozialpartnerschaft besonders betont: der Grundpfeiler einer "sozialen Marktwirtschaft" oder des "rheinischen Kapitalismus" sind die – hin und wieder durch staatliche Interventionen beeinflussten – Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und UnternehmerInnenverbänden, die den zu verteilenden "Kuchen", den Mehrwert, am Verhandlungstisch unter sich aufteilen sollen. So sagt auch Angela Merkel, das „wir“ „gestärkt aus der Krise hervorgehen“ können [2]. Wer ist dieses “wir”? Das könnte so interpretiert werden, als meinte sie im Sinne der Sozialpartnerschaft alle Menschen in Deutschland – doch in Wirklichkeit heißt das, dass das deutsche Kapital auf Kosten der ArbeiterInnenklasse gestärkt wird.

Schon die sozialen Einschnitte, die unter der SPD-Grünen (rot-grünen) Regierung von Gerhard Schröder begannen, konnten mit dieser Ideologie sehr erfolgreich gerechtfertigt werden. Die ArbeiterInnen sollten sich “möglichst nicht gegen ‘notwendige’ Einschnitte wehren, sondern den KapitalistInnen ein reibungsloses und profitables Wirtschaften ermöglichen. Das helfe dem ‘Standort Deutschland’, wodurch Reformen und Verbesserungen ermöglicht würden, die am Ende auch den Beschäftigten zu gute kämen.” [3]

Trotz der radikalen Einschnitte, welche die Hartz-Gesetze bedeuteten, gab und gibt es in der BRD so wenig Proteste wie in kaum einem anderem imperialistischen Land. Auch heute gibt es noch wenige Anzeichen, dass sich an diesem Regime etwas ändern wird. Obwohl die ökonomische Krise große Ausmaße angenommen hat, halten die Bürokratien der ArbeiterInnenbewegung sowie die meisten VertreterInnen der Bourgeoisie an der Sozialpartnerschaft fest. Trotz großer Vertrauensverluste integrieren SPD, die Linkspartei und die Gewerkschaften weiterhin große Teile der ArbeiterInnenklasse in der BRD.

Teil 1: Die schwarz-gelbe Regierung

Die Bundeswahl 2009 ist sehr widersprüchlich ausgefallen [4]. Auf der einen Seite hat die FDP fast 15 % der Stimmen erhalten und damit ihr historisch allerhöchstes Ergebnis eingefahren. Durch diese Verschiebung zugunsten der FDP konnte sich eine konservativ-liberale (schwarz-gelbe) Regierungskoalition bilden. Auf der ersten Blick erscheint dieses Ergebnis wie ein weiterer Rechtsruck eines europäischen Landes aufgrund der historischen Krise der Sozialdemokratie auf dem gesamten Kontinent – wie in den letzten Jahren in Italien, Großbritannien, Ungarn usw..

Aber auch die Linkspartei und die Grünen haben große Zugewinne gehabt. Der Niedergang der beiden “Volksparteien” CDU und SPD, die jahrzehntelang die deutsche Politik dominierten, führt zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft. Seit der Landtagswahl in NRW gibt es im Bundesrat keine schwarz-gelbe Mehrheit mehr, die notwendig für viele Gesetze wäre [5].

Die FDP konnte sich trotz des Wahlerfolgs jedoch nicht mit ihrer Strategie des Frontalangriffs auf die ArbeiterInnenbewegung durchsetzen. Ihre unverhüllte Klientelpolitik für einige Fraktionen der Bourgeoisie hat sie isoliert. So steht sie in Umfragen mittlerweile unter 5% und wird auch in der bürgerlichen Presse als "Mövenpickpartei" bezeichnet. Es ist nämlich kein Geheimnis, dass die Hotelsteuersenkung und andere Steuersenkungspläne, für die sich die FDP eingesetzt hat, ziemlich direkt auf die großzügigen Spenden von einigen wenigen KapitalistInnen zurückzuführen sind – wie z.B von August Fink, dem die Firma "Mövenpick” gehört. Der Absturz der FDP von 15 auf 5% innerhalb eines Jahres war Ergebnis einer Medienkampagne, die zum Ausdruck brachte, dass sich die Mehrheit der herrschenden Klasse gegen die Strategie entschied, die diese Partei verkörpert. Statt eines Frontalangriffs sollen die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse unter Mitwirkung der Gewerkschaftsbürokratie durchgeführt werden.

Unter diesem Stern stand auch der Rücktritt Horst Köhlers als Bundespräsident. Er ist zurückgetreten, weil er für seine Äußerungen in Bezug auf den Afghanistankrieg kritisiert wurde: Er sagte, ohne die üblichen Verweise auf Menschenrechte und Demokratie, dass Militäreinsätze für die Wirtschaftsinteressen der BRD notwendig sind. Hierfür wurde er aus den Reihen der Regierung wie der Opposition kritisiert, die an der phantasievollen Behauptung festhalten will, dass der jahrelange Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch für “die Freiheit” und nicht für die Interessen des deutschen Kapitals durchgeführt wird. Der Rücktritt Köhlers zeigte, dass auch hier der Ansatz, offen für die Interessen des Kapitals einzutreten, sich nicht durchsetzen konnte gegenüber dem Ansatz der Konsensfindung und eben der “Partnerschaft” zwischen den Klassen .

