Bei den
Riots im August dieses Jahres in London fühlte
sich ein Teil der europäischen Öffentlichkeit, neben den
Vorläufern in Großbritannien
(Brixton 1981), auch stark an die Ereignisse rund um Paris und
in anderen städtischen Ballungsräumen vom Herbst 2005
erinnert.Tatsächlich liegt ein Vergleich zwischen beiden
Situationen, mit ihren Gemeinsamkeiten aber auch wichtigen
Unterschieden, nahe.
Beginnen wir bei
den Differenzen.
Anders als
beispielsweise im Raum Paris oder Lyon, liegen im Gro ßraum
London die Elendsviertel mit hohem Arbeitslosenanteil oder
„sozialen Brennpunkte“ formal nicht außerhalb
der Stadt. Sie werden vielmehr als Stadtteile von London
bezeichnet und betrachtet, und Armutszonen, Reichenviertel sowie
Mittelklassengebiete liegen oftmals ineinander verschachtelt:
von unterschiedlichen sozialen Klassen bevölkerte Wohngebiete
liegen oft eng nebeneinander und wirken „durcheinander
gewürfelt“. Allerdings ist die zentrale Innenstadt, die
City of London, für einen Großteil
der BewohnerInnen generell unbezahlbar teuer. Im Unterschied
dazu werden in den meisten französischen Großstädten
die Armutszonen und früheren Arbeiterviertel nicht als Teil der
Stadt selbst behandelt. Vielmehr bilden sie eigene Kommunen mit
ihren jeweiligen Rathäusern, Verwaltungsapparaten und ihrem
(meist überaus geringfügigen) eigenen kommunalen
Steueraufkommen. Ringförmig umgeben sie die „eigentliche“ Stadt
wie beispielweise Paris oder Lyon. Allein in Marseille besteht
eine andere Struktur: Dort werden die proletarisierten oder
subproletarischen Wohngebiete als Bestandteil der Stadt selbst
betrachtet und bilden ihre „Nordbezirke“, während die näher an
der Mittelmeerküste gelegenen Südviertel wohlhabender sind - der
Unterschied fällt dabei in Marseille jedoch nicht derart krass
aus wie im Falle von Paris.
Auch die
Verlaufsform und vor allem die politischen Folgen der
Riots weisen Unterschiede auf. Insbesondere fehlte im
Falle der französischen Unruhen während des Herbsts 2005 die
spektakuläre Eigenaktivität reaktionärer Elemente. Hingegen
führten im August 2011 die English Defence League
und andere rechtsextreme Gruppierungen eigene Aufmärsche und
Patrouillengänge von „Bürgerwehren“ durch. Diese gingen im
Übrigen auch nach den Unruhen weiter, so kam es am 03. September
in East London zu einem bedrohlichen Aufmarsch der
EDL (und im Anschluss zu sechzig Festnahmen).
In Frankreich
Ende 2005 versuchten die Rechte und die extreme Rechte,
politisch von der Situation zu profitieren - und forcierten im
Anschluss an die Riots vor allem die Debatte um den
Einwanderer-Anteil in den „sozialen Brennpunkten“ sowie um die
Polygamie als angebliche (familiäre) Ursache der „Verwahrlosung
von Jugendlichen“ und dadurch auch der Krawalle. Letztere
Debatte wurde, neben einschlägigen politischen Milieus, damals
auch durch die bekannte reaktionäre Schriftstellerin Hélène
Carrère d’Encausse angeheizt. Allerdings kam es nicht zu
selbständigen Initiativen dieser Kreise während der Unruhen auf
den Stra ßen.
Jedenfalls wenn von einem überraschend durchgeführten Auftritt
zweier rechtskonservativer bis rechtsextremer Prominenter
(Philippe de Villiers von der nationalkatholischen Kleinpartei
MPF, „Bewegung für Frankreich“, und Jacques Bompard als
„Dissident“ und Überläufer vom Front National) zum Fototermin in
der Pariser Banlieue am 03. November 2005 absieht.
Kein Vergleich zu den mit Baseball- und Hockeyschlägern sich
bewaffnenden „Bürgerwehren“ in England im Sommer 2011. Ein Grund
dafür könnte, neben dem stärkeren Gewicht des Zentralstaates in
der französischen Gesellschaft, auch daran liegen, dass die
Polizei in Frankreich 2005 nicht so sehr als „überfordert“
dargestellt wurde und weniger in der Defensive wirkte als sechs
Jahre später in London.
