Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Schlecht für den Opa: Rentenpolitik in Europa
Gut für die Oma: Demos für Renten & die Roma

Ein Vergleich auch über die Grenze hinweg, zwischen Frankreich und Deutschland
 

10/10

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Aller Anfang ist schwer. So auch am vergangenen Dienstag (den 28. September). „Am Ende von Geleis 2“, im Pariser Ostbahnhof, da finde die Versammlung von Streikaktivisten aus verschiedenen Sektoren statt – so hieb es zuvor in einer e-Mail. Da stehe ich nun am Gleis 2, aber es hechten mir nur ankommende Reisende aus dem TGV Metz-Paris entgegen, die es anscheinend eilig haben. Guter Rat ist teuer. Und wenn das andere Ende gemeint war? Das ist des Rätsels Lösung. Mehrere hundert Meter auberhalb des Bahnhofs stehen sie, rund 100 Menschen, in einem Kreis. Neben einem Gebäude, wo die Reinigungskräfte der französischen Bahngesellschaft SNCF sich umkleiden und auf ihre Einsätze vorbereiten, und im nahen Lärm aufwärmender TGV-Motoren. Es ist schwer, sich Gehör zu verschaffen. 

Bahnbeschäftigte sind gekommen, aber auch Lehrer und Postbedienstete und Einzelne, die in Privatfirmen arbeiten. Einige sind nicht gewerkschaftlich organisiert, andere gehören den linken Basisgewerkschaften SUD an; viele dürften radikale Linke sein. Sie zählen sich zum harten Kern der Proteste, die sich gegen die aktuell in der parlamentarischen Debatte befindliche „Reform“ der Renten in Frankreich richten und die an zwei Wochentagen im September d.J. bereits zwei bis drei Millionen Demonstranten auf die Beine brachte. Alle acht französischen Gewerkschaftsverbände riefen dazu auf.

Auch am Samstag, den 02. Oktober und am übernächsten Dienstag (12. Oktober) sollte wieder dagegen demonstriert werden. Dass erstmals auch an einem Wochenend-Tag demonstriert wurde, sollte vor allem auch dazu dienen, es abhängig Beschäftigten und ihren Familienmitgliedern zu erlauben, teilzunehmen, ohne einen Streiktag absolvieren zu müssen. Also Lohn zu verlieren - denn es gibt in Frankreich keine Streikkassen, sondern die Beschäftigten bezahlen ihren Streik aus eigener Tasche - oder ihren Chef ein weiteres Mal zu verärgern, an den Demonstrationen teilzunehmen. Dadurch sollte sich die Mobilisierung noch verbreitern. Tatsächlich kam aber weitgehend dieselbe Anzahl von Demonstrationen wie an den vorherigen Streiktagen unter der Woche (o7. September und 23. September) zusammen. Die Regierung behauptet, am 07. September hätten insgesamt 1,1 Millionen, am 23. desselben Monats dann 997.000 und am 02. Oktober nunmehr „nur noch“ 899.000 Menschen gegen die „Reform“ protestiert – ihre Zahlenangaben sind aber offenkundig auf das Ziel hin frisiert worden, dass sie von einer „Demobilisierung“ sprechen kann. Die Gewerkschaften ihrerseits sprechen von je rund drei Millionen Demonstrierenden an allen drei Tagen. Die Wahrheit, sofern in Zahlen ausdrückbar, dürfte bei diesen Angaben jeweils ungefähr in der Mitte liegen; und es dürften je grob zwei Millionen Demonstrierende in ganz Frankreich unterwegs gewesen sein.

Die Mobilisierungen vom 02. und 12. Oktober gehen dem Beginn und dem Ende der Debatte über die „Reform“ im Senat – dem Oberhaus des französischen Parlaments – jeweils um zwei Tage voraus. Am 14. Oktober wird der Senat abstimmen. Das Unterhaus, die französische Nationalversammlung, hat die Vorlage schon am 15. 09 in erster Lesung angenommen. Da der Senat aber einige Änderungen am Text vornehmen wird, die ihn abmildern sollen, muss die Nationalversammlung im Anschluss noch einmal debattieren. 

Einige der acht französischen Gewerkschaftsbünde – ihre Mehrheit - wollen die „Reform“ in ihrer jetzigen Fassung ganz verhindern und das Thema Renten im Anschluss „auf neuer Grundlage“ diskutieren. Andere erhoffen sich eher noch „Verbesserungen“ am Text.  