Damit ist CDU die dominante Kraft in der Regierung und vertritt die Mehrheit der Bourgeoisie, die weiterhin auf Sozialpartnerschaft setzt. Die Streitigkeiten in der Koalition haben zum Teil Ausmaße angenommen, dass die bürgerliche Presse über den baldigen Zerfall der Koalition spekulierte. Bei der Wahl eines neuen Bundespräsidenten musste es drei Wahlgänge geben, denn insbesondere FDP-Delegierte hatten sich dazu entschieden, nicht dem CDU-Kandidaten Wulff, sondern dem SPD-Kandidaten Gauck ihre Stimme zu geben – hauptsächlich, um der CDU zu trotzen. Aber jetzt ist dieser Streit zumindest vorläufig auf Kosten der FDP und zugunsten der CDU beigelegt worden.

Fußnoten

1. Ben Stein: "In Class Warfare, Guess Which Class Is Winning".

2. Angela Merkel: "Gestärkt aus der Krise hervorgehen".

3. RIO: Thesen zur Gewerkschaftsarbeit. Abschnitt 1a: Bürokratie.

4. Bundeswahlleiter: Endgültiges Ergebnis der Bundestagswahl 2009.

5. Daniel Friedrich Sturm: "Doppelte Mehrheit für Schwarz-Gelb schon dahin".

Teil 2: Die parlamentarische Opposition

Die parlamentarische Opposition aus SPD, Grünen und Linkspartei hat zur Politik der Regierung kein alternatives politisches Programm. Auch sie halten an der Sozialpartnerschaft fest, auch wenn sie die Interessen von einem der beiden "Partner" stärker betonen.

Vor dem Hintergrund der Regierungskrise gibt sich die SPD versöhnlich. Die Bundestagswahl 2009 war für die SPD die größte Wahlniederlage seit der Gründung der BRD. Trotzdem kam es zu keinem sonst üblichen Linksruck als Oppositionspartei: Wo sonst innerhalb der Partei Köpfe rollten und sie ihre bisherige Regierungspolitik verdammte sowie Besserung versprach, steht jetzt nahezu das gleiche politische Personal auf der Bühne wie zuvor.

Durch den Verlust einer schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat ist die SPD de facto zur Regierungspartei geworden. Parteivorsitzender Siegmar Gabriel drückte das folgendermaßen aus: "Auch ohne Große Koalition könnte man in den zentralen Fragen unseres Landes einen Pakt der Vernunft schließen." [1] Damit zeigt die SPD ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Bourgeoisie: als Regierungspartei auf Abruf.

Gleichzeitig versucht die SPD, als Opposition im Bundestag, die noch kleinen Proteste auf der Straße von vornherein für sich zu vereinnahmen. Sie kündigt beispielsweise an, die Vermögenssteuer wieder einführen zu wollen – ohne dabei zu erwähnen, dass sie gemeinsam mit der CDU die Abschaffung der Vermögenssteuer Anfang 1997 ermöglicht hatte (und in mehr als 10 Jahren an der Regierung nicht versuchte, diese wieder einzuführen). Sie will die Rente mit 67 später als geplant einführen – nachdem sie als Teil der Großen Koalition diese Reform durchsetzte. Sie kündigt erbitterten Widerstand gegen die "zu drastischen" Kürzungen an – sie schweigt aber darüber, wie sie diesen Widerstand organisieren wollen.

Die leichte Erholung bei den Umfragewerten der SPD sind (ähnlich wie der Absturz der FDP) auch Ergebnis einer Medienkampagne, die deutlich macht, dass Teile der herrschenden Klasse für die Rückkehr der Sozialdemokratie in die Regierung sind. Denn die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse gehen leichter über die Bühne, wenn ein "Genosse" wie Schröder an der Spitze der Regierung steht. Das Problem mit einer erneuten Regierungsbeteiligung der SPD ist nur, dass die Partei (ähnlich wie in der letzten Legislaturperiode) wieder zu zerfallen beginnen würde, womit sie auch ihren Nutzen für die Bourgeoisie verlieren würde [2].

Die Partei "Die Linke" ist mehr oder weniger gelähmt. Denn auch vier Jahre nach der Fusion von PDS und WASG ist die Partei gewissermassen noch zweigeteilt: Eine wirklicher programmatischer Zusammenschluss und ein einheitliches Selbstverständnis konnte noch nicht gefunden werden. Das eigentliche Parteiprogramm soll erst 2011 beschlossen werden [3].

Innerhalb der Linkspartei gibt es einen Ostteil, der den Status einer Volkspartei innehat und ein etablierter Teil des parlamentarischen Systems ist, v.a. in den ostdeutschen Kommunen. Das drückt sich auch durch ihre Regierungsbeteiligungen in den ostdeutschen Bundesländern aus. Hier dominieren deutlich die "PragmatikerInnen", die die Mobilisierung auf der Straße längst aufgegeben haben und Politik vollständig aus dem Parlament heraus machen wollen. Ihre soziale Basis besteht in erster Linie aus RentnerInnen aus der ehemaligen DDR.

Der Westteil der Linkspartei dagegen hat sehr viel weniger Mitglieder als die ostdeutschen Landesverbände (von insgesamt 78.000 Mitgliedern in ganz Deutschland gehören den westdeutschen Landesverbänden knapp 29.000 Menschen an und den ostdeutschen etwa 48.500 [4]) und wirkt in vieler Hinsicht "linker". Das liegt in erster Linie daran, dass bisher kein westdeutscher Landesverband an einer Regierung beteiligt war (obwohl sie auch im Westen immer wieder nach Regierungsbeteiligung streben).