Gemeinsamkeiten
zwischen beiden Situationen bestehen natürlich darin, dass es
sowohl im Raum London als auch im Raum Paris und anderswo in
Frankreich starke Konzentrationen sozialen Elends gibt, in
Frankreich in der Regel auf engerem Raum - die Ballungszone
Paris ist drei mal so dicht besiedelt wie der Raum London - als
nördlich des Ärmelkanals. Ebenso dürfte in beiden Fällen ein
wichtiges Element in der Wahrnehmung der Situation durch die
übrige Gesellschaft darin bestehen, dass die Lage in den
betroffenen Armutszonen durch den Rest des Landes aufgrund eines
relativ hohen Einwandereranteils durch eine stark ethnisierende
Brille wahrgenommen wird.
In beiden Fällen
wirkte ein durch die Polizei ausgelöster Todesfall als Auslöser
der Revolten. Im französischen Beispiel ging der zündende Funke
vom Tod zweier Jugendlicher aus, Zyed Benna und Bouna Traoré, 17
und 15 Jahre alt. Sie hatten keinerlei Straftat begangen, wurden
jedoch auf dem Nachhauseweg vom Sport durch die Polizei gehetzt,
weil sie sich einer sinnlosen Personalienkontrolle zu entziehen
versuchten. Zuflucht suchten sie in einem Trafohäuschen des
Elektrizitätsversorgers EDF, in welchem sie einen tödlichen
Stromschlag erlitten - die Polizei wusste von ihrem
Aufenthaltsort und gab in Funksprüchen zynische Sprüche darüber
ab.
Kurz nach
Bekanntwerden ihres Todes, am 27. Oktober 2007 in der Pariser
Vorstadt Clichy-sous-Bois, fanden dort (zehn Kilometer östlich
der Hauptstadt) die ersten Zusammenstö ße
zahlreicher junger Menschen mit der Polizei statt. Die Unruhen
weiteten sich innerhalb von drei Tagen auf den ganzen Großraum
Paris, und innerhalb von einer Woche auf 27 Bezirke (von
insgesamt 100) im gesamten Land aus. Selbst in städtischen
Peripherien innerhalb relativ ländlicher Zonen, etwa im Raum
Evreux, fanden in diesem Zusammenhang Riots statt, brannten
nächtlich Autos und wurden Steine auf die „Sicherheits“kräfte
geworfen. Hingegen notierten viele Beobachter, dass der Raum
Marseille mit seiner andersartigen Sozialstruktur damals nur in
geringem Ausmaß
berührt wurde - er sorgte erst in späteren Jahren durch Unruhen
(2006) wie durch spektakuläre kriminelle Gewalttaten (2011) für
Aufsehen.
Die unmittelbare
politische Reaktion bestand darin, dass die konservative
Regierung unter Premier Dominique de Villepin und dem damaligen
Innenminister Nicolas Sarkozy die eingesetzten Polizeikräfte
massiv verstärkte. Zusätzlich wurden am 08. November 2005 die
Notstandsgesetze, die am 03. April 1955 verabschiedet worden
waren und historisch als Repressionsinstrument im Algerienkrieg
gedient hatten, für drei Monate in Kraft gesetzt. Dieses Arsenal
erlaubt u.a. präventive Festnahmen und Internierungen, die
Einführung einer Pressezensur und die Verhängung von räumlich
begrenzten Ausgangssperren. Die allermeisten Ma bnahmen
dieses Arsenals kamen konkret nicht zur Anwendung, mit Ausnahme
der örtlichen Ausgangssperren, die in acht Fällen für die
späteren Abend- und Nachtstunden rund um „Problemstadtteile“
bspw. in Evreux verhängt wurden. Die Riots flauten zu
diesem Zeitpunkt jedoch bereits im überwiegenden Teil
Frankreichs von alleine ab. Nach anderthalb Monaten hob
Präsident Jacques Chirac die Notstandsgesetzgebung um den
Jahreswechsel 2005/06 wieder auf.
