Was Schüler in der Schule lernen
Schule in der modernen bürgerlichen Gesellschaft

von Meinhard Creydt

10/11

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In Berlin gibt es seit 2005 die Gruppe „Kritischen Lehrer_innen“. Sie hat 2010 den Band „Kritische Lehrer_innen – kein Handbuch“ vorgelegt. Die Freude über diese beiden erfreulichen Tatsachen könnte gewiss noch wachsen, entschlössen sich unsere „kritischen Lehrer_innen“ nur dazu, ihre bisherige Abstinenz gegenüber einigen tiefgreifenden Analysen zum Thema „Schule in der modernen bürgerlichen Gesellschaft“ zu überwinden. Gemeint sind damit die von Lenhardt, Huisken, Gruschka, Holzkamp, dem Arbeitskreis Bildung u. a. ausgearbeiteten grundlegenden Schulkritiken.[1] Hinzuweisen ist auch auf die für tiefgreifende Schulkritik lesenswerte Zeitschrift ‚Pädagogische Korrespondenz’. Mein sich auf diese Analysen beziehender Text stammt aus dem Jahr 2000 und beanspruchte auch schon damals weder Vollständigkeit noch Tagesaktualität.

Die organisatorischen Formen des schulischen Lernens und der mit ihm verbundene heimliche Lehrplan leiten sich nicht primär aus Erfordernissen des Lernens her. Vielmehr sind für die Bildung des Schulwesens in modernen kapitalistischen Gesellschaften die Auslese sowie der instrumentelle und partikulare Zuschnitt des Wissens prägend. Die Analyse und Kritik des gegenwärtigen Schulwesens umfasst auch die Art und Weise, in der das pädagogische Selbstverständnis zwar zu mancherlei Kritik an den Beschränkungen von Schule kommt, aber die Grenzen der Schule nicht wahrzunehmen vermag.

Die organisatorischen Formen schulischen Lernens resultieren zunächst aus der möglichst kostengünstigen Abwicklung des Schulbetriebs. Die Ausgaben für ihn erscheinen als bloß notwendige Voraussetzung für das ökonomisch Rentable und stellen einen (steuerlich abgeschöpften) Abzug vom Einkommen der Bürger dar und verringern deren Nachfrage. Bereits hier ergeben sich Schranken – bspw. für die kostenintensive Förderung ‚langsamerer’ Schüler. Im Stundentakt wechselnde Fächer, die Einordnung der Jugendlichen nach Alter und formal erfassbarer exklusiv-individueller Leistung (Einzelarbeit und -leistung), die Umformung der Unterrichtsinhalte zum Gegenstand von Leistungsbemessungen usw. – all dies hat mit Gesichtspunkten fruchtbaren Lernens weniger zu tun als mit bürokratischen Aspekten der Normen formaler Gleichbehandlung und mit der organisatorischen Effizi­enz einer knapp mit Mitteln ausgestat­teten Institution (vgl. Lenhardt 1984). Schon an den Normen der Gleichbehandlung relativiert sich die Auseinandersetzung mit den individuellen Problemen der Schüler beim Lernen. Eine solche Auseinandersetzung erscheint leicht als Vorzugsbehandlung (vgl. Lenhardt 1984, 194). Die Ausdifferenzierung der Schule aus den sonstigen Lebens­kontexten der Schüler versperrt die Auseinandersetzung mit den dort angesiedelten Problemen, die Lernen tangieren (vgl. ausführlicher dazu Lenhardt 1984, 202f.). Die organisatorischen Formen des Schulwesens „bestimmen individuelles Verhalten weniger auf dem Wege der Sozialisation oder Indoktrination, sondern primär von außen als vielgestaltiges Element der versachlichten Sozialstruktur. Diese institutionellen Effekte formaler Bildungseinrichtungen stellen sich naturwüchsig her; das heißt sie können nicht als das intendierte Ergebnis erfolgreicher bildungspolitischer Strategien ... beschrieben werden. Sie sind andererseits aber auch nicht das Resultat politischer Planungsmängel oder pädagogischer Inkompetenz bei Lehrern, die sich sozialtechnisch beheben ließe. Die institutionellen Effekte des Bildungssystems ... sind Ausdruck eines sozialstrukturellen Entwicklungsmusters, das durch die Gesellschaft insgesamt konstituiert wird und planmäßiger Kontrolle entzogen ist“ (Lenhardt 1984, 13f.).

Die vorfindliche Gestalt des Schulwesens ist nicht allein Ausdruck der Nichtbewältigung und mangelnden Einhegung organisatorischer Sachzwänge und finanzieller Beschränkungen, die ungehindert in die Bildung durchschlagen. Die Schule bestimmt sich gegenwärtig ‚positiv’ durch die Auslese für die Konkurrenz. Die Schule dient dazu, ein sachlich neutral erscheinendes Medium, den Unterricht, zu etablieren, in dem der Verstand der Individuen in unterschiedlichem Maße hervorzutreten vermag, woraufhin nicht etwa Hilfreichungen die Hauptsache sind, damit auch (zunächst) ‚Schwächeren’ beim Lernen geholfen wird.[2] Bei ausbleibender Leistungsverbesserung wird dem ‚schlechten’ Schüler vielmehr gerade die nächsthöhere Stufe der Schulbildung versperrt.

Gerade die Trennung der Schule vom Erwerbs- und Geschäftsleben bereitet die Schüler zumindest mit der Selbstzurechnung ihres ‚fair ermittelten’ Platzes in einer für mehr oder minder natürlich, sachgemäß oder unausweichlich gehaltenen Hierarchie durchaus wirkungsvoll auf den ‚Ernst des Lebens’ vor. Auch ganz affirmative Beschreibungen sprechen von Schule als „Zuteilungsapparatur von Lebens-Chancen“ (Schelsky, zit. n. Heckel, Avenarius 1986, 46). Sie nimmt die erbrachte Prüfung der Schülerleistung zum Anlass dafür, den ermittelten Unterschied zwischen den Schülern noch dadurch zu vergrößern, dass die Schüler auf verschiedene Schulzweige verteilt werden. Die Ungleichheit der Positionen und Tätigkeiten in der Arbeits- und Geschäftswelt wird auch durch die verschiedenen Begabungen und Befähigungen der Schüler legitimiert. Die Abgetrenntheit der Schule vom ‚wirklichen Leben’ wird einerseits beklagt, insofern die Schule nicht genug für die ‚Welt’ vorbereite. Diese Klage aber unterschätzt die Leistung der Schule, einen neutralen und unanfechtbaren Maßstab der Auslese gerade mit der ‚intellektuellen Leistungsfähigkeit’ bzw. der ‚praktischen Begabung’ und ‚Anstelligkeit’ zu etablieren. Ganz unabhängig von den Hierarchien im Erwerbs- und Geschäftsleben fördert die Schule eine Hierarchie zwischen den Schülern zutage, die dem Erwerbs- und Geschäftsleben vorauszugehen scheint und sich allein an der geistigen Ausstattung und Einsatzbereitschaft der Schüler orientiert. Was faktisch a u c h Resultat der Schule ist, gilt als ihr v o r a u s gesetzte Begabungshierarchie. Bei den Schülern setzen sich durch die jahrelange Beschulung feste Vorstellungen darüber durch, wer ‚was kann’ und wer nicht. Die Antwort auf die Frage ‚wo stehe ich?’, das Urteil der Schule über die Schüler, wird zum Selbstbewusstsein des schulerprobten Individuums u n d des Schulversagers.

Noch im Widerstand gegen die Schule teilt auch der ‚Schulverweigerer’ jene Beschlagnahmung des Lernens durch die Schule, indem er nicht zwischen dem Lernen und seiner schulischen Form zu unterscheiden vermag. Paul Willis (1979) zeigt an Gruppen von Arbeiterjugendlichen, wie sie ihren Protest gegen die Schule und ‚die da oben’ verknüpfen mit einem Hass auf Intellektuelle und auf Kopfarbeit und mit einer Idealisierung von körperlich harter Arbeit, ‚harter Männlichkeit’ usw.