Im Westen sammeln sich viele radikale Linke in der Linkspartei, darunter mehrere trotzkistische Gruppen [5]. Doch die wichtigste soziale Basis der Partei im Westen ist der untere bis mittlere Teil der Gewerkschaftsbürokratie, die ihre historische Verbindung zur SPD vor ihren Mitgliedern nicht mehr rechtfertigen konnte. Exemplarisch hierfür steht Klaus Ernst: als ein Regionalfürst der IG Metall, der es jedoch nicht in den Gewerkschaftsvorstand schaffte, trat er mit der WASG aus der SPD aus und ist nun Vorsitzender der Linkspartei. Aber auch wenn der Anteil der GewerkschaftlerInnen in der Linkspartei stetig zunimmt, ist der Gewerkschaftsapparat größtenteils noch fest in Händen der SPD.

Die Linkspartei erweckt immer wieder den Eindruck, als sehne sie sich zur SPD der 70er Jahre zurück. Parteivorsitzender Gregor Gysi argumentiert, sie wollen die SPD "resozialdemokratisieren", und Oskar Lafontaine beruft sich auf Willy Brandt. Ihre Analyse der Krise besteht darin, Ratschläge für eine Erneuerung der "sozialen Marktwirtschaft" zu geben und damit die langfristige Entwicklung des Kapitalismus zu sichern. Sie wollen eben "das Casino schließen". Damit trennen sie Finanzwirtschaft von der "realen", "produktiven" Wirtschaft, und übersehen dabei, dass Finanz- und Industriekapital seit etwa hundert Jahren komplett verschmolzen sind (z.B. machen die meisten großen Autokonzerne genauso viele Profite mit Finanzgeschäften wie mit der Produktion von Autos).

Auch wenn der ehemalige Vorsitzende Lafontaine immer wieder politische Streiks forderte, taucht dieser Begriff bei den aktuellen politischen Vorschlägen der Linkspartei praktisch nicht mehr auf. So schrieb ihr Vorstand zur Krise: "Im Unterschied zur Regierung haben wir ein konkretes Programm, mit dem die Finanz- und Wirtschaftskrise tatsächlich und dauerhaft überwunden werden kann, weil es ihre Ursachen bekämpft." [6] In anderen Worten: ein krisenfreier Kapitalismus sei möglich.

Der wesentliche Unterschied zwischen der Linkspartei und der SPD besteht darin, dass erstere eine Ausweitung der Ausgaben fordern, während letztere sich darauf beschränken, "gerechtere" Kürzungen zu fordern. Die Linkspartei drängt auf weitere höhere Konjunkturpakete, also für mehr Staatsintervention und mehr Staatsquote. Aber beide Parteien wollen grundsätzlich die Krise mittels keynesianistischer Staatsinterventionen bekämpfen – die Linkspartei zielt genauso wenig wie die SPD darauf, "die Krise des kapitalistischen Systems durch den revolutionären Sturz desselben zu beenden." [7]

So kann die Linkspartei diese Situation der Krise nicht wirklich nutzen. Große Teile von ihr wollen unbedingt rot-rot-grün als Regierungskoalition etablieren, aber die Partei wird zurzeit noch stiefmütterlich von der SPD und den Grünen behandelt – das haben zuletzt die extrem kurzen Koalitionsverhandlungen mit ihr in NRW gezeigt. Für die Bourgeoisie gibt es noch wenig Grund für den Versuch, die Linkspartei in das politische System in Westdeutschland zu integrieren, da sie nicht genug Protestpotential verkörpert, dass sich ihre Integration (und die damit verbundene Lähmung dieses Potentials) lohnen würde [8].

Bündnis 90/Die Grünen wird in den nächsten Jahren an Bedeutung zunehmen, denn laut aktueller Umfragewerte ist die Partei auf einem historischem Höhepunkt. Aus den Wahlen in Berlin und Baden-Württemberg könnte sie mit fast 30% der Stimmen als größte Gewinnerin hervorgehen [9]. Die Grünen können als eine "soziale" bürgerliche Partei bezeichnet werden: ihre Basis besteht aus gut verdienenden ArbeiterInnen, KleinunternehmerInnen oder sonstigen "BildungsbürgerInnen", d.h. dem Kleinbürgertum (also jene Schichten der Gesellschaft, die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie schwanken).

Diese soziale Basis erklärt auch das politische Profil der Grünen: Ihre Schwerpunkte liegen bei der Umwelt und der Bildung, um die Mittelschicht und v.a. "grüne" KapitalistInnen zu fördern. Mit Regierungsbeteiligungen auf Landesebene zusammen mit der CDU in Hamburg und im Saarland (neben der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zusammen mit der SPD zwischen 1998 und 2005) können sich die Grünen zunehmend als attraktive Option für die Bourgeoisie präsentieren, die im Vergleich zur CDU in der Regel pragmatischer wirkt [10].

Die Grünen gelten wie SPD und Linkspartei als irgendwie "links", doch im Gegensatz zu den letzten beiden sind sie nicht strukturell von der ArbeiterInnenbewegung abhängig. Sie haben einen gewissen Bezug zur ArbeiterInnenbewegung (ver.di-Chef Frank-Bsirske z.B. ist Mitglied), jedoch ist dies nicht ihre wichtigste Basis. Wenn man das Verhältnis zu den Gewerkschaften an der Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder in den Bundestagsfraktionen misst, sind die Grünen deutlich hinter der SPD (73%) und der Linkspartei (65%), aber mit 27% trotzdem deutlich vor CDU/CSU (4%) und FDP (2%) [11]. Bei der Bundestagswahl 2009 wurden die Grünen von Gewerkschaftsmitgliedern nicht besonders viel gewählt (wie die SPD und die Linke), aber auch nicht besonders wenig gewählt (wie die CDU/CSU und die FDP): Ihr Ergebnis unter den Gewerkschaftsmitgliedern entspricht ungefähr dem unter allen WählerInnen [12].