Neben dieser,
zumindest auf symbolischer Ebene spektakulären, Einschnitt in
Sachen Repressionspolitik verstärkte die Regierung in den Wochen
und Monaten nach den Unruhen aber auch ihre (jedenfalls
vordergründig verfolgte) Anti-Diskriminierungs-Politik. In ihrem
Diskurs erkannte sie Diskriminierung und rassistische
Ausgrenzung auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, jedenfalls
verbal, stärker an als zuvor und kündigte die Einleitung von
Gegenma ßnahmen
an. Zwar diente dies in der Praxis, neben einigen tatsächlichen
Antidiskriminierungsmabnahmen
oder Versuchen dazu - wie der, unvollendet gebliebenen,
Einführung eines anonymisierten Bewerbungsverfahrens (,CV
anonyme’) - allerdings ab dem Frühjahr 2006 vor allem zur
Begründung wirtschaftsliberaler Beschlüsse: Der, gescheiterte,
Abbau des Kündigungsschutzes für unter 30jährige wurde vor dem
Hintergrund der nunmehr anerkannten Realität von Diskriminierung
auf dem Arbeitsmarkt als „Maßnahme
zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Erleichterung der Jobsuche“
präsentiert. Letzterer Vorstoß
scheiterte jedoch im April 2006 an einer massiven
Protestbewegung.
Sowohl eine
zumindest verbal die Notwendigkeit von
Diskriminierungsbekämpfung anerkennende Politik - sie führte
unter Präsident Sarkozy ab 2007 zur Ernennung von MinisterInnen
aus „ethnischen Minderheiten“ wie der kurzlebigen (und
inkompetenten) Justizministerin Rachida Dati - als auch eine
stark repressive Tendenz wurden beide in der öffentlichen
Meinung durch die Riots von 2005 befördert.
Letztendlich übrig blieb, aus heutiger Sicht, allerdings
schlussendlich vor allem die repressive Strömung.
Aus Sicht der
Linken und radikalen Linken gab es erhebliche Schwierigkeiten
mit der Positionierung zu den Riots, aufgrund
ihres nicht organisierten Charakters, des Ausbleibens
artikulierter politischer oder sozialer Forderungen, und der
Kluft in der Wahrnehmung der Unruhen zwischen den Bewohner/innen
„sozialer Brennpunkte“ und einer relativ breiten Mehrheit in der
übrigen Bevölkerung. Einige autonome Kreise setzten zwar - oft
ziemlich naiv - auf die konkrete Form der Riots
als vermeintliches Zukunftsmodell revolutionärer Aktivität:
Gerade ihre Nichtorganisierung, das Fehlen jeglicher
Vertreter/innen und „erfüll- und dadurch integrierbarer“
Forderungen stelle ein antagonistisches Element zur herrschenden
Ordnung dar. Es ist jedoch nicht bekannt, dass daraus auf
längere Sicht irgendeine Form von revolutionärer Bewegung
entstanden wäre.
In der übrigen
Linken dominierten die Schwierigkeiten, sich zu positionieren.
Was ihre Wählerschaft betrifft, so dominierte bei allen
parteiförmig strukturierten Organisationen - von der
Sozialdemokratie über die KP bis zur trotzkistischen radikalen
Linken - unter den nicht organisierten Sympathisant/inn/en zu
rund zwei Dritteln der Wunsch nach repressivem Umgang mit der
Revolte. Unter den Aktiven sah dies anders aus. Zu
Demonstrationen gegen die Repression kamen jedoch
Teilnehmer/innen in nur relativ geringer Zahl, auf dem Höhepunkt
waren es rund 2.000 (vielleicht auch 2500) Demonstrierende gegen
die Verhängung der Notstandsgesetzgebung am 16. November 2005 in
Paris. Ein Teil der radikalen Linken versuchte, durch den
Vorschlag (etwa des trotzkistischen Ex-Präsidentschaftskandidat
Olivier Bensancenot) für eine sternmarschförmige Mobilisierung
von Demonstrant/inn/en aus den Trabantenstädten zu den „Zentren
der politischen Macht“ in Paris die Kluft zwischen „sozialen
Brennpunkten“ und Kernstädten zu überbrücken. Dazu kam es
jedoch, aufgrund des Ausbleibens einer breiteren Mobilisierung,
im Endeffekt nicht.
Editorische Hinweise
Den Text erhielten wir vom Autor. Es
handelt sich um eine ausführliche Fassung eines Artikels, der
gekürzt in der letzten Ausgabe von Analyse und Kritik
erschien.
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