Texte
zur antikapitalistischen Organisations- und Programmdebatte

10/11

trend
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Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Revolutionäres Minimalprogramm
Kurze Erläuterungen zum „Bochumer Programm“

von Robert Schlosser
Oktober 2011

Die folgenden Erläuterungen drücken nur meine persönliche Meinung aus und repräsentieren keinesfalls die Meinung derjenigen, die diesen Vorschlag entwickelt, im Marx-Forum diskutiert und unterschrieben haben.

Warum ein Minimalprogramm?

Man sollte eins nicht vergessen: die mehr oder weniger „großen proletarischen Revolutionen“, auf die sich die Linksradikalen als wesentliche Bezugspunkte ihres Wirkens beziehen waren allesamt das Produkt von Kriegen und größter Zerrüttung der bestehenden Ordnung. Dies gilt sowohl für die Pariser Kommune 1871, wie für die russische Revolution 1917 oder die Revolutionen in Deutschland und Ungarn 1918/19. Die zentralen Forderungen, unter denen diese Revolutionen begannen und unter denen die Bewegung an Breite gewann, waren fast ausnahmslos Reformforderungen (ob es nun um die Beendigung des Krieges oder um dessen Fortführung ging / Pariser Kommune). Es war die Bewegung selbst, die Grenzen überschritt, Neues schaffte und Raum eröffnete für jene, die von Anfang an sozialrevolutionäre Ziele verfolgten. Die Versuche zur Einleitung einer sozialen Revolution waren nicht primär ein Produkt von allmählich um sich greifender theoretischer Kritik, der Ausbreitung eines „richtigen Bewusstsein“. 

Seit es den Kapitalismus gibt, existieren gute, intellektuell nachvollziehbare Gründe, ihn abzuschaffen. Offenbar reicht - wie die Geschichte lehrt - ein mehr oder weniger gut gelungener Vortrag dieser Gründe nicht aus, damit ein kommunistischer Standpunkt sich verallgemeinert unter der Masse der Menschen, deren Reproduktion (Arbeit und Leben jenseits der Arbeit) von Lohnabhängigkeit bestimmt ist. Die Entwicklung und Aneignung eines solchen Standpunktes ist Teil der Entwicklung der Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft und der sozialen (Widerstands-) Bewegungen, die durch sie provoziert werden.  

Die Entwicklung der auf soziale Emanzipation orientierten Bewegung von LohnarbeiterInnen schließt Irrwege und Niederlagen nicht aus. Die Fehler und Niederlagen können den Kommunismus bis zur gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit herunterwirtschaften, aber sie können nicht verhindern, dass immer wieder ein neuer Anlauf genommen wird, solange der Kapitalismus besteht. Sie können einen Neubeginn erschweren, aber sie machen ihn nicht unmöglich. 

Die Inhalte des sozialen Widerstand werden in aller Regel durch das Kapital selbst bestimmt. Die Aktion geht vom Kapital aus, die LohnarbeiterInnen reagieren. Die soziale Entwicklung wird in erster Linie vom „ökonomischen Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft“ bestimmt, solange das System der Lohnarbeit nicht überwunden ist. Dabei ist es nicht ausgemacht oder gar durch Beschluss einer „Avantgarde“ (womöglich gar eine Parteizentrale) vorgegeben, an welchem Punkt sich große Massenbewegungen entzünden. (Arbeitszeit, Rente, etc.) Kommunisten sollten allerdings zu allen entscheidenden Fragen, die das Kapital in seinem Interesse zu „optimieren“ gedenkt eine eigene Position entwickelt haben, in der sich das jeweilige Interesse der LohnarbeiterInnen in dieser konkreten Frage ausdrückt. Nur so können sie einen Beitrag leisten zur Verständigung unter den LohnarbeiterInnen und zu ihrer Organisierung, also zur partiellen Aufhebung der Konkurrenz unter VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft im Klassenkampf. Das ist die „Parteibildung“, die nötig ist und ohne die keine Chance auf Überwindung des Lohnsystems besteht.  

Keine der Forderungen oder Ziele des Minimalprogramms stellt als solche die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Frage. Als einzelne könnten sie ausnahmslos als Reformen verwirklicht werden, ohne dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verschwinden würden. In ihrer Summe würden sie allerdings in einem Umfang „Selbstverwaltung“ (Kommune, Sozialversicherungen) durchsetzen und dem Kapital Schranken auferlegen (Arbeiterschutzforderungen), dass sie ohne revolutionäre Massenbewegung niemals durchzusetzen wären. 

Warum Kommunalisierung und Demokratisierung?

Das Minimalprogramm orientiert sich in seinen politischen Forderungen an der Pariser Kommune, als der „politischen Form der sozialen Emanzipation“ (Marx).