Fußnoten

1. Handelsblatt: "Die SPD ist zur Kooperation bereit".

2. Wir gehen von der These aus, dass die SPD immer noch eine "bürgerliche ArbeiterInnenpartei" ist, obwohl diese Kategorisierung von einigen trotzkistischen Gruppen abgelehnt wird. Dazu werden wir in nächster Zeit eine besondere Analyse vorlegen.

3. Rosa-Luxemburg-Stiftung: Zur Programmdiskussion der Partei DIE LINKE.

4. Linkspartei: Mitgliederzahlen Dezember 2009.

5. Siehe Abschnitt zur radikalen Linken im vierten Teil des Artikels.

6. Linkspartei: Beschluss des Parteivorstandes vom 3. Juli 2010.

7. RIO: Für einen europäischen Generalstreik!

8. Im Osten sieht das natürlich anders aus. Nach den Abgeordnetenhauswahlen im September 2006 in Berlin wurde viel Wert darauf gelegt, die Linkspartei in die Regierung zu holen. Dazu schrieben wir: "Es hieß aus dem einflussreichen Pankower Bezirksverband der SPD, man möchte vermeiden, ‘dass der Osten der Stadt in die Opposition geht’. Im Klartext: Die (immer noch) Hunderttausende PDS-WählerInnen werden eher von sozialen Protesten fernbleiben, wenn ‘ihre’ Partei den Sozialabbau mitgestaltet." Das Wahlvolk spricht... und gähnt....

9. Gereon Asmuth: "Grüne und SPD gleichauf".

10. So hielt die CDU lange Zeit an der aus Sicht der Erfordernisse des deutschen Imperialismus völlig sinnfreien Wehrpflicht fest, aufgrund von "Tradition" und "Werten". Die Grünen dagegen sind nur dann für den Militarismus, wenn er dem deutschen Kapital wirklich hilft, und nicht einfach aus Prinzip.

11. Beispiel 16. Deutscher Bundestag.

12. Anne Seibring: Die Gewerkschaften im Fünf Parteiensystem. In: Gewerkschaften. ApuZ 13-14.

Teil 3: Die Krisenpolitik der Regierung

Verschiedene Maßnahmen der Bundesregierung konnten die Auswirkungen der Wirtschaftskrise etwas mildern. So konnte das Kurzarbeitergeld die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, die eigentlich während der Krise hätte kommen müssen, zumindest verschieben. Dieses sehr teure Instrument wurde bereits zweimal verlängert, soll jedoch Mitte 2012 auslaufen. Die Massenentlassungen und die Massenproteste dagegen, die Frankreich im Jahr 2009 erschütterten, blieben in der BRD größtenteils aus [1].

Bei Kurzarbeit arbeiten die Beschäftigten über einen gewissen Zeitraum weniger oder sogar überhaupt nicht. Der dadurch entstehende Verdienstausfall wird zum Teil durch den Staat ausgeglichen. Am Ende ist es die ArbeiterInnenklasse selbst, die dieses Geld in Form von Steuern zurück bezahlen soll, und nicht die KapitalistInnen. Letztere können den zu erwartenden Mehrwert in ihrem Interesse weiter investieren und müssen kaum etwas an den Staat zurück bezahlen.

Das Kurzarbeitergeld war also letztendlich kein Zugeständnis an die deutsche ArbeiterInnenbewegung, sondern eine Subvention zugunsten des deutschen Kapitals, das seine Produktionsmittel dadurch "retten" konnte. So besitzt es jetzt gegenüber Kapitalfraktionen in Ländern, in denen viele Produktionsmittel im Laufe der Krise vernichtet wurde, einen klaren Vorteil. Das leichte Wirtschaftswachstum in der BRD durch Exporte in die sogenannten “Schwellenländer” läuft vor allem auf Kosten von KonkurrentInnen aus anderen imperialistischen Ländern.

Weiterhin hat die Regierung am 7. Juni ein sehr umfangreiches Sparpaket vorgestellt [2]. Demnach soll der Haushalt in den nächsten zehn Jahren um 80 Milliarden Euro erleichtert werden. Es sollen 15.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen werden und Gehaltserhöhungen für alle anderen Beschäftigten in diesem Sektor sollen für einige Jahre ausbleiben. Aber in erster Linie werden Arbeitslose angegriffen: Auf ihre Kosten gehen rund ein Drittel der Kürzungen. Die Zuschläge, die zwei Jahre lang beim Übergang von ALG I zu ALG II gezahlt wurden, sollen jetzt entfallen. Dazu kommt die Streichung des Elterngeldes und des Heizkostenzuschusses für WohngeldempfängerInnen. Außerdem wird der aus Steuergeldern finanzierte Rentenversicherungsbeitrag gestrichen, was letztlich über höhere Beiträge für andere BeitragszahlerInnen wieder ausgeglichen werden muss. Das belastet auch die Kommunen, die für RentnerInnen stärker werden aufkommen müssen. Insgesamt werden die Einsparungen bei den Arbeitslosen vor allem dadurch geregelt, dass Leistungen, die vorher Pflicht waren (wie Umschulungen und Weiterbildungen), jetzt dem Ermessen der örtlichen Arbeitsämter obliegen. Insgesamt sollen im ersten Jahr zwei Milliarden Euro eingespart werden – bis 2014 soll die Einsparung auf sechs Milliarden Euro jährlich steigen.

Arbeitslose sind eine der Gruppen, die sich besonders wenig gegen solche Einschnitte wehren können, und gegen die besonders gerne medial vorgegangen wird. Das war z.B. an der Diskussion zu erkennen, die Guido Westerwelle (FDP) durch seine Äußerungen angestoßen hat: Hartz-IV-BezieherInnen würden in "spätrömischer Dekadenz" leben und somit gewissermaßen schuld am Niedergang der Zivilisation sein.