Die Schüler werden bereits in der Schule daran gewöhnt, dass über das Lernen und Arbeiten ein äußerlicher Maßstab entscheidet: die Zeit. „Wenn sehr unterschiedliche Kinderköpfe den gleichen Stoff in gleicher Zeit lernen müssen, dann bleibt es eben nicht aus, dass ein Teil – eben die sog. Langsamen – nach Ablauf der zum Lernen zugebilligten Zeit noch immer wie der Ochs vorm Berg stehen. Da hülfe nur die Wiederholung des Lernvorgangs und zwar unabhängig von jeder zeitlichen Schranke. Aber eben das ist nicht erlaubt, weswegen an den Schülern als ihr Mangel festgehalten wird, was doch nichts anderes als die Entscheidung der Schule über die zum Lernen zur Verfügung gestellte Zeit ist. ... Das Gemeine an der Sortierung durch die bürgerliche Schule besteht also darin, dass sie die Gründe dafür immer beim Aussortierten entdeckt: im positiven wie im negativen Sinne“ (Huisken 1984, 40).

Wer die Schule als ineffizient bemängelt, aber nicht die Effektivität der skizzierten schulischen Sozialisation kritisiert, begreift nicht, dass unter gegebenen Bedingungen inhaltliche Qualifizierung nur e i n Moment von Schule ist n e b e n der Selektion und der Sozialisation zum Bürger einer modernen kapitalistischen Welt. Noch die Vergeudung von Zeit und Geld im so betriebenen Schulwesen[3] muss nicht ausgehend vom Ideal des Lernens bemängelt, sondern kann als Folge von Zweck und Ursache der Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft erkannt werden. Und die Abhärtung der Schüler sowie ihre Gewöhnung an äußerliche, beliebige und fremde Unterrichtsgegenstände sollten gewürdigt werden als Einübung in eine Existenz, in der man einerseits sich nicht früh genug mit der eigenen objektiven Bedeutungslosigkeit abfinden und sich eine hohe Frustrationstoleranz antrainieren kann, andererseits gerade subjektiv  unter solchen Bedingungen ‚etwas aus sich zu machen’ hat. Schon in der Schule lernt der Schüler vor allem, eine Leistung eigener Art zu erbringen. Er muss das Desinteresse am jeweiligen Stoff überwinden können und das Interesse nur soweit aufbringen, wie es der schulischen Zeiteinteilung nicht in die Quere kommt. Vor der Arbeitsaufnahme fragen Schüler schon mal, ob es denn dafür auch Noten gebe. Der Schüler lernt zudem, dass er etwas oft Unangenehmes und für ihn Uneinsichtiges (das Lernen eines ‚Stoffes’, dessen Bedeutung ihm oft nicht klar ist) tut, weil über den (wiederum äußerlich mit dieser Lerntätigkeit verknüpften) Erfolg oder Misserfolg (die Note) erst die Bedingung dafür vorliegt, dass der Schüler etwas vom Lernen ‚hat’. Die Frage ‚warum soll ich das lernen’ erhält oft erst über die mit der Note verknüpfte Belohnung oder Bestrafung ihre ‚Antwort’. Soweit der Schüler die Auswahl hat, wird er aufgrund der schulischen Dominanz der Note über den Inhalt jenen Stoff vorziehen, bei dem er (durch Vorwissen oder Neigung etc.) leichter eine gute Note erzielen kann als jenen Inhalt, von dem er vielleicht gern mehr wüsste, dies aber eben auch mehr Arbeit nach sich zöge.

Inhaltlich dominiert in einer so verfassten Schule das Erlernen von allerlei Kenntnissen und Fertigkeiten das Begreifen. Dies tritt in besonderer Schärfe in der Berufsausbildung hervor, in der es um eine „Qualifikations-Collage“ geht. „Nicht m e h r Bildung, nicht g r ö ß e r e Meisterschaft, um die Welt und sich in dieser Welt einzurichten, sind gefragt, sondern rasch erneuerbare Spezialqualifikationen, verbunden mit der Fähigkeit, sich auf die permanenten Veränderungen problemlos einzustellen“ (Geißler 1994, 109). Es wird „den meisten Betriebsangehörigen jenes ‚Überschusspotential’ vorenthalten, das zu Veränderungen von Strukturen, von Traditionen und Marktverhältnissen führen könnte. Der Großteil der Arbeiter und Angestellten wird so zum schlichten ‚Hinterherlaufen’ verurteilt. Anstelle der Entwicklung von humanem Potential geht es nurmehr um die von Humankapital“ (Ebd. 113).

Die Berufsausbildung bereitet auf die Einordnung der eigenen Fähigkeiten in einen Betrieb und Apparat vor, der nicht die Entfaltung menschlicher Sinne und Fähigkeiten zum Zweck hat. „Der Zwang zur Weiterbildung ... wird zum Druckmittel, die Individuen in einen technologisch-ökonomischen Veränderungsprozess so zu integrieren, dass Widerstand gegen diesen kaum mehr möglich ist. Bildung verhindert damit jene Souveränität der Subjekte, die sie zu erhöhen ehemals versprach: Bildung als Teil von Kultur ... wird ersetzt durch Qualifikation als Mittel der Ökonomie“ (Geißler 1994, 113f.). Die Anpassung an einen selbst nicht bewusst gestalteten Prozess der Herstellung und Auswahl der Güter und Dienstleistungen ist gefordert. Man soll sich an sie so anpassen wie an das Wetter.

In der Berufsausbildung tritt die Spezialisierung an die Stelle der schulischen Allgemeinbildung: Für die Erwerbsarbeit lernt man nicht mehr als das, was man für sie braucht. Die Erfahrung ist verallgemeinerbar, dass man und frau nie mehr so viel weiß wie beim Schulabschluss. Die spätere Vereinseitigung erscheint als gelungene Lebensbewältigung und als Zuständigkeit. ‚Wissen = Karriere’ – diese Gleichung buchstabiert sich, wenn überhaupt, rückwärts: Nur was sich in der Karriere bewährt, gilt landläufig als realitätstauglich, der Rest als ‚brotlose Kunst’ von ‚Bänkelsängern’.

Auch der zum Abitur führende Schulzweig teilt auf elaboriertere Weise das gesellschaftlich zugrundeliegende Verständnis von Wissen. „Gefordert ist eine Sorte inhaltlicher Aneignung der Bildungsinhalte, die mit einer P r ü f u n g des Stoffs auf seinen Wahrheitsgehalt und seine Vernunft nicht verwechselt werden darf. ... Damit sind o p p o r t u n i s t i s c h e Qualitäten, ein Moment von Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt beim Lernen sogar gefordert. Der Absolvent der schulischen Volksbildung soll über ihre Inhalte – mehr oder weniger v e r f ü g e n. Er soll sie k e n n e n, er soll wissen, wozu sie t a u g e n und wann ihre A n w e n d u n g  a n g e b r a c h t  ist. Mehr ist gar nicht verlangt“ (Huisken 1992, 70).

Schüler werden daran gewöhnt, dass sie zwar e t w a s wissen sollen, aber ihr eigenes weiteres Nachfragen und -forschen auf willkürliche Schranken stößt, die in der Schule nicht zu überwinden sind. Stets steht bereits der nächste Lernstoff oder ein anderes Lernfach auf der Tagesordnung. Schüler werden an die Zusammenhangslosigkeit des Wissens gewöhnt, wenn ein Thema (z. B. England) zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Schulfächern (Englisch, Geschichte, Geographie, Sozialkunde) verdünnt und vereinseitigt vorkommt. Einerseits wird Wissensdurst mobilisiert, weil sich ohne ihn schlechterdings gar keine Kenntnisse erwerben lassen. Andererseits geht es aber auch nicht um ein tieferes Wissen und so wird der Wissensdurst auch immer wieder gestoppt. Schüler gewöhnen sich daran, dass über das Wissen externe Faktoren seiner Nützlichkeit für vorgegebene Zwecke entscheiden. Schüler lernen also dem heimlichen Lehrplan der Schule zufolge durch die Anerkennung der durch die Menschen nicht gestaltbaren vornehmlich ökonomischen Sachzwänge das Wissen an seinen ‚richtigen’ Platz zu stellen: Man muss schon wissen, was man tut, aber nicht tun wollen, was man weiß. Sich richtig verhalten können, das heißt, die gegebenen Bedingungen für das eigene Interesse möglichst gut ausnutzen zu können, nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse vernünftig einrichten zu wollen. Die dem Nutzen gemäß Handelnden „bedienen sich also der Verhältnisse, in die sie als Dienende eintreten. Sie benutzen die Bedingungen, die ihnen fremd gegenübertreten. Ihre Anpassung ist hier eine Funktion ihres partikularen Interessenkalküls, ihre Heteronomie das Medium ihrer Disposition als autonome Utilitaristen, ihre Unterwerfung das Instrument zur Verwirklichung ihrer Souveränität als nutzenmaximierender Subjekte. In dieser Hinsicht synthetisiert die utilitaristische Praxis den Zwang zur Anpassung mit der Souveränität einer Funktionalisierung aller Umweltbezüge für privatisierte Interessen und markiert somit eine spezifische Form der Verschränkung von Heteronomie und Autonomie“ (Prodoehl 1983, 131).