„Die Kommune – das ist die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft...“  (Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, Dietz Verlag Berlin 1963, S. 171)

Die Kommunalisierung „möglichst vieler gesellschaftlicher Aufgaben“ wendet sich  gegen die „zentralisierte Staatsmaschinerie, die mit ihren allgegenwärtigen und verwickelten militärischen, bürokratischen, geistlichen und gerichtlichen Organen die lebenskräftige bürgerliche Gesellschaft wie eine Boa constrictor umklammert“ (Marx, a.a.O., S. 165)

„Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft“ ist unvereinbar mit jeder „zentralisierten Staatsmaschine“, auch wenn diese sich proletarisch, sozialistisch etc. nennt. Die Zerbrechung  jeder „zentralisierten Staatsmaschine“, die Reduzierung zentralstaatlicher Funktionen auf ein Minimum, ist eine entscheidende Voraussetzung für soziale Emanzipation.

Sofern einzelne der Forderungen, die auf Kommunalisierung und Demokratisierung abzielen, als Reformen des Systems durchgesetzt würden, könnte das nicht mehr bedeuten, als das die Kommunen „ein Gegengewicht gegen die … Staatsmacht“  bilden würden. Das Minimalprogramm zielt jedoch auf „lokale Selbstregierung“ nach dem Vorbild der Pariser Kommune.

„Das bloße Bestehn der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, die lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsgewalt.“ (Marx, a.a.O., S. 73)

Neben diesen grundsätzlichen Erwägung zur Begründung von Kommunalisierung und Demokratisierung möglichst vieler gesellschaftlicher Aufgaben ergibt sich die Brisanz dieser programmatischen Orientierung aber auch aus aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Stichwort: Privatisierung!

Staatsverschuldung ist ein wesentliches Produkt ökonomischer Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die durch „Wachstumsschwäche“, Überakkumulation und schärfere Kriseneinbrüche gekennzeichnet ist. Die Kommunen sind davon besonders betroffen. Das Kapital verlangt Abbau der Schulden durch Sparmaßnahmen im sozialen Bereich und Privatisierung der „öffentlichen Daseinsvorsorge“. Die Kommunen sollen Krankenhäuser, Müllabfuhr, öffentlichen Nahverkehr, Wasserversorgung etc. verkaufen, um sich Finanzmittel zu beschaffen und damit gleichzeitig Anlagemöglichkeiten für Kapital erschließen. Dieses kapitalistische  Programm läuft mittlerweile seit vielen Jahren mit „großem Erfolg“. Inzwischen gibt es aber in vielen Kommunen auch mehr oder weniger erfolgreichen Widerstand gegen diese Entwicklung.

Die Privatisierungsmaßnahmen drücken eine Tendenz aus, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens den Interessen der Kapitalverwertung unterzuordnen (“Marktfundamentalismus“). Ein Programm zur Kommunalisierung und Demokratisierung möglichst vieler gesellschaftlicher Aufgaben, ist die richtige Antwort darauf, die sich nicht auf eine Verteidigung des Status quo beschränkt. 

Überwindung des Lohnsystems durch selbstverwaltete Betriebe?

Das Minimalprogramm benennt die „Abschaffung der Lohnarbeit mittels Selbstverwaltung der Unternehmen durch die Werktätigen“ als unser wichtigstes Ziel. Mit dieser Ausrichtung wendet es sich gegen alle bisherigen Varianten eines „Staatssozialismus“, in dem die Betriebe vollständig von zentralstaatlichen Organen beherrscht wurden. Mir ist bewusst, dass mit dieser Festlegung eine Position bezogen wird, die alte Fragen neu aufwirft. In einem Brief an Bebel formulierte Engels das Problem so:

„Und dass wir beim Übergang in die volle kommunistische Wirtschaft den genossenschaftlichen Betrieb als Mittelstufe in ausgedehntem Maß werden anwenden müssen, daran haben Marx und ich nie gezweifelt.
Nur muss die Sache so eingerichtet werden, dass die Gesellschaft ... das Eigentum an den Produktionsmitteln behält und so die Sonderinteressen der Genossenschaft, gegenüber der Gesellschaft im Ganzen, sich nicht festsetzen können.“ F. Engels an Bebel, 20.1.1886. MEW 36, 426.