Der Angriff auf die Arbeitslosen ist ein erster Schritt eines umfassenderen Sozialabbaus. Über den Druck auf die Arbeitslosen wird zusätzlicher Druck auf Beschäftigte ausgeübt, was sich in den anstehenden Tarifrunden bei den Löhnen und Arbeitszeiten bemerkbar machen wird. Diese befinden sich ohnehin in einer gefährdeten Position durch die Gesetze, mit denen die rechtliche Basis für prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit gelegt wurde, und die Rente mit 67. Damit soll die ArbeiterInnenklasse Betrieb für Betrieb angegriffen werden, um einen gemeinsamen Widerstand der gesamten Klasse möglichst zu verhindern – und die Gewerkschaftsbürokratie spielt dieses Spiel gern mit.

Aber es kommen auch einzelne Angriffe auf alle: Es ist schon eine Gesundheitsreform in Arbeit, die die Gesundheitsversorgung der unteren Lohngruppen stark verschlechtern wird. Auch die Renten werden derzeit eingefroren, um demnächst gekürzt zu werden.

Mangelnde Opposition

Die Stabilität der Regierung ist vor allem deshalb nicht aus den Fugen geraten, weil die Opposition gegen sie kaum existiert. Auf der parlamentarischen Ebene finden sich mit Ausnahme der am Boden liegenden FDP ausschließlich sozialpartnerschaftliche Ansätze. Aber auch außerhalb des Parlaments sind Ansätze für wirkliche Opposition schwer zu finden.

Die Gewerkschaften haben das Sparpaket stark kritisiert, aber sie vermeiden die Konfrontation mit der Regierung. Ihre Proteste sind erst im Herbst 2010 geplant – anstatt im Juni, als das Sparprogramm im Kabinett gebilligt wurde. Ihr Handeln beschränkt sich weiterhin auf Standortlogik: Dass die Gewerkschaften bereit sind, Einschnitte zum Wohl des “Standortes Deutschland” hinzunehmen, haben sie schon bei den Hartz-Reformen bewiesen, als sie selbst in der Kommission saßen und bei den Protesten eine zurückhaltende Rolle gespielt haben. Dass Gewerkschaften diese Rolle übernehmen, ist nicht neu und auch nicht auf Deutschland beschränkt. Dafür ist vor allem die Existenz eines riesigen bürokratischen Apparats mit einer großen Anzahl fest angestellter GewerkschaftsfunktionärInnen verantwortlich. Diese bürokratische Kaste hat ein materielles Interesse daran, sich selbst und in der Folge auch das kapitalistische System, von dem sie lebt, aufrecht zu erhalten [3].

Am 29. September gibt es einen europäischen Aktionstag, der in seinem Niveau hinter die bisherigen Krisenproteste zurückfallen wird. Anstatt, dass in allen europäischen Städten demonstriert und gestreikt wird, soll es eine einzige Demo in Brüssel geben, zu der der DGB ein paar Busse schicken wird [4]. Die darüber hinaus geplanten Demonstrationen, z.B. in Berlin, finden nur dank der Organisation durch linksradikale Gruppen statt, deren Anstrengungen die Gewerkschaftsbürokratie so gut wie möglich zu bremsen versucht. Die GewerkschaftsbürokratInnen greifen zu ihren Lieblingsmitteln wie Lobbying und reduzieren sich damit auf eine einfache Interessenvertretung neben vielen anderen. Sie verweigern, so weit wie möglich, den politischen Einsatz von Streiks oder gar Generalstreiks, was historisch gesehen eigentlich die Stärke der Gewerkschaften ausmacht.

Der DGB geht auch intern gegen weniger sozialpartnerschaftliche oder gar klassenkämpferische Ansätze vor. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Gruppe "Alternative" beim Daimler-Werk in Berlin-Marienfelde, deren Mitglieder zugleich IG Metall-Mitglieder sind. Sie hat bei den letzten Betriebsratswahlen eine eigene Liste aufgestellt und dabei 25% der Stimmen bekommen [5]. Die Mitglieder der Alternative sollten aus der IG Metall ausgeschlossen werden, aufgrund von ”gewerkschaftsschädigendem Verhalten” [6]. Die Aufstellung einer eigenen Liste war jedoch für die “Alternative” nötig, da sie nicht zur Kandidatur auf der IG Metall-Liste zugelassen wurden, und nur so eine politische Alternative zum sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftskurs aufgezeigt werden konnte.

Im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Sozialpartnerschaft kann auch das Aufbegehren des DGBs gegen die Aufhebung der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht gesehen werden. Damit eng verbunden ist das Modell der Einheitsgewerkschaft, wonach es nicht nur in einem Betrieb, sondern in einer Branche nur einen Tarifvertrag und eine Gewerkschaft geben sollte. Diese Tarifeinheit ist in den letzten Jahren durch das Wachstum von Spartengewerkschaften wie Cockpit (PilotInnen) und GDL (LokführerInnen) in der Praxis aufgehoben worden – nun wurde auch die Rechtsprechung dazu entsprechend geändert. Nachdem der DGB durch permanenten Verzicht die Gründung der Spartengewerkschaften begünstigt hatte, will er seine Monopolstellung per Gesetz sichern – und das gemeinsam mit dem Unternehmerverband BDA, der auf die gemäßigte Politik des DGBs vertrauen kann.