Die Beschulung der Kinder und Jugendlichen zielt darauf ab, ihnen ein (je nach Abschluss unterschiedlich hohes) Allgemeinwissen zu vermitteln. In der kapitalistischen Gesellschaft herrscht faktisch ein Verständnis menschlicher Sinne und Fähigkeiten vor, in dem es um deren Benutzung geht, nicht um deren Entwicklung, Entfaltung und soziale Bewahrheitung, also nicht um ‚Praxis’. Der Schulzweck Allgemeinbildung verwickelt sich in den immanenten Widerspruch, dass gesellschaftlich einerseits nur höchst partikulare Kenntnisse gefragt sind, die sich in der Erwerbs- und Geschäftswelt auszahlen (sollen). Andererseits muss für eine Gesellschaft partikularer Verrichtungen dennoch eine Allgemeinheit von Kenntnissen zur Verfügung stehen. Bereits der schulischen Allgemeinbildung steht das Desinteresse entgegen, das der gesellschaftlich herrschenden Zweckstruktur entstammt und ihr entsprechend Bildung nur partikular und instrumentell, als Fertigkeit und Kenntnis, nicht als Erkenntnis und Wissen der gesellschaftlichen Aufbauordnung interessant macht. Schüler haben deshalb nicht nur wegen ihrer kindlich-jugendlichen Unreife Schwierigkeiten einzusehen, was ihnen schlussendlich nutzt. Insofern die spätere Existenz des Schülers in den meisten Fällen sich auf eine sehr eingeschränkte arbeitsteilige Sondersphäre bezieht, sucht er nach Handreichungen für seine antizipierte Sonderexistenz.

Die Schulbildung beschränkt sich nicht nur auf die Vermittlung von Kenntnissen, sondern vermittelt den Schüler in den ideologischen Fächern (Deutsch, Geschichte, Politische Weltkunde u. a.) eine Befähigung, zu den Themen der Welt Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahme findet ihren impliziten Maßstab daran, den Individuen den Eindruck zu vermitteln, sie könnten mit den Themen des öffentlichen Lebens umgehen, hätten dazu – wenigstens im Prinzip – etwas zu sagen. Die Schule erzieht zu einem Geistesleben, dem die Objekte Anlass sind, um eine sich getrennt von ihnen begründende und selbstbezügliche Weise des Kommentierens zu entfalten. Sprachregelungen, Denkverhalten und geistige Benimmregeln werden bereitgestellt und eingeübt. Fern jeder wirklichen Auseinandersetzung mit Inhalten werden die Schüler in der Schule meist dazu sozialisiert, geistige und soziale Gehalte auf eine äußerliche Weise zu besprechen, ohne wirklichen Kontakt zur jeweiligen Problematik zu finden.

Die Schule bereitet auf eine Existenz vor, in der aufgrund der Schwierigkeiten der Menschen, eine Welt, die von den Menschen abstrahiert[4], sich gedanklich anzueignen, der Schein der geistigen Aneignung wichtig wird und das wirkliche Begreifen verstellt. „Der Tourist in Venedig verschlingt nicht Venedig, sondern Reden über Venedig. Dem Tourismus, dem Konsumenten in der Masse, den Zuschauern liefert man die Stadt, die Schönheit, die Natur oder die Naturalität.“ Diese „Rede“ „enthält die Wesen, die Entitäten, die Formen, indem sie vorgibt, dass man zu ihnen Zutritt hat. … Der Metasprache und ihrem Gebrauch durch und für den Konsumenten entspricht die neuplato­nische Vision“ (Lefebvre 1972, 186f.).

Die Schule und die Medien ermöglichen eine Präsenz der Menschen, in der sie sich eher auf „das Geredete“ als auf „das beredete Seiende“ (Heidegger 1979, 168) verstehen, in der die Bewegung in der Sprache sich vor die Arbeit in und an der Wirk­lichkeit schiebt, und sei es nur oder immerhin: eine Erkenntnisarbeit. Alles gilt dadurch als angeeignet, dass man etwas d a z u sagt. Die Rede biegt sich um in den Kon­text des Geredeten. Der Raum lässt sich leicht mit Worten zustellen. Wo Gedanken feh­len, stellt schnell ein Wort sich ein. Die Schulbildung und die Medien erlauben ihren Rezipienten die Selbstaufwertung mit der Möglichkeit, „alles zu verstehen ohne vorgängige Zueignung der Sache“ (Heidegger 1979, 169). „Das Gerede behütet schon vor der Gefahr, bei einer solchen Zueignung zu scheitern. Das Gerede, das jeder aufraffen kann, entbindet nicht nur von der Aufgabe ech­ten Verstehens, sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der nichts mehr ver­schlossen bleibt“ (ebd. , 169). Ununterscheidbar wird am Gerede, „was in echtem Verstehen erschlossen ist und was nicht. ... Alles sieht so aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch“ (Heidegger 1979, 173). „Halbbildung ist defensiv; sie weicht den Berührungen aus, die etwas von ihrer Fragwürdigkeit zutage fördern könnten“ (Adorno) und wird insofern „unansprechbar“ (Ebd.). Es „kennt Halbbildung, als entfremdetes Bewusstsein, wiederum kein unmittelbares Verhältnis zu irgend etwas, sondern ist stets fixiert an die Vorstellungen, welche sie an die Sache heranbringt“ (Ebd.).

Das Beurteilungsvermögen, das schulisch entwickelt wird, besteht darin, z. B. in Aufsätzen zu bewähren, dass man und frau sich auf folgendes versteht: Vor- und Nachteile von hochverdichteten und -verdinglichten Prinzipienfragen zu bedenken (z.B. „Technik –  Fluch oder Segen?“), also statt der wirklichen gesellschaftlichen Aufbauordnung sich erpresserischen Alternativfragen zu widmen („Darf man für den Frieden töten?“). Statt auf ein Wissen um die gesellschaftlich herrschende Aufbauordnung der Ursachen, Zwecke und Strukturen sollen die zu erörternden Materien unter Abstraktion von dieser Aufbauordnung auf die dann nurmehr übrig bleibenden Abstraktionen ‚die Menschheit’, ‚der Mensch’, ‚unser Land’ usw. bezogen werden. Gegensätze sind zum lebenslänglich unvermeidbaren ‚Spannungsverhältnis’ weichzuspülen. Das Wissen um eine gesellschaftlich herrschende Ordnung ist zugunsten der Kombinatorik vielfältiger isolierter, deshalb in ‚Zusammenhänge’ zu bringender Faktoren zu vermeiden.[5] Im so kultivierten Kommentierungsvermögen geht es nicht um das Begreifen der Sache, sondern um die Sache als Anlass ihrer Kommentierung, um den Selbstgenuss des freien Willens an seinen Gedanken zu den Materien, die er bespricht. Der jeweilige Stoff dient dem schulisch sozialisierten Menschen idealiter dazu, dass „reflexionshaltige, an Reflexion appellierende Formulierungen haufenweise auf(treten). Fast verheddert man sich darin oder spürt zuweilen die Gefahr, dass Reflexion zur Geste wird, zum Als-ob“ (Narr 1991,  224).