Genossenschaftliche Betriebe, die für den Markt produzieren, sind zweifellos nicht die Lösung des Problems. Eine Sache, die man ebenfalls aus der Geschichte lernen kann; ob auf großer Stufenleiter in Jugoslawien oder als Ausnahme im Kapitalismus. In der Praxis wurde bisher noch kein Weg gefunden, um das von Engels angesprochene Problem zu lösen. Ohne Selbstverwaltung in den Betrieben kann aber auf jeden Fall von einer Aneignung der gegenständlichen Bedingungen zur eigenen Reproduktion durch die Masse der Menschen nicht die Rede sein. Ohne genossenschaftliche Betriebe wird es keinen „Übergang in die volle kommunistische Wirtschaft“ geben.

Warum gewerkschaftliche Forderungen?

Alle Zeit für Kapitalproduktion zu nutzen, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche und 365 Tage im Jahr, das ist Traum von Kapitalisten und Tendenz des Kapitals. Dafür werden LohnarbeiterInnen verplant. Sie sollen sich flexibel den Anforderungen des Kapitals beugen. Menschen sollen funktionieren, wie es der Markt verlangt.

  • Nacht- und Schichtarbeit stellen sicher, dass 24 Stunden am Tag gearbeitet wird

  • Arbeiten an Samstagen und Sonntagen stellen sicher, dass die Räder die ganze Woche rund laufen

  • Arbeit an Feiertagen füllen die übrige Zeit des Jahres, die noch keine Arbeitszeit ist

  • Überstunden stellen sicher, dass Auftragsspitzen abgearbeitet werden können, ohne dass die Nachfrage nach Arbeitskraft und damit ihr Preis sich erhöhen

  • Leiharbeit stellt sicher, dass problemlos gefeuert werden kann, wenn die Auftragsbücher gerade mal nicht gut gefüllt sind.

  • „Armutslöhne“ stellen sicher, dass auch „kapitalschwache“ Unternehmen ihren Schnitt machen können.

Die LohnarbeiterInnen sollen sich flexibel den Anforderungen von Kapitalverwertung anpassen, ihr ganzes Leben auf  „ökonomisch vernünftiges Verhalten“ trimmen. Diese „ökonomische Vernunft“  fordert einen hohen gesundheitlichen und sozialen Preis, verlangt Aushalten und Verzicht, produziert vermehrt physische und psychische Erkrankungen.

Je stärker die Schwankungen von Angebot und Nachfrage, desto lauter die Rufe nach Flexibilisierung im Interesse des Kapitals und desto stärker die Tendenz, die Anwendung der menschlichen Arbeitskraft durch das Kapital diesen Wechselfällen des Marktes anzupassen. Dabei sind – neben der Massenarbeitslosigkeit - die Anwendung von Leiharbeit und die Befristung von Arbeitsverträgen mächtige Hebel, um das Lohnniveau insgesamt abzusenken. Die LohnarbeiterInnen werden nicht nur gezwungen immer länger zu arbeiten, sie werden durch das sinkende Lohnniveau auch gezwungen, immer weniger für die eigene Reproduktion und immer länger für die Reproduktion von Kapital zu arbeiten. Die Zahl von LohnarbeiterInnen, deren Lohn die Kosten für die eigene Reproduktion nicht mehr deckt, nimmt zu.

Gleichermaßen nimmt der staatliche Druck auf die Lohnabhängigen zu, sich solchen Lohnarbeitsverhältnissen zu beugen. Die Arbeitslosenversicherung in Gestalt der „Bundesagentur für Arbeit“ ist mehr und mehr zu einem Repressionsapparat geworden, der weniger dazu dient, die gravierendsten Folgen der kapitalistischen Produktionsweise zu lindern, als vielmehr Arbeitslose in Lohnarbeitsverhältnisse zu zwingen, die ihnen zwar kaum das Überleben, dem Kapital aber vermehrte Akkumulation ermöglichen.

Die gewerkschaftlichen Forderungen des Minimalprogramms zielen darauf ab, in zentralen Fragen der Gestaltung von Lohnarbeitsverhältnissen Schranken zu setzen, sich nicht vollständig dem Kapital unterzuordnen und nach seinem Profitinteresse zu funktionieren. In der Praxis erweiterter Kapitalreproduktion zeigt sich immer deutlicher der „nihilistische Standpunkt“ (Marx) zu dem das Kapital in puncto Reproduktion der Ware Arbeitskraft tendiert. Nur im Widerstand dagegen kann der wachsenden Konkurrenz unter den VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft begegnet werden.

 Alle Forderungen des Minimalprogramms zielen darauf ab, sozialem Widerstand gegen das Kapital eine offensive, selbständige Ausrichtung zu geben, die sich nicht auf Verteidigung des Status quo beschränkt. Ihre Ausrichtung ist offensiv durch die Orientierung auf Interessen aller Lohnabhängigen, die unabhängig von Rücksichtnahmen auf „ökonomische Vernunft“ formuliert werden.

Editorische Anmerkung

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.