Der DGB und der BDA haben als Reaktion auf das Arbeitsgerichtsurteil eine Initiative zur "Wiederherstellung der Tarifeinheit" begonnen. Laut ihrer Vorstellung soll ausschließlich der Tarifvertrag der größten Gewerkschaft des jeweiligen Betriebes gelten. Gleichzeitig wären andere Gewerkschaften für die Dauer des Tarifvertrages an die Friedenspflicht gebunden. Vor dem Hintergrund dieser Initiative kam es jedoch auch zu ersten Spannungen innerhalb der DGB-Gewerkschaften. Insbesondere die Gruppen des DGB, welche keine Mehrheit vor Ort haben, begehren auf. Sie kritisieren, das der Dachverband diese "Kollateralschäden" billigend in Kauf nehmen würde. Grundsätzlich würde das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit durch ein solches Gesetz ernsthaft bedroht werden [7].

Die Aufhebung der Tarifeinheit wird die Gründung von Nicht-DGB-Gewerkschaften begünstigen. Auf der einen Seite wird die Gründung von gelben Gewerkschaften, also bloßen Scheingewerkschaften, die durch die Unternehmen gesteuert werden, beschleunigt. Auf der anderen Seite könnten auch linke und kämpferische Gewerkschaften entstehen. Solche Neugründungen machen allerdings nur dann Sinn, wenn ein relevanter Teil der ArbeiterInnenklasse die Einsicht gewinnt, dass die DGB-BürokratInnen ein nicht zu überwindendes Hindernis für die Verwirklichung ihrer Interessen sind. Die Proklamation von “linken” oder “revolutionären” Gewerkschaften ohne eine nennenswerte Basis in den Betrieben ist reiner (Selbst-)Betrug und würde zur Isolierung von der ArbeiterInnenklasse führen – stattdessen fängt der Kampf für linke und kämpferische Gewerkschaften innerhalb der DGB-Gewerkschaften an. Die Frage, ob es zu neuen linken oder neuen gelben Gewerkschaften kommt, wird vor allem davon abhängen, ob sich der Klassenkampf zuspitzt und die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen in den Betrieben zunimmt. Denn durch eine Zersplitterung könnte der DGB unter Druck geraten, kämpferischer aufzutreten – oder genauso gut die allgemeine Passivität verstärken. RevolutionärInnen müssen beim Eintreten für die Einheit der ArbeiterInnenbewegung auf solche Neugründungen äußerst flexibel regieren [8].

Fußnoten

1. Vor der Bundestagswahl schrieben wir: “Das staatliche Kurzarbeitergeld läuft genauso wie die Abwrackprämie zum Jahresende hin aus. Damit wurde die massive Entlassungswelle auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben.” (RIO: Haben wir eine Wahl? Aufruf zu den Bundestagswahlen am 27. September.) Doch dieses Instrument wurde nach der Bundestagswahl tatsächlich mehrmals verlängert.

2. Bundesregierung: “Grundpfeiler unserer Zukunft stärken”.

3. RIO: Thesen zur Gewerkschaftsarbeit. Abschnitt 1a: Bürokratie.

4. RIO: Für einen europäischen Generalstreik!

5. Trend: Betriebsratswahlen 2010: Klassenkämpferische KandidatInnen - erste Ergebnisse.

6. Solikomitee: Gegen Ausgrenzung und Ausschlüsse aus der IG Metall!

7. Daniel Beruhzi. “Konflikt um Einheit”. Junge Welt. 16. August 2010.

8. RIO: Thesen zur Gewerkschaftsarbeit. Abschnitt 2e: Einheit.

Teil 4: Eine Krise der Klassenherrschaft?

Auf der etablierten politischen Bühne in und außerhalb des Parlaments verändert sich trotz einer sehr schweren ökonomischen Krise noch wenig. Allerdings kann man eine wachsende Krise des politischen Systems beobachten.

Nicht nur die Gewerkschaften leiden immer stärker unter dem Mitgliederverlust gegenüber den 90er Jahren – gleichzeitig findet eine starke Erosion der Glaubwürdigkeit nahezu aller etablierten politischen und gesellschaftlichen Institutionen statt. Das Phänomen der "Volksparteien" CDU und SPD ist fast schon Geschichte. Die Wahlbeteiligung auf allen Ebenen sinkt. Besonders betroffen sind hier die überstaatlichen Institutionen wie die EU. Das wurde am Widerstand gegen den Vertrag von Lissabon und der sinkenden Beteiligung an EU-Wahlen (seit 1999 weniger als die Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung [1]) deutlich. Das Vertrauen in den Kapitalismus ist mit der Weltwirtschaftskrise Krise stark gesunken: Laut einer BBC-Studie vom November 2009 waren nur 11 Prozent der Menschen der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form gut funktioniere [2].

Die Macht dieser Institutionen besteht also weniger darin, die ArbeiterInnenklasse aktiv in ihr System zu integrieren. Vielmehr gelingt es ihnen weiterhin, alternative Ansätze als noch schlechter und sich selbst als kleineres Übel darzustellen, sodass die Herrschaft auf der Grundlage von Desinteresse und Apathie aufrecht erhalten werden kann.

In Deutschland gab es verschiedene vereinzelte Proteste. Die Bildungsstreiks waren für sich die größten Aktionen, haben sich jedoch vor allem isoliert auf Bildung bezogen und konnten keinen gesellschaftlichen Zusammenhang herstellen [3]. Der einzige wirkliche Protest in Deutschland seit der Bundestagswahl 2009 waren die Krisendemos. Doch auch dieser Ansatz von Widerstand blieb zersplittert. Die Gewerkschaften haben nur auf regionaler Ebene zur Teilnahme an den Krisendemos aufgerufen, aber nicht der DGB als solcher – dabei waren eben nur untere und mittlere Teile des Apparats.