Eine weitere sachfremde und das Lernen auf nun inhaltlich bestimmte Art verengende Bestimmung der Schule ergibt sich aus den übergreifenden Lernzielen. All zu oft geht es im Unterricht gar nicht um die jeweiligen Stoffe. Da wird die Blattschneideameise nicht wegen ihr selbst behandelt, sondern wegen der ‚Ordnung’, die sich an ihr so gut vergegenwärtigen lässt. Bei einer Diskussion um Atomkraftwerke geht es nur sehr bedingt um sie. Vielmehr lässt sich bei einer ‚kontroversen Materie’ vielmehr so schön lernen, wie man die Meinungen anderer als genauso berechtigt wie die eigene zu respektieren vermag. Die Beschäftigung schließlich bspw. mit dem deutschen Faschismus gilt weniger ihm als dem Lob der BRD-Verfassung.

Die Schule übt in bestimmte allgemeine Methoden des Denkens ein, die die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen weitgehend ermäßigen und ersparen zugunsten einer Gewandtheit im Umgang mit Methoden der Erörterung und Besprechung. Es handelt sich dabei um die formelle Abstraktion, die Analogie und den Vergleich, den Funktionalismus, die Versubjektivierung und Verobjektivierung sowie die Faktoren- und Komponenten-Scheidung und -Kombinatorik.[6]

Die Schule sozialisiert die Schüler nicht nur hauptsächlich auf Kenntnisse. Und sie marginalisiert den Sinn für Erkenntnis nicht nur, sondern übt in ein Selbst- und Weltverhältnis ein, das die Fremdheit zur entfremdeten Welt nicht mehr als Problem des eigenen In-der-Welt-Seins, als vorenthaltene Existenz auffasst, sondern den Sinn für die Entfremdung insofern unmöglich macht, als sie die auf diese Entfremdung gerichtete Erkenntnis unterläuft. Insofern es keine andere Erkenntnis geben soll als die Kenntnis, die das Gegebene in seinen Verlaufsformen und in seiner Immanenz verdoppelt, wird die Erkenntnis des Gegebenen, die seine Überwindung voraussetzt – denn erkennen lässt sich nur etwas, das nicht totalitär sein eigener Maßstab ist – zu einer Unmöglichkeit und das Fehlen von Erkenntnis und Alternative wird unbemerkbar. „Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles“ (Adorno 1970, 389). Und: „Nur dem, der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie ... zum Problem“ (Adorno 1972, 142). Wissen konvergiert mit dem Bescheidwissen, also mit dem Sichzurechtfinden und -hineinfinden ins Gegebene. „Wer aber das Getriebe allzu gut kennt, verlernt darüber es zu erkennen; ihm schwinden die Fähigkeiten der Differenz“ (Adorno 1976, 173).

Das entsprechende Umgangswissen, das die Schule und andere Erziehungsagenturen, nicht zuletzt die Medien, den Menschen einsozialisieren, zersetzt auch die Selbsterkenntnis, wie Adorno (1976, 78f.) am Beispiel der real existierenden Psychoanalyse zeigt: „Anstatt die Arbeit der Selbstbesinnung zu leisten, erwerben die Belehrten die Fähigkeit, alle Triebkonflikte unter Begriffe wie Minderwertigkeitskomplex, Mutterbindung, extrovertiert und introvertiert zu subsumieren, von denen sie im Grunde sich gar nicht erreichen lassen. Der Schrecken vorm Abgrund des Ichs wird weggenommen durch das Bewusstsein, dass es sich dabei um gar nicht so viel anderes als um Arthritis oder Sinus troubles handle. Dadurch verlieren die Konflikte das Drohende. Sie werden akzeptiert; keineswegs aber geheilt, sondern bloß an der Oberfläche des genormten Lebens als unumgängliches Bestandsstück hineinmontiert. ... Anstelle jener Katharsis, deren Gelingen ohnehin in Frage steht, tritt der Lustgewinn, in der eigenen Schwäche auch ein Exemplar der Majorität zu sein und damit ... gerade vermöge jener Defekte sich als dazugehörig auszuweisen und Macht und Größe des Kollektivs auf sich zu übertragen.“

Der Schüler und Student missrät so zu einem „vorzüglichen Lernkind“, das einem Schwämmchen gleicht, „welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung ins Ich aufgespeichert hat“ (Musil). „Während dieser Jahre habe ich das ‚Kapital’ und die ‚Deutsche Ideologie’ gelesen: ich verstand alles glänzend, und doch absolut nichts. Denn verstehen heißt, sich ändern, über sich selbst hinausgehen: diese Lektüre änderte mich nicht“ (Sartre 1975, 18).[7]

Die Schuldidaktik weist bei allen sinnvollen Handreichungen für den Schüler beim Bemühen, sich einen Gegenstand geistig anzueignen, eben auch die problematische Seite auf, ihm etwas anzueignen, das auch der Lehrer und der Normalbürger nicht besitzt: Wissen und Gegenwart in einer Welt, die nicht daraufhin in Arbeit ist, dass sie die Welt ihrer Bewohner ist. Schulischer Unterricht hat eben auch die Seite, „dem Schüler das zu Lernende schmackhaft zu machen, es portionsgerecht zu servieren und es damit durch das Inventar der Instrumente der Didaktik zur Unkenntlichkeit zu verformen“ (Gruschka 1997, 64). „Die Didaktisierung der Inhalte führt dazu, dass Menschen sich nicht an der Schwierigkeit der Sache messen können. Sie vermögen die Sache selbst nicht mehr zu ermessen und sich selber zu prüfen an den Fähigkeiten, einen Zugang zu den Sachen zu finden, weil sie die Sache gar nicht mehr im Blick haben, an der sie sich bilden sollten. In radikaler Konsequenz gesprochen: Wo Vermittlung in die Didaktisierung sich verselbständigt, gibt es gar keine Konfrontation des Subjekts mit der Sache selbst. Diese Konfrontation ist gleichsam technisch verstopft“ (Lippe 1997, 64).

Die pädagogische Reformdiskussion ist, soweit sie überhaupt existiert, auf neue Bildungsinstitutionen, -wege sowie die verbesserte Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Schulstufen- und formen fixiert. Wie bei anderen progressiven und linken Debatten ist man auch hier hauptsächlich auf die Verteilung konzentriert. „Gerade das Lernproblem scheint mir ... in den erwähnten Schulreform-Diskussionen (soweit ich sie überblicken kann) eigentümlich unterbelichtet: Häufig wird dabei so geredet, als ob das Lernen in der Schule weiter kein Problem sei, als ob es – wenn man nur die entsprechenden pädagogischen Voraussetzungen dazu schafft – selbstverständlich und widerspruchsfrei in der Schule stattfinde. Gelegentlich wird die Behinderung von freien Lernaktivitäten der Schülerinnen/Schüler durch die überkommenen autoritären und verkrusteten Unterrichtsstrukturen beklagt – wobei man aber mehr oder weniger eindeutig zu unterstellen scheint, dass mit der Realisierung des jeweils projektierten Reformvorhabens solche Lernschwierigkeiten von selbst verschwinden werden“ (Holzkamp 1995, 343).

Der professionelle pädagogische Verstand stellt sich auf die Vorgaben schulischen Lernens durch Lehrpläne und auf die organisatorischen Strukturen des Schullernens ein, wie sie mit der Notengebung, der mit ihr verbundenen  Normalverteilung von Noten[8], der Zeitknappheit aus Stundentakt und der  Zertrennung von Inhalten aufgrund Fächerzuschnitts usw. existieren. Auch dort, wo all dies als beengend empfunden und beklagt wird, täuscht diese Klage über den entscheidenden Verlust hinweg, der den pädagogischen Habitus betrifft. Die Differenz zwischen defensivem und expansivem Lernen ist nicht mehr Thema, Horizont oder praktische Suchperspektive des professionellen pädagogischen Verstandes.

