Unruhen in London 2011 und in Paris 2011
Ein paar Anmerkungen zum Vergleich zwischen beiden Ereignissen

von Bernard Schmid

10/11

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Bei den Riots im August dieses Jahres in London fühlte sich ein Teil der europäischen Öffentlichkeit, neben den Vorläufern in Großbritannien (Brixton 1981), auch stark an die Ereignisse rund um Paris und in anderen städtischen Ballungsräumen vom Herbst 2005 erinnert.Tatsächlich liegt ein Vergleich zwischen beiden Situationen, mit ihren Gemeinsamkeiten aber auch wichtigen Unterschieden, nahe.  

Beginnen wir bei den Differenzen.  

Anders als beispielsweise im Raum Paris oder Lyon, liegen im Großraum London die Elendsviertel mit hohem Arbeitslosenanteil oder „sozialen Brennpunkte“ formal nicht außerhalb der Stadt. Sie werden vielmehr als Stadtteile von London bezeichnet und betrachtet, und Armutszonen, Reichenviertel sowie Mittelklassengebiete liegen oftmals ineinander verschachtelt: von unterschiedlichen sozialen Klassen bevölkerte Wohngebiete liegen oft eng nebeneinander und wirken „durcheinander gewürfelt“. Allerdings ist die zentrale Innenstadt, die City of London, für einen Großteil der BewohnerInnen generell unbezahlbar teuer. Im Unterschied dazu werden in den meisten französischen Großstädten die Armutszonen und früheren Arbeiterviertel nicht als Teil der Stadt selbst behandelt. Vielmehr bilden sie eigene Kommunen mit ihren jeweiligen Rathäusern, Verwaltungsapparaten und ihrem (meist überaus geringfügigen) eigenen kommunalen Steueraufkommen. Ringförmig umgeben sie die „eigentliche“ Stadt wie beispielweise Paris oder Lyon. Allein in Marseille besteht eine andere Struktur: Dort werden die proletarisierten oder subproletarischen Wohngebiete als Bestandteil der Stadt selbst betrachtet und bilden ihre „Nordbezirke“, während die näher an der Mittelmeerküste gelegenen Südviertel wohlhabender sind - der Unterschied fällt dabei in Marseille jedoch nicht derart krass aus wie im Falle von Paris. 

Auch die Verlaufsform und vor allem die politischen Folgen der Riots weisen Unterschiede auf. Insbesondere fehlte im Falle der französischen Unruhen während des Herbsts 2005 die spektakuläre Eigenaktivität reaktionärer Elemente. Hingegen führten im August 2011 die English Defence League und andere rechtsextreme Gruppierungen eigene Aufmärsche und Patrouillengänge von „Bürgerwehren“ durch. Diese gingen im Übrigen auch