Dessen Kerninhalt besteht darin, das Eintrittsalter in die Rente anzuheben. Drei Richtwerte stehen dabei zur Debatte. Im Mittelpunkt stehen die obligatorischen Beitragsjahre zur Rentenkasse – wem welche davon fehlen, der oder die verliert pro fehlendes Jahr sechs Prozent an der Rente. Bis im Jahr 1972 wurden den Lohnabhängigen in Frankreich 30 Beitragsjahre abgefordert. Danach waren es 37,5. Seit 1993 werden von den Beschäftigten in der Privatwirtschaft, seit 2003 von denen im öffentlichen Dienst nun 40 verlangt. Und es soll weitergehen: Bis im Jahr 2018 sollen es 41,5 werden. (Vgl. http://www.francesoir.fr/) Und für danach behält die Regierung sich eine weitere Anhebung vor, da die Lebenserwartung steige. 

Wer diese Beitragsdauer aufweisen kann, darf in Rente, aber frühestens bei Erreichen eines Mindestalters. Das lag bisher bei 60, und wird auf 62 angehoben. Wer die Beitragsjahre nicht beisammen hat und nicht auf einen Anteil an der Rente verzichten kann, musste bislang bis 65 warten. Künftig sollen es 67 Jahre sein. An diesen Grundsätzen möchte die Regierung auch nach den seit Monaten andauernden Protesten nicht rütteln. 

Nur will der Senat, wo die rechte Regierungspartei UMP nur zusammen mit den moderateren Mitte-Rechtes-Kräften des „Zentrums“ (Union Centriste) mehrheitsfähig ist, jetzt noch Ausnahmeregelungen einbauen. Etwa für Mütter von mindestens drei Kindern, die „gebrochene Erwerbsbiographien“ aufweisen, oder Körperbehinderte. Diese sollen bereits früher aufs Altenteil gehen dürfen. (Vgl. http://www.lejdd.fr/

Die französische Sozialdemokratie und ein Teil der Gewerkschaften – wie die, an ihrer Spitze eher rechtssozialdemokratische, CFDT – sind gegen die Anhebung der beiden Altersgrenzen (60 und 65), aber treten gleichzeitig für die Verlängerung der Beitragsdauer ein. (Vgl. http://www.rennes-info.org/) Dies läuft de facto darauf hinaus, innerhalb der Altersspanne von 60 bis 65 eine wachsende Anzahl von Lohnabhängigen in Richtung der oberen Grenze (von 65) zu drücken. 

Derzeit liegt das Durchschnittsalter des realen Renteneintritts bei circa 61,5 Jahren (vgl. http://www.france.attac.org/spip.php?article11187 ); wobei nicht alle abhängig Beschäftigten freiwillig über den Endzeitpunkt ihres Alterslebens entscheiden, sondern viele auch ab 50 von extremen Schwierigkeiten, einen Job zu finden oder zu behalten, betroffen sind.  

Die Mehrheit der Gewerkschaften dagegen möchte die Rente mit 60, die schon heute für viele Lohnabhängige aufgrund der Zahl der Beitragsjahre nur ein rein theoretisches Recht darstellt, als allgemeines Recht. Im Prinzip ohne weitere Konditionen. Ferner fordern mehrere Gewerkschaften die Möglichkeit, je nach „körperlicher Beschwernis“ (pénibilité) im Beruf auch – für bestimmte Beschäftigtengruppen – früher als andere in Rente zu gehen. 

Zurück in die Gare de l’Est: Die Versammelten am Pariser Ostbahnhof jedoch sind der Auffassung, die Gewerkschaften täten nicht genug dafür. Alle paar Wochen eine gröbere Zahl von Beschäftigten zu Demonstrationen auf die Strabe zu bringen – wie am 27. Mai, 24. Juni, 07. September, 23. September und nun wieder am 02. und 12. Oktober – führe nun nicht mehr weiter: Die Regierung sei trotz der Millionenproteste fest zum Weitermachen entschlossen. Der junge Lehrer Michel etwa meint, schon die nächsten „Latschdemonstration“ seien vielleicht „die Demo zu viel“: Irgendwann nutze sich das ab, und beim ersten Rückgang der Teilnehmerzahlen würden die Regierung und ein Teil der Medien alles tun, um die Proteste zu demobilisieren. 

Stattdessen müssten schnell Streikbewegungen in möglichst vielen Sektoren her, deren Arbeitsniederlegungen nicht auf die 24 Stunden eines „Aktionstags“ befristet seien, sondern unbefristet weitergeführt werden.  