„Expansives Lernen“ ist „motiviert aus dem Zusammenhang zwischen lernendem Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität“ (Holzkamp 1995, 445; vgl. auch ebd., 190f.). Defensives Lernen geschieht demgegenüber aus dem Motiv, die „mit der Unterlassung oder Verweigerung des Lernens“ verbundene „Beeinträchtigung meiner Weltverfügung/Lebensqualität“ abzuwenden (Ebd., 191). Ein wesentliches Thema von Holzkamps Buch über das ‚Lernen’ ist, wie schulisches Lernen expansives Lernen „überformt und zersetzt“ „durch ein konträres ‚schuldisziplinäres’ Lernverständnis“ (Ebd., 446). Noten bspw. leiten Schüler dazu an, durch mannigfache Strategien Leistungen bloß vorzuspiegeln oder vorzutäuschen. Der Gegensatz zwischen Lehrer und Schüler führt zu „einer Art von Partisanenkrieg gegen den Lehrer“ (ebd., 455), zu einer Vielzahl „gebrochener und widersprüchlicher strategisch-taktischer Manöver der Schülerinnen/Schüler gegen den Lehrer und umgekehrt (als manifester oder latenter Machtkampf unter den Bedingungen institutioneller Übermacht der Schul-/Lehrerseite“ (Ebd., 456f.). Die Solidargemeinschaft der Schüler ist durch die schulisch eingerichtete Konkurrenz zwischen ihnen und durch ‚Abweichler’, die zu ‚Alliierten’ des Lehrers werden, gefährdet. Lehrer müssen versuchen, „einzelne Schüler abzuwerben und zu sich herüberzuziehen oder auch bestimmte Schüler lächerlich zu machen, bloßzustellen, ‚vorzuführen’, die ‚Lacher auf seine Seite zu bringen’“ (Ebd., 456). Schule wird zu einer Auseinandersetzung, in der es Lehrern nur sehr eingeschränkt um die Förderung von Sinnen und Fähigkeiten von Schülern geht. Diese Grenzen von Schule werden nicht von den Schülern begriffen, sondern die negativen Effekte dieser Grenzen persönlichen Eigenheiten der Lehrer zugeschrieben.

Die Benotung legt es Schülern nahe, nicht zu viel Mühe in Themen zu ‚investieren’, die sich nicht in relevanten Noten ‚auszahlen’ bzw. von darauf bezogenen Aktivitäten ‚ablenken’. Die Benotung erschwert es in einer dem Lernen abträglichen Weise dem Schüler, ein Nichtwissen offenzulegen, statt es zu vertuschen. Es erhöht sich die bei jeder neuen Aktivität und bei jedem Lernschritt in Unbekanntes und Ungekonntes hinein mögliche Versagensangst[9] aufgrund der bei schlechter Bewerkstelligung wahrscheinlichen Sanktionen und aufgrund der nur sehr eingeschränkt stattfindenden individuellen Unterstützung beim Lernen. Expansives Lernen wird aber auch insofern infragegestellt, als eine Vertiefung des Interesses für inhaltliche Fragen gerade das in 45-Minuten eingeteilte Schularrangement und die lehrplanangeleitete Eile des Durchmarschs durch den Lernkanon stören würde (Holzkamp 1995, 477f.). Demgegenüber „werden die Schnelligkeit der Auffassens und der Aufgabenbewältigung, die Kürze der Reaktionszeit bei der Anforderungserfüllung u. ä. schuldisziplinär zu einem inhaltlich nicht gedeckten, abstrakten Wert erhoben, der das Weiterkommen oder Zurückbleiben der Schülerinnen/Schüler unmittelbar beeinflusst“ (Holzkamp 1995, 482). Dies Zeitregime korreliert mit einer gewissen für die Stoffdurchdringung typischen Oberflächlichkeit. Tiefere Dimensionen des Stoffs zu erschließen erfordert affinitives im Unterschied zu definitivem Lernen (Galliker).[10] „Thematisch dominiertes expansives Lernen ist demnach ... immer auch ein Prozess der Vermeidung von Einseitigkeiten, Fixierungen, Verkürzungen, Irrwegen, Sackgassen beim Versuch der Gegenstandsannäherung. Dies wiederum kann nicht durch eine angespannte operative Lernplanung und konsequenter Zielverfolgung o. ä. gelingen. ... Vielmehr ist dazu ...eine quasi gegensinnige Lernbewegung erfordert. Dies ist eben jene (vorübergehende) Defixierung, Distanz- und Überblicksgewinnung, Zurücknahme, Besinnung, die wir (im Anschluss an Galliker) als affinitives Lernen bezeichnet haben“ (Holzkamp 1995; 480f.). Hegel zeigt in seiner ‚Phänomenologie des Geistes’, die ja einen (idealtypischen) Bildungsroman darstellt, wie das jeweils gewonnene Lernresultat notwendig in seiner Fixierung und Hypostasierung umschlägt zu etwas, das sich selbst verkennt, sich selbst mehr und anderes zurechnet, als es beinhaltet. Diese Verwechslungen sind aber kein dem Bildungsprozess äußerlicher Fehler, kein zu vermeidender Irrtum, sondern Medium der Bildung selbst, die nicht durch Vermeidung des Irrtums, sondern durch ihn hindurch und durch seine Aufklärung selbst die komplizierten Verweisungen, die die verschiedenen besonderen Momente untereinander und zum Ganzen aufweisen, allererst herauszustellen vermag.

Demgegenüber ist es in der auf sauber abpackbare Spezialkenntnisse abzielenden Schulerziehung „offensichtlich radikal unvorstellbar, dass Schülerinnen/Schüler, die aussteigen, sich zurückziehen, vorübergehend unzugänglich sind, ‚träumen’, den Raum verlassen, damit nicht notwendigerweise den Unterricht stören, und den Lehrer provozieren, sondern vielleicht nur mal in Ruhe gelassen werden wollen, um ein paar Dinge in ihrem Kopf klarzukriegen“ (Holzkamp 1995, 484). Das „Kriterium der Ermöglichung affinitiver Lernphasen“ stellt heraus, „was mir (als Schülerin/Schüler) unter den Bedingungen der planenden, überwachenden, normalisierenden Schuldiziplin zum Lernen, wie es in meinem Interesse wäre, fehlt: Unbedrohtheit, Entlastetheit, Unbedrängtheit, Vertrauen und vor allem (was dies alles einschließt): Ruhe. ‚Das Wesen der Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe’, sagt Pestalozzi 1826 (1976, 63). Die Hilfe des Lehrers, die Mittel und Einrichtungen der Schule etc. könnten mir nur dann potentiell etwas nützen, wenn vor allem anderen diese Grundvoraussetzungen erfüllt wären, wenn ich also dadurch nicht permanent genötigt, belagert, in die Defensive gedrängt wäre, also aussteigen, vortäuschen, paktiere müsste, um zu überleben, sondern mich zum schulischen Angebot frei verhalten könnte“ (Holzkamp 1995, 485).

Der Zeitdruck und der Auslesezweck auf der Seite der Schule und die Schwierigkeiten des Lernens auf der Seite der Schüler sorgen für Probleme. Die Arbeit des Lehrers besteht im gegenwärtigen Bildungswesen zu einem guten Teil darin, an den Schranken des schulischen Lernens sich abzumühen, ohne sie als Grenzen der gegenwärtigen Schule für wahr zu nehmen. Vielmehr werden diese Grenzen zugleich ihrer bestimmten Konstitution entkleidet, also entspezifiziert und banalisiert. Lehrerhandeln wird dann als zugleich schwere, aber deshalb ja auch gerade herausfordernde Tätigkeit aufgefasst. Gesellschaftliche Probleme erscheinen dem Pädagogen so, wie sie sich ihm darstellen, eben pädagogisch. Der pädagogische Verstand bewährt sich darin, Probleme mit der Schule in Schulprobleme zu verwandeln und in Motive zur Nachfrage nach pädagogischen Kon- und Rezepten. Für Pädagogen stellen sich die Probleme der Schule im negativen Konjunktiv dar: Sie ‚müssten doch eigentlich nicht sein’. Zugleich kennen die Pädagogen auch keine Notwendigkeit, aus der die Mängel der Schule resultieren. Vieles fällt diesem Verständnis zufolge dann in den Bereich der Subjektivität und ist zu verstehen und zu traktieren als Kommunikationsproblem, als Problem des Lehrerverhaltens oder der Schülereinstellung und -motivation. Schulunwillen in Schulwillen umzuwandeln, so lautet dann die Aufgabe. „Wo kein Motiv ist, muss eins her, der Lehrer ist Animateur“ (Arbeitskreis Bildung 1978a,  14). Der Motivationsmangel des Schülers ist nun der Dreh- und Angelpunkt und es kommt auf die Geschicklichkeit des Lehrers an und seine Trainiertheit, „mit diesem Resultat von Schule fertig zu werden. Der Lehrer muss dem Schüler, wenn er kein Motiv hat, eben eins unterschieben, ihn motivieren: Das Motiv des Schülers wird sein Problem als Animateur. Der Lehrer muss es, was also n i c h t interessant ist, interessant m a c h e n.“ (Ebd., 14f.).