Bei der Krisendemo in Berlin am 12. Juni 2010 war in erster Linie die radikale Linke und später auch die Linkspartei versammelt, dazu einzelne Gewerkschaftsgliederungen. Am gleichen Tag in Stuttgart waren auch die Grünen und die SPD dabei. Hier wurde jedoch auch ein SPDler von DemonstrantInnen mit Eiern beworfen. Dabei sind die Gewerkschaften weiterhin in der Lage, viele Beschäftigten auf die Straße zu bringen. So haben im März 2009 die radikale Linke und die untere Gewerkschaftsbürokratie ca. 40.000 Menschen zu ihrer Krisendemo mobilisieren können, wohingegen die Gewerkschaften in einer getrennten Krisendemo im Mai 100.000 mobilisieren konnten. Dabei ließen sie Prominente von SPD und Grünen an der Spitze ihrer Demonstration laufen.

Gleichzeitig ist die revolutionäre Linke in der BRD sehr schwach und von der ArbeiterInnenbewegung isoliert. Positiv kann man hier zur Kenntnis nehmen, dass einige autonome Gruppen sich verstärkt auf die ArbeiterInnenbewegung beziehen. Hierzu zählen "Für eine linke Strömung" (FelS), Gruppe soziale Kämpfe (GsK) und auch die Antifaschistische Linke Berlin (ALB). Wo noch vor wenigen Jahren die ArbeiterInnenklasse als politisches Subjekt abgelehnt wurde, ist nun die Rede von "Klassenkampf" oder zumindest "sozialen Kämpfen". Allerdings tendieren diese Teile der autonomen Linken eher dazu, sich auf die (untere) Gewerkschaftsbürokratie zu beziehen, als auf die Gewerkschaftsbasis oder nicht organisierte ArbeiterInnen.

Dies steht beispielsweise bei FelS in engem Zusammenhang mit ihrem allgemeinen Verständnis von der sozialen Revolution .Hier existiert das Proletariat als revolutionäres Subjekt nicht mehr – stattdessen soll eine "Multitude", eine Vielzahl kleinerer Gruppen, eine Gegenmacht organisieren, ohne jedoch die Macht erobern zu müssen. In der Folge erschöpft sich die politische Aktivität in einer Suche nach politischen Bündnissen aller progressiven gesellschaftlichen Kräfte. Demnach sind Gewerkschaften auch nur eine weitere gesellschaftliche Organisation neben vielen anderen, deren bürokratische Strukturen nicht in Frage gestellt werden. Hier erscheinen vor allem die politisch aktiven linken GewerkschaftsfunktionärInnen als BündnispartnerInnen – die ArbeiterInnenklasse "an sich" wird übersehen.

Die größten trotzkistischen Gruppen wie Marx21 und SAV verstecken sich gewissermaßen in der Linkspartei, und tragen damit dazu bei, dass der Trotzkismus in Deutschland fast nicht wahrgenommen wird.

Das Programm der SAV ist von der Vorstellung geprägt, dass es möglich sei, den Sozialismus auf einem demokratischen Wege, ohne gewaltsame Revolution, zu errichten [4]. Dazu gehöre der Aufbau einer sozialistischen MassenarbeiterInnenpartei, deren linken Flügel sie selbst bilden wollen. Ein geeignetes Mittel sehen sie im dauerhaften Entrismus. Dies versuchte ihre Vorgängerorganisation "Voran" 30 Jahre lang in der SPD, mit der selben Taktik versucht sie es heute in der Linkspartei. Dabei verwischt sie aus unserer Sicht den Gegensatz zwischen reformistischen und revolutionären Positionen – ihr Eintreten für eine "pluralistische" linke Partei ist letztendlich darauf ausgerichtet, dass RevolutionärInnen und ReformistInnen friedlich nebeneinander existieren sollten. Momentan existiert kaum ein Klima innerhalb der Linkspartei, in dem TrotzkistInnen offen für ein revolutionäres Programm eintreten könnten – weshalb die programmatischen Vorschläge der trotzkistischen Gruppen dort mehr oder weniger stark verwässert sind.

Marx21 und die SAV arbeiten innerhalb der Linkspartei, weil sie sich davon mehr Wachstumsmöglichkeiten erhoffen und durch die Teilnahme an Debatten innerhalb der Partei marxistische Ideen verbreiten wollen. Dabei betont die SAV, dass die Linkspartei idealerweise zu einer "kämpferischen Partei der ArbeiterInnen und Jugend" werden soll. Dabei erkennt sie den Reformismus der Linkspartei an, sieht diesen jedoch als kämpferischeren, progressiven Reformismus – obwohl gerade der Linksreformismus für die Einbindung der ArbeiterInnenklasse ins bürgerliche System eine erhebliche Bedeutung haben kann. Zudem zeigte sich seit Beginn der Krise, dass die Linkspartei kaum stärker zu Mobilisierungen und Kämpfen bereit ist als die "alte" Sozialdemokratie. Weil die SAV ihre Strategie durchaus offensiv verfolgt und in die parteiinternen Debatten um Positionen eingreift, wurde sie bereits Opfer zahlreicher feindlicher Angriffe, die sich weniger gegen ihre Positionen, als gegen ihre Organisation als solches wenden [5].