Aber, so fügen, alle Anwesenden hinzu, überall erweise es sich derzeit als schwierig, eine solche unbefristete Streikbewegung in Gang zu bringen: An den Streiks im Pariser Ostbahnhof bspw. beteiligte sich rund die Hälfte der 4.000 bis 5.000 dort Beschäftigten, aber zu den Vollversammlungen kamen dann maximal 70 Leute – eine zu geringe Zahl, um auf breiterer Grundlage einen Streik zu entfachen. Von überall her treffen ähnliche Meldungen ein, aus den Vollversammlungen von streikenden Lehrer/inne/n oder Pariser Stadtbediensteten etwa. (Vgl. auch einen Bericht der Internetzeitung ,Médiapart’ dazu: http://www.mediapart.fr/) Es gibt viele Gründe, warum viele abhängig Beschäftigte derzeit zwar entschieden gegen die „Reform“ eintreten, aber dennoch bezüglich eventueller Aktionen zögern und abwarten. Aufgrund der finanziellen Einbuben vieler Franzosen infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise, aufgrund pessimistischer Zukunftserwartungen – die eher zum Sparen denn zu Ausgabenfreudigkeit und Grobzügigkeit animiert – oder weil viele Beschäftigte heute nur befristete oder „prekäre“ Arbeitsverträge besitzen: Die allgemeine Streikfreudigkeit ist, verglichen mit der vor fünfzehn Jahren, auch in Frankreich gesunken. 

Notfalls, wenn breitere Ausstände vorerst ausbleiben, so die am Dienstag Abend Versammelten, müssten kleinere „harte Kerne“ damit anfangen. Um dahin zu kommen, möchten die Versammelten nun kleine „Nadelstichaktionen“, etwa Blockaden oder unangekündigte Demos in Pariser Kleine Leute- und Migranten-Vierteln, durchführen.  

Die verbalradikalen Sprüche einiger der Anwesenden, eher aus dem anarchistischen Spektrum (von „Rente mit 50 oder 55 für alle“, was vielen Lohnabhängigen heute bereits als utopische Forderung erscheinen dürfte, bis hin zu „Die Rente ist mir im Prinzip wurscht, ich bin für Zaster für Alle – jung oder alt -, auch wenn sie gar nicht arbeiten möchten“, wie ein 28jähriger meint, der für ein Computerunternehmen arbeitet), die einen nicht ganz geringen Anteil der Vollversammlung ausmachen, dürften sich freilich längerfristig eher als hinderlich erweisen. Um solche Vorstellungen herum dürfte sich jedenfalls wohl keine breitere Bewegungen der Lohnabhängigen kristallisieren, da ihnen da doch ganz massiv der Glaube an die Durchsetzungsfähigkeit oder „Durchkämpfbarkeit“ abgehen dürfte... 

Streikrecht: Anders als in Deutschland 

Kleine harte Kerne einer Streikbewegung: In den vergangenen Wochen hat es dies bereits an einigen Stellen gegeben. Vielerorts wurden die Streiks, die den Demonstrationstag am 23. September begleiteten, vor Ort einfach weitergeführt (doch liefen sich dann irgendwann tot). Dafür wurde sogar eine eigene Webseite eingerichtet, die Informationen dazu sammelt: http://www.7septembre2010.fr/

Das französische Streikgesetz erlaubt dies, denn es erkennt das Streikrecht als individuelles Grundrecht aller abhängig Beschäftigten an – unter der Bedingung, dass sie es „zu mehreren“ ausüben. Laut Gerichten bedeutet dies: mindestens zu zweien. Anders als in Deutschland mit seinem „organischen Streikrecht“ – dessen Ausübung den Verbänden, also Gewerkschaften, obliegt - ist aber weder eine gewerkschaftliche Unterstützung noch mehrheitlicher Rückhalt in den Belegschaften erforderlich. Auch Minderheiten ohne gewerkschaftliche Unterstützung können legal streiken, sofern sie dadurch ein „arbeitsbezogenes“ Ziel verfolgen. Allerdings büben sie dadurch ihren Lohn ein, so dass kaum jemand dieses Recht nutzen wird, sofern der Arbeitskampf keine realistischen Durchsetzungschancen aufweist.

 Fünf von sechs Raffinerien, die der Ölkonzern TOTAL – das gröbte Unternehmen im Land – auf französischem Boden hat, streikten mit einer Mehrheit ihrer Beschäftigten bis zum darauf folgenden Wochenende weiter. In Hafenstädten wie Le Havre und Saint Nazaire waren Hafen- und Industriegebiet am 24. September stundenlang blockiert. Dabei wurde die Wut in Saint-Nazaire inzwischen noch zusätzlich angefacht: Am Freitag wurden drei junge Demonstrationen vom Vortag zu ein- bis zweimonatigen Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt, zwei wurden sofort ins Gefängnis gebracht. Sie sollen am Donnerstag bei Zusammenstößen mit der Polizei im Anschluss an den Protestzug beteiligt gewesen sein. (Vgl. http://www.ouest-france.fr/ oder http://www.alternatifs44.com/ ) 