Bei der ‚Motivation’ ist nicht das Interesse oder die Einsicht in eine Sache, die gelernt werden soll, entscheidend. Vielmehr ergeben sich aus beiden Momenten gerade nicht genügend Motive für den Schüler, so dass er zusätzlich ‚motiviert’ werden muss. Der Wille des Schülers wird dann als eine Art „inhaltsleere Potenz, die sich andererseits auf jeden Inhalt richten kann, wenn man ihr nur auf die Sprünge hilft“ verstanden (MG 1990, 33). Diese Sorte von Willen ist dann so beschaffen, „dass er zu allem zu haben ist“ (ebda.), wenn nur genügend negative oder positive Sanktionen mit der Sache verbunden werden.

Dem Lehrer ist es aufgegeben, gesellschaftlich vorgegebene Schranken und Grenzen, die nicht als solche erscheinen, im Unterricht mit seinem pädagogischen Handeln klein- und umzuarbeiten. Das Scheitern der Lehrer an dieser Aufgabe macht sie in vielen Fällen zu Charakteren, die gerade weil es auf die Subjektivität ihrer Lehrerpersönlichkeit scheinbar so sehr ankommt, das Ungenügen daran sich selbst zurechnen, dies negative Ergebnis verständlicherweise nicht wahrhaben mögen und sich und anderen zu verbergen trachten und sich damit in weitere Widersprüche und Eigendynamiken verwickeln, inklusive der einschlägigen „Eigenheiten, Sprechmanierismen, Erstarrungssymptome, Verkrampfungen und Ungeschicklichkeiten der Lehrer“ (Adorno 1969, 78f.). Sie sind das prominente Thema, wenn Erwachsene über Schulerinnerungen sprechen. Zu direkt lernabträglichen Folgen und Weiterungen kommt es, insofern die Schüler es mit relativ verselbständigten Formen von Subjektivität zu tun haben, die ihnen manches Rätsel und viel Aufmerksamkeit abverlangen. Freud schreibt in ‚Zur Psychologie der Gymnasiasten’: „Ich weiß nicht, was uns stärker in Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde, die Beschäftigung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit der Persönlichkeit unserer Lehrer. Jdf. galt den letzteren bei uns allen eine niemals aussetzende Unterströmung...“. 

Insofern Lehrer, bei allen erwerbsbezogenen Interessen, die sie a u c h haben, ihre Arbeit mit dem Vorsatz einer menschenfreundlichen Tätigkeit tun und diesen Vorsatz auch beanspruchen, also ihn öffentlich ausstellen und mit ihm ihr Tun legitimieren und ihren Einsatz honoriert wissen wollen, werden sie von den Schülern an entsprechend emphatischen Idealen gemessen. Notwendigerweise ergeben sich dann Enttäuschungen aufgrund der besonderen subjektiven Verwicklungen, in die Lehrer geraten, insofern sie sich als Person weniger als in anderen Berufen aus ihrer Tätigkeit heraushalten können.

Pädagogen betrachten die Schule nicht in ihrem realen In-der-Welt-Sein. Vielmehr machen sich die Lehrer zumeist die Schule zueigen, indem sie sie als prinzipiell dem Lernen verpflichtete Einrichtung auffassen. Bereits die organisatorischen Imperative und Strukturen, denen die Schule in lernabträglicher Weise unterliegt, werden von vielen Pädagogen als mit dem Lernen verträglich, wenn nicht als aus der Sache des Lernens begründet interpretiert. Das Zeugnis bspw. avanciert dann zu einem „Instrument der ‚Lernhilfe’ und das Lernen im Zeitakt (wird) mit einem ‚natürlichen Konzentrationsspannungsbogen’ von Kindern in Verbindung gebracht“ (Huisken 1991, 33). Die Note erscheint als ‚Rückmeldung’ an den Schüler über seinen Leistungsstand, obwohl sie doch gar nicht über einzelne Fähigkeiten und besondere Schwierigkeiten Auskunft gibt, sondern einen Durchschnitt von Leistungen in einer bestimmten Zeit angibt.

Faktisch resultiert die Notengebung aus den Schulfunktionen ‚Selektion’ und ‚Selektionslegitimation’. Pädagogisch werden diese wirklichen Ursachen für die Verlaufsform von Erziehung ausgeklammert und als mehr oder weniger voraussetzungslose Voraussetzungen jedweder Erziehung an und für sich gehandelt. Völlig selbstverständlich gilt den Pädagogen nicht nur die Konkurrenz der Schüler als unhinterfragbar gegebener und menschlich bewährter Anreizmodus per Auf- bzw. Abstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie. Darüber hinaus erscheint die Note pädagogisch funktional – bspw. in der „Rückmeldefunktion für den Lehrer“, wonach er „an der Zensurenverteilung ablesen können (soll), wie erfolgreich sein Unterricht war“ (Weinert 1980, 881). Auch Schüler und Eltern können über die Noten die „Mitteilung über den Leistungsstand ... erhalten“ (ebd.). Und das ‚Sitzenbleiben’ von Schülern, das im Wiederholungsfall den ‚Abgang’ zur nächstniedrigeren Schulform nach sich zieht, wird nach der Seite für gut befunden, dass so die Lerngruppe nicht durch ‚zu hohe Inhomogenität’ und damit einhergehend unspezifisches Lehrerverhaltens in ihrem Lernfortschritt eine Behinderung erfährt. Schließlich spielt die Erklärung von Noten als Widerspiegelung ‚natürlicher’ Dispositions- und Fähigkeitsunterschiede, sprich: Begabungen, nach wie vor eine große Rolle. Zwar gehört die Ahnung von einem irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen Begabung und Sozialisation zum festen Bestandteil pädagogischen Wissens. Aber dieser Zusammenhang erscheint als derart ‚multifaktoriell’ und als durch vielfältige individuell demonstrierbare Ausnahmen durchlöchert. Die ‚Begabung’ bildet folgerichtig aufgrund ihrer derart als nicht möglich erscheinenden Eingliederung in übergreifende Sozialzusammenhänge pragmatisch für Pädagogen eine letzte Gegebenheit.[11]

Die pädagogische Professionalität zeichnet sich dadurch aus, dass sie unter Abstraktion von den realen Maßgaben und Konstituentien schulischen Lernens sich pragmatisch auf dieses selbst konzentriert. Pädagogik wird dann zur Kunstlehre, wie unter Bedingungen, die dem Lernen abträglich sind, Lernen trotzdem managbar wird. Und für diese paradoxe Aufgabe ist tatsächlich einiges Können und Vermögen erfordert, das die Aufmerksamkeit voll und ganz in Beschlag nimmt, so dass schon aus diesem Grund für anderes kein Sinn und Verstand mehr bleibt. Gerade immanent verantwortungsbewusste Pädagogen finden sich in Beschlag genommen von Entscheidungsfragen ganz eigener Art, die alle Probleme unter der Maßgabe behandeln, sie auf innerpädagogische Feinabstimmungen und organisationsimmanente Vergleiche engzuführen:

„– Hilft es dem Kind, wenn es auf das Gymnasium geschickt wird, wo es doch aus einer Unterschichtfamilie stammt? Lässt sich mit einem Förderkurs vielleicht ein schichtenspezifisches Defizit kompensieren? Oder mutet man ihm damit nicht nur das Schicksal eines gymnasialen Schulversagers zu?

– Lässt sich mit einer schlechteren Zensur nicht vielleicht ein Antrieb zu besserer Leistung erzeugen? Oder treibt diese das Kind in die Resignation, hemmt also die Leistungsmotivation gerade? ...

– Muss man sich nicht selbst zu mehr Geduld im Umgang mit den Schwächeren zwingen oder ist dies gerade ein pädagogisches Verbrechen an den Hochbegabten?“ (Huisken 1991, 233).