Marx21 versucht vor allem "Druck" auf die verschiedenen Kräfte innerhalb der Partei auszuüben. Sie möchten die Positionen der Parteimehrheit nach links verschieben, agieren dabei jedoch nicht als separate Organisation, sondern vermischen ihre Arbeit mit verschiedenen "einheimischen" Parteilinken, und vermeiden so offenen Widerspruch und Konfrontation. Das ist daran zu erkennen, dass sie den Studierendenverband Die Linke.SDS praktisch anführen, ohne dass sich die Teilnahme von MarxistInnen in den politischen Positionen des Verbandes (zu Regierungsbeteiligungen, Israel/Palästina, usw.) niederschlagen würde. Im Vergleich zur SAV wurde Marx21 weit besser in die Partei integriert: Ihre AktivistInnen besetzen viele einflussreiche Positionen, bis hin zu zwei Sitzen in der Bundestagsfraktion der Linkspartei.

Ansätze revolutionärer Politik

Trotz dieser schwierigen Ausgangsbedingungen sollten wir versuchen, die ArbeiterInnenklasse von der Defensive der letzten Jahre endlich in die Offensive zu bringen, indem wir für die Praxis des politischen Streiks bis hin zu Generalstreiks werben. Hier muss klar gemacht werden, dass die Bourgeoisie für die Krise zahlen sollte und nicht die ArbeiterInnenklasse. Dazu gehört, dass die Geschäftsbücher geöffnet und Entlassungen durch ArbeiterInnenkontrolle verhindert werden müssen – bis hin zur Besetzung und Enteignung von Betrieben, die mit Entlassungen oder Schließung drohen [6].

Wir müssen in die aufkommenden politischen und ökonomischen Kämpfe intervenieren und für eine Emanzipation der Arbeiterklasse von den BürokratInnen ihrer Organisationen werben. Die Gewerkschaften müssen demokratisiert werden – dazu gilt es, für den Aufbau klassenkämpferischer Basisbewegungen zu argumentieren und so der Gewerkschaftsbürokratie die Kontrolle über die ArbeiterInnenbewegung zu nehmen [7].

Darüber hinaus müssen die vereinzelten Proteste zusammengeführt werden, was wir im Ansatz beim Bildungsstreik versucht haben (durch die exemplarische Verbindung von Studierendenprotesten und Arbeitskämpfen). Eine Einheitsfront – im Sinne von Abkommen für konkrete Aktionen – wird jedoch nicht durch Warten auf die Spitzen der bürokratischen Massenorganisationen zu Stande kommen, die bestenfalls die Kämpfe für ihre Eigeninteressen vereinnahmen, sondern durch die Vernetzung der ArbeiterInnen an der Basis, die somit ihre Spitzen unter Druck setzen. Das bedeutet auch, dass wir uns der Linkspartei, dem DGB und auch der SPD zuwenden müssen, um die Teile der ArbeiterInnenklasse, die sich durch diese Organisationen vertreten fühlen, in der Praxis für revolutionäre Politik zu gewinnen. Dabei können RevolutionärInnen auch mit autonomen Gruppen, die sich auf die ArbeiterInnenbewegung beziehen, zusammenarbeiten.

Langfristig tritt RIO für den Aufbau einer eigenständigen revolutionären ArbeiterInnenorganisation ein. Wir können nicht behaupten, dass wir selbst die einzige revolutionäre Kraft in der BRD und auch nicht den einzigen Kern einer zukünftigen revolutionären Organisation stellen. Vielmehr setzt die Bildung einer revolutionären ArbeiterInnenorganisation einen längeren Prozess von Diskussionen, Debatten, Zusammenarbeit und Fusionen innerhalb der Linken voraus. Dabei versuchen wir als kleine Gruppe, diese Debatten anzustoßen und die strategische Frage (d.h. welche Methoden sind notwendig, um den Kapitalismus zu stürzen?) immer in den Mittelpunkt stellen. Denn momentan existieren in der revolutionären Linken kaum strategische Überlegungen, die über die (über)nächste Aktion hinausgehen.

Praktisch bedeutet das, dass unser Schwerpunkt neben der Führung von Debatten bei der Ausbildung von AktivistInnen liegen muss. Als kleine Gruppe beschäftigten uns in erster Linie mit der Ausarbeitung von Analysen und Programmatik, die in zukünftigen Kämpfen eine größere Rolle spielen werden. Dazu versuchen wir, exemplarisch in den Klassenkampf zu intervenieren, trotz unserer bescheidenen Ressourcen, um Ansätze für eine revolutionäre Politik aufzeigen. Unsere strategische Aufgabe ist der Aufbau einer revolutionären Strömung in der ArbeiterInnenklasse. Denn um die Krise in ihrem Sinne zu lösen, muss die ArbeiterInnenklasse auf der politischen sowie der ökonomischen Ebene gegen die Klassenherrschaft mit eigener Organisation kämpfen.

Fußnoten

1. Europäisches Parlament: Beteiligung an den Europawahlen 1979-2009.

2. Der Spiegel: "20 Jahre nach der Wende: Studie offenbart weltweite Unzufriedenheit mit Kapitalismus".

3. Vgl. "Der Bildungsstreik". Gemeinsame Broschüre von RIO und der FT-CI.

4. Für eine Kritik an der Staatstheorie der SAV, vgl. Stephen Foster/Mark Hoskisson: "Militants friedlicher parlamentarischer Weg".

5. Vgl. die beschämende Kampagne der Führung von Linksjugend-Solid gegen die SAV: "Raus aus der SAV!"

6. Für unsere programmatischen Vorschläge angesichts der Krise, vgl. RIO: Für einen europäischen Generalstreik!

7. RIO: Thesen zur Gewerkschaftsarbeit. Abschnitt 2c: Demokratie.

Editorische Anmerkungen

Der Text erschien zwischen den  13. September und 1. Oktober 2010 in vier Teilen auf der Website der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO). Diese empfahl uns die Spiegelung.