Bezüglich Streikbewegungen zeigten sich die gröberen Gewerkschaftsverbände bislang noch zögerlich und abwartend. Aber inzwischen bahnt sich auch innerhalb der CGT, des stärksten Gewerkschaftsverband, die Forderung nach unbefristeten Arbeitskämpfen oder sogar einem Generalstreik immer stärker den Weg. Mittlerweile möchte sogar die Führung – die früher noch der Französischen kommunistischen Partei  nahe stand, aber heute weitaus eher sozialdemokratisch ist -, die lange eher um Mäßigung bemüht war, dieser Forderung voraussichtlich nachgeben, „sofern die Regierung unnachgiebig bleibt“. 

Druck von der EU-Ebene 

Dabei wissen die Protestierenden, dass sie in der Sache nicht ausschlieblich die französische Regierung gegen sich haben. Denn die Rentenpolitik wird längst auf Ebene der Europäischen Union koordiniert, auch wenn dieses Gebiet juristisch nicht unter EU-, sondern unter nationales Recht fällt. Besonderen Streit darum gab oder gibt es allerdings eher in südeuropäischen Ländern – wie in Italien, wo im Dezember 1994 noch die damalige erste Regierung Silvio Berlusconis an einem „Reform“projekt zu den Renten scheiterte und abgelöst wurde – als in Deutschland.  

Neben unterschiedlichen „Traditionen“ bei der Austragung sozialer Konflikte (vgl. http://www.heise.de ) spielt dabei auch eine Rolle, dass in Ländern wie Frankreich oder Italien viele soziale Errungenschaften in Verbindung mit harten politischen Kämpfen erreicht worden sind, und auch im kollektiven Gedächtnis mit ihnen verknüpft bleiben. So sind viele soziale Errungenschaften in Frankreich ein Ergebnis des – zumindest in der letzten Phase der Besatzung 1943/44 breit getragenen – antifaschistischen Widerstands, der Résistance: Auf das in ihr errungene Gewicht von Gewerkschaften und Kommunisten musste in Frankreich jede Nachkriegsregierung erhebliche Rücksicht nehmen. Deshalb wurden zahlreiche Sozialreformen („Reformen“ im progressiven Sinne, nicht im Sinne des späteren neoliberalen Begriffsklaus) just in den Nachkriegsjahren 1944 bis 47 durchgeführt. Ein Ideologe des Arbeitgeberlagers – Denis Kessler, der in Jugendjahren einstmals Maoist gewesen war – täuscht sich diesbezüglich nicht. Er sprach sich in einem Interview im Oktober 2007 explizit dafür aus „systematisch das Programm des Conseil National de la Résistance“ (der politischen Führung des Widerstands im Jahr 1944, das die Nachkriegsregierungen beeinflusste) „Punkt für Punkt zu demontieren“; vgl. http://contreinfo.info/  

Solcherlei Attacken auf  die Errungenschaften geschichtlicher Epochen, die breitesten Kreisen positiv betrachtet werden, rufen notwendig Widerstände hervor. In Deutschland ist der historische Hintergrund ein anderer: Viele soziale Absicherungssysteme wie die Rentenversicherung wurden hier nicht in Kämpfen durch die Bevölkerung oder die Arbeiterschaft errungen, sondern durch den „eisernern Kanzler“ Bismarck von oben eingeführt. Just, um der damals in den Anfängen steckenden Entwicklung der Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. 

Im März 2002 hatte ein EU-Gipfel in Barcelona beschlossen, in den Mitgliedsländern das Alter des Renteneintritts um durchschnittlich fünf Jahre anzuheben. In Frankreich nahm man daraufhin 2003 die bislang letzte „Reform“ an, aber auch etwa im selben Jahr Österreich, wo es im Mai desselben Jahren einen 24stündigen Generalstreik dagegen gab (vgl. http://www.labournet.de/internationales/at/rente.html ) – der freilich im Vergleich zu französischen Arbeitskämpfen als insgesamt doch ziemlich „brav“ beschrieben wurde. Oder 2006 in Deutschland, wo damals die „Rente mit 67“ durch die Regierung der Groben Koalition aus SPD und CDU/CSU beschlossen wurde. 

Die Debatte in Deutschland 

Seit Ende August dieses Jahres ist nun aber die SPD, die inzwischen in der Opposition sitzt, von dieser Zielvorgabe wieder abgerückt (vgl. http://www.stern.de oder http://www.n24.de/ ). Ihr Parteichef Sigmar Gabriel fordert nun, wenn eine schrittweise Anhebung des Rentenalters ab 2012 – ein Beginn, dessen Verschiebung um drei Jahre (auf 2015) er fordert – stattfinden solle, dann müsse zuvor ein zentrales Problem gelöst werden. Denn in Deutschland arbeiten derzeit nur 21 Prozent unter den 60- bis 64jährigen. (Vgl. http://www.ak-sozialpolitik.de/ ) Ein Gutteil von ihnen hat sich jedoch noch nicht – freiwillig – aufs Altenteil zurückgezogen, sondern hat schlicht keinen Job. In Unternehmen gelten die Älteren oder „Senioren“ als unproduktiv, und wer ab circa 50 Jahren vorübergehend arbeitslos wird, findet meistens auch keine Einstellung mehr. Bevor man mit der sukzessiven Anhebung des gesetzlichen Rentenalters beginne, so lautet nun die Vorstellung der SPD, die in ihr aber erst auf den Oppositionsbänken einfiel, müsse zuvor dieses Problem gelöst bzw. eine Bilanz zur Beschäftigung der „Älteren“ gezogen werden. Diese neue „Forderung“ der nunmehrigen Oppositionspartei ist zwar in der Sache zweifellos unzureichend, ist aber taktisch interessant, weil sie den Finger auf eine besonders wunde Stelle legt.

Auch in Frankreich stellt sich das Problem ähnlich. Regierungssprecher Laurent Wauquiez behauptet, eine Lösung für das Problem zu haben, indem Unternehmen, die „Senioren“ einstellen, ein Jahr lang keine Sozialabgaben für diese Beschäftigten abführen sollen.

Die SPD hat durch ihren Beschluss den Finger auf eine der Stellen gelegt, wo es weh tut, weil offene Widersprüche zu Tage treten, etwa zwischen der proklamierten „Verlängerung der Lebensarbeitszeit“ und der Realität des Arbeitsmarkts. Im Geiste derer, die solcherart „Reformen“ entwerfen und auf ihre Verabschiedung drängen, ist dies allerdings gar nicht widersprüchlich. Sie wissen längst, dass deren reale Folge in vielen Fällen gar nicht die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit sein wird, sondern eher eine Ausbreitung der Altersarmut – viele Menschen werden mit Renten auf Sozialhilfeniveau oder knapp darüber leben müssen. Aufgrund fehlender Beitragsjahre oder weil sie, deutlich bevor sie einen Rentenanspruch geltend machen können, arbeitslos werden oder bleiben.

Darauf haben die „Reformer“ jedoch wiederum eine Antwort: Die breitere Einführung von „kapitalgedeckten Rentensystemen“. Also Rentenkassen, die nicht durch Beiträge der jeweils in Lohnarbeit stehenden Generationen aufgefüllt werden und dieselben nach dem „Solidarprinzip“ auf die heute Älteren umlegen, sondern nach dem Versicherungsprinzip funktionieren: Nur wer individuell freiwillig in eine zusätzliche einzahlt, bekommt später auch etwas heraus. Verwaltet werden letztere Kassen nicht mehr wie die „Solidarsysteme“ durch die öffentliche Hand, sondern etwa durch private Versicherungskonzerne oder durch Rentenfonds, die mit ihren Einlagen an der Börse spekulieren – wie in den USA, wo 2001, bei Ausbruch des ENRON-Skandals an den Finanzmärkte, viele Ältere mehrere Jahre an Rentenansprüchen auf einmal verloren.

Die Europäische Kommission publizierte am 7. Juli dieses Jahres ein „Grünbuch“ unter dem Titel „Hin zu adäquaten, lebensfähigen und sicheren Rentensystem“, das zwar noch keine konkreten Gesetzesvorschläge enthält – diese sollen später in einem detaillierteren „Weibbuch“ folgen -, aber grundlegende „Überlegungen“, die in allen EU-Ländern angestellt werden sollen. (VgL. dazu http://ec.europa.eu oder http://patricklehyaric.net ) Ausdrücklich wird darin – unter dem Titel „Konsolidierung des Rentenmarkts“ (sic!) – die Entwicklung privater Rentenkasse gefordert. Um ihnen „einen günstigen Rahmen“ zu bieten, sollen die Finanzmärkte „besser reguliert werden“. Alle EU-Staaten sollen in diese Richtung tendieren. Das trifft sich gut: Das derzeit beratene französische Gesetz sieht eine Passage vor, die zum ersten Mal eine private „Rentenvorsorge“ ausdrücklich vorsieht, rechtlich und steuerlich begünstigt.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.