Dass mit der bürgerlichen Gesellschaft die Auslese und die Verteilung der Menschen auf die verschiedenen Positionen in den sozialen Hierarchien sich von Kriterien der Rasse und der sozialen Herkunft soweit emanzipieren, dass beide nicht automatisch und unvermittelt in das Ergebnis der Auslese durchschlagen, vielmehr Begabungsreserven aus allen Schichten ausgeschöpft und mobilisiert werden – dieser Umstand belegt Pädagogen ihre auf alle Schüler idealiter gleichmäßig und gerecht verteilten Aufmerksamkeit. Die Kritik an der Diskriminierung von in der sozialen Herkunftshierarchie tiefer stehenden Schülern beinhaltet noch keine Kritik an der Konkurrenz. Sie funktioniert nicht ohne Opfer und Gewinner. Wer für gerechte Auslese eintritt, hat noch nichts gegen Auslese. Auch wenn die ‚Kellerkinder’ nicht automatisch in die schlechten Abschlüsse gedrängt werden, müssen – beim gegenwärtigen Zwang zur Normalverteilung der Noten – eben andere Kinder in den Keller. Der Wunsch, Sieger und Verlierer möchten nicht von vornherein feststehen, verhält sich unkritisch gegenüber der Maxime, Sieger und Verlierer habe es allemal zu geben.

Die der Schulbildung vorausgesetzte Tatsache der hierarchischen Strukturen des Erwerbs- und Geschäftslebens erscheint Lehrern nicht als etwas, das ihren Auftrag, die Beförderung des Lernens, zuinnerst betrifft. Vielmehr setzen Lehrer und solche, die es werden wollen, das Lernen als positive Abstraktion voraus. Lernen erscheint ihnen aus sich selbst heraus als gut. Niemand, und der Lehrer dann auch nicht, könne sich „um a l l e s kümmern“. Der Lehrer tue ein gutes Werk, wenn er das Lernen befördere. Dies sei s e i n Beitrag zur Humanisierung der Welt. Dieses Selbstverständnis des Lehrers und dieses positive Bild vom Lernen kommen nur zustande, indem übergreifende gesellschaftliche Strukturen n i c h t als konstitutiv für das Lernen, die Sinne, Fähigkeiten und das Denken der Individuen aufgefasst werden.

Dass die vorfindliche Organisation des Lernens den pädagogischen Lernhelfern ihr Ideal des Lernens auch dann nicht infragestellt, wenn sie als „berufsmäßige Kindersortierer“ (Huisken 1992, 235). Kinder und Jugendliche gerade von weiterem Lernen a u s s c h l i e ß e n, zeigt, wie abstrakt das Ideal des Lernens ist u n d wie das von ihm Ausgegrenzte, das, wovon es absieht, dann als natürlich-sachliche Bedingung des Lernens und als nicht in seinen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich fallend wohltuend sich trennen lassen. Der Lehrer tut sein Bestes und stellt seinen Erfolg zwar nicht mehr dem Herrgott anheim, aber von ihm nicht durchschauten anonymen Strukturen.

Es zeigt sich, dass das Lernen, so wie es gegenwärtig organisiert ist, nicht nur dem Lernen abträglich ist. Diese Kritik wird erst mit der Erkenntnis vollständig, dass die Kritik an dieser Praxis nicht im Namen jener Ideale zu führen ist, die gerade dafür sorgen, dass die Lehrerpraxis mit gutem Gewissen und in idealbeflissener Absicht und Einkleidung erst motiviert betrieben werden kann. Zur Potenz des pädagogischen Ideals gehört gerade die Fähigkeit, angesichts der negativen Effekte der gegenwärtigen Schulbildung allerhand Ursachen ausfindig zu machen, die die eigene Tätigkeit zwar faktisch, aber nicht von ihrem Wesen her infragestellen. Die bürokratische Schulverwaltung, die ihre Kinder vernachlässigenden oder ihnen gegenüber überbesorgten Eltern, die faulen oder unfähigen Kollegen und nicht zuletzt die disziplinlosen Schüler rauben dem Lehrer Energie und Nerven. Die gesellschaftlichen Inhalte der Auslese und Konkurrenz sowie der auf die Sinne, Fähigkeiten und Denkvermögen bezogene herrschende Instrumentalismus bzw. die zu ihm komplementäre Sinnstiftung bleiben im Hintergrund.

Abschließend wenden wir uns der obligatorischen Frage zu, was denn nun zu tun sei. „Vielfach sabotiert diese Frage den konsequenten Fortgang von Erkenntnis, nach dem erst etwas sich ändern ließe“ (Adorno 1969, 81). Neben den Schlüssen, die aus der gesellschaftlichen Konstitution von Schule für die auch und gerade aus dieser Teilsphäre heraus not-wendige Gesellschaftsveränderung zu ziehen sind, ist an zu Unrecht in Vergessenheit geratene Antworten zu erinnern, die das Handeln im engeren Umkreis der Schule betreffen:

Kognitiv wird es darum gehen, „gegen die Schul-Bildung, deren Mittel (Unterrichtsgegenstände) zum Zweck des Erkennens zu machen. ... Nur indem man die besonderen Unterrichtsgegenstände selbst für sich ernst nimmt ... ermöglicht man eine Erklärung jener Umwelt, die die kapitalistische Bildung als nicht mehr zu ‚hinterfragende’ Voraussetzung zur Einübung ihr gemäßen Verhaltens nimmt. Wissen vermitteln heißt, die Inhalte aus ihrer Instrumentalisierung durch Erkennen zu lösen. Im Resultat werden die Abstraktionen abstrakt allgemeiner Bildung auf das zurückgeführt, wovon sie Abstraktionen sind, nämlich auf die kapitalistische Gesellschaft“ (Arbeitskreis Bildung 1979, 12). Die Entwicklung und Verbreitung entsprechender Unterrichtsmaterialien wäre für die dafür empfänglichen, aber von der Bewältigung ihres Unterrichtsalltags absorbierten Pädagogen eine Hilfe.

Eine andere Antwort widmet sich eher der praktischen Infragestellung der pädagogischen Ideale. „Es wird in Zukunft alles darauf ankommen, praktische Brüche nicht länger mit Hilfe pädagogischer Tricks oder abstrakter Theorien in Form vorschneller Lösungsmöglichkeiten zu kitten, sondern sie zum Ausgangspunkt eines unversöhnlichen, d.h. unpädagogischen Begreifens zu machen. Individuelle Schuldzuweisungen im Falle des Misslingens pädagogischer Zugriffe auf Seiten der Schüler (zu faul, zu wenig Intelligenz usw.) wie auf Seiten der Lehrer (nicht geeignet für den Lehrerberuf) können ein solches Begreifen nicht fördern, sondern eher verstellen. Auch können die ständigen Versuche, Verhaltensstörungen und Konflikte, die den reibungslosen Unterricht gefährden, pädagogisch unter Kategorien wie Disziplinschwierigkeiten, mangelnde Motivationsanreize und deviantes Verhalten zu subsumieren und damit in den Griff zu bekommen, die Probleme eher verdecken als aufdecken. Probleme, Konflikte und Ruhestörungen als Ausdruck teils unbewusster Widerstandsformen gegen eine leidvolle Realität müssen ausdrücklich als integraler Bestandteil für schulisches Geschehen zugelassen und einbezogen werden. Dies nicht, um das Dysfunktionale funktional zu machen, sondern die dahinterliegenden versagten Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche zur Sprache kommen zu lassen, auch oder gerade dann, wenn deren Konfrontation mit schulischer Realität ein gefordertes unversöhnliches Begreifen produziert, dem die Einsicht innewohnt, dass unter den momentanen Voraussetzungen organisierter und organisierender Interaktion in der Schule jene Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle prinzipiell uneinlösbar sind.

Schulische Praxis, die sich bewusst ständig selbst unterbricht oder unterbrechen lässt, indem sie hinter sich zurückfrage, inwieweit sie selber an den Problemen beteiligt ist, vor denen sie steht, anstatt in ökonomischer Manier Stoffpensen durchzusetzen, wäre dann zwar auch noch pädagogisch. Aber sie könnte dazu beitragen, durch eine innehaltende Selbstreflexion aller Beteiligten gar nicht erst damit anzufangen, sich an die Frustrationen und Erfolgserlebnisse, sich an die ruhigen und an die lauten Stunden als geläufige Merkmale schulischer Realität, kurz: an die Selbstverständlichkeiten des pädagogischen Alltags zu gewöhnen“ (Fleischer 1980, 93f.). 

PS: Dieser Text ist Bestandteil einer Reihe zur Kritik der Professionen. Andere Artikel in dieser Reihe skizzieren eine grundlegende Kritik der Medizin („Die Medizin des Gesundheitswesens“,  in „Forum Wissenschaft“ 1/2006) und der Sozialwissenschaften (Wissenschaft, die nicht denkt. In: Fachschaftsreferat des AstA FU Berlin (Hg.): Reader zum kritischen Hochschultag am 23.5.2001, S. 2 - 11 und 111ff.).

Zur politischen Notwendigkeit der Kritik an den Professionen vgl. den Artikel „Kritik an den Wissenschaften und den Inhalten professioneller Tätigkeiten“ (in Utopie kreativ 2008).

Alle genannten Texte finden sich auf meiner Netzseite www.meinhard-creydt.de  

Anmerkungen

[1] Arbeitskreis Bildung 1978: Schule (I): Auslese. Kassel

Arbeitskreis Bildung 1978a: Wie man ein guter Lehrer wird. Kassel Arbeitskreis Bildung 1979: Programmatische Erklärung des Arbeitskreis Bildung. In: Ders.: Bildung (Zeitung des AK Bildung) Nr. 5. Göttingen

Gruschka, Andreas 1994: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung. Wetzlar

Gruschka, Andreas 1997: Adornos Pädagogik. Ein Gespräch mit Rudolf zur Lippe. In: Pädagogische Korrespondenz. Bd. 19. Münster

Gutte, Rolf 1994: Lehrer Ein Beruf auf dem Prüfstand. Reinbek bei Hamburg

Holzkamp, Klaus 1993: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankf. M.

Huisken, Freerk 1984: Kritik der bürgerlichen Schule – nebst Kritik der ‘Erlanger Bildungsökonomie’. In: Mehrwert H. 24

Huisken, Freerk 1991: Die Wissenschaft von der Erziehung. Hamburg

Huisken, Freerk 1992: Weder für die Schule noch fürs Leben. Hamburg

Lenhardt; Gero 1984: Schule und bürokratische Rationalität. Frankf. M.

MG (Marxistische Gruppe) 1990: Argumente gegen die Pädagogik. München

[2] Dass dies a u c h  passiert, ist keine Aussage über die Hauptaufgabe der Schule. Natürlich sollen a l l e Schüler auch etwas lernen. Für die Art und Weise wie Schule organisiert ist, muss dies aber nur als notwendige, nicht als hinreichende Bestimmung gelten.

[3] Schon der Vergleich des Stundenaufwands für den Fremdsprachenunterricht mit dessen Ergebnis spricht eine deutliche Sprache.

[4] „’Menschen ohne Welt’ waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, ‚nicht für sie gebaut’ (Morgenstern), nicht für sie da ist; innerhalb einer Welt, für die sie zwar gemeint, verwendet und ‚da’ sind, deren Standards, Abzweckungen, Sprache und Geschmack aber nicht die ihren, ihnen nicht vergönnt sind“ (Anders 1993, XI). Für diese Existenz „trifft Heideggers Grundcharakterisierung menschlichen Seins: dass dieses eo ispo ‚In-der-Welt-Sein’ sei, nicht eigentlich zu“, leben die Menschen doch „nicht eigentlich ‚in’, sondern nur ‚innerhalb’ der Welt“ (ebd. XII).

[5] Marx zeigt in seiner Kapitalismuskritik, wie die innere Einheit der verschiedenen Momente der kapitalistischen Ökonomie auf der gesellschaftlichen Oberfläche verkehrt erscheint, stehen sich doch auf ihr Kapital, Boden und Arbeit „fremd und gleichgültig, als bloß verschieden, ohne Gegensatz“ gegenüber. „Sie stehen also in keinem feindlichen, weil überhaupt in keinem inneren Zusammenhang“ (MEW 26.3, 493). Marx zeigt (in der Reihenfolge seiner Darstellung) wie „nach und nach die Gestalt des Kapitals immer entfremdeter und beziehungsloser auf sein inneres Wesen wird“ (MEW 26.3, 458). Dann liegt das Denken in isoliert voneinander aufgenommenen Faktoren und ihre Kombinatorik nahe. „Rohheit und Begriffslosigkeit liegt eben darin, das organisch Zusammengehörige zufällig aufeinander zu beziehen, in einen bloßen Reflexionszusammenhang zu bringen“ (GR 9f.).

[6] Vgl. zu einer Charakterisierung dieser Methoden am Beispiel der Soziologie und ihrer für die Schulfächer Gemeinschaftskunde bzw. Politischen Weltkunde zentralen passepartouts: Creydt 1997.

[7] „Ein intelligenter Mensch ist nicht einer, der bloß richtig schlussfolgern kann, sondern einer, dessen Geist für die Wahrnehmung objektiver Inhalt offen, der imstande ist, ihre wesentlichen Strukturen auf sich wirken zu lassen und ihnen menschliche Sprache zu verleihen; das gilt auch für die Natur des Denkens als solchen und für seinen Wahrheitsgehalt. Die Neutralisierung der Vernunft, die sie jeder Beziehung auf einen objektiven Inhalt und der Kraft, diesen zu beurteilen, beraubt und sie zu einem ausführenden Vermögen degradiert, das mehr mit dem Wie als mit dem Was befasst ist, überführt sie in stets wachsendem Maße in einen bloßen stumpfsinnigen Apparat zum Registrieren von Fakten. Die subjektive Vernunft verliert alle Spontaneität, Produktivität, die Kraft, Inhalte neuer Art zu entdecken und geltend zu machen- sie verliert, was ihre Subjektivität ausmacht. Wie eine zu häufig geschärfte Rasierklinge wird dieses ‚Instrument’ zu dünn und ist schließlich sogar außerstande, die rein formalistischen Aufgaben zu bewältigen, auf die sie beschränkt ist. Das läuft parallel zu der allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz zur Zerstörung von Produktivkräften, gerade in einer Periode ungeheuren Wachstums dieser Kräfte“ (Horkheimer).

[8] In der „staatlichen Standardschule ... geht man selbstverständlich davon aus, dass z. B. bei einer Leistungsüberprüfung (Klassenarbeit o. ä.) der Anteil der ‚guten’ und ‚sehr guten’ Leistungen etwa dem der ‚mangelhaften’ und ‚ungenügenden’ entsprechen müsse, sonst gilt die Aufgabe als falsch gestellt.“ Dies geschieht „etwa in Analogie zur Gauß'schen Normalverteilung, oft sogar in ihrer unmittelbaren Anwendung oder unter Berufung auf sie!“ (Becker 1991, 17).

[9] Dass bei den Angstträumen Erwachsener das Thema Schule eine so große Rolle spielt, ist ein deutliches Indiz für die gravierende Bedeutung, die die Versagensangst einnimmt.

[10] „’Affinitive’ Zu- und Abwendungen wären so – in Abhebung von ‚definitiven’ – gekennzeichnet durch eine nicht aus-, sondern einschließende Herangehensweise, ein ‚Kommen-Lassen’ von gegenständlichen wie sprachlichen Bedeutungsverweisungen, ein ‚Sich-Zurücklehnen’, Übersicht-Gewinnen, eine ‚distributive’ (im Gegensatz zu ‚fixierender’) Beachtung, die Aufhebung von Festlegungen und Beschränkungen durch das In-den-Blick-Nehmen des ‚Ganzen’, dabei das Sich-leiten-Lassen von ‚Verwandtschaften’, das Fortgetragenwerden von einer Verweisung zur nächsten in den modalitätsübergreifenden Bedeutungsnetzen...“ (Holzkamp 1995, 328).

[11] So „versteht sich auch, dass von psychologischer Seite vorliegende Problematisierungen des ‚Begabungs’-Konzepts ... zwar u. U. vordergründige Beachtung fanden ..., aber der Verbreitung des ‚Begabungs’-Etiketts bei der Strukturierung des Schulalltags kaum etwas anhaben konnten“ (Holzkamp 1995, 402).

 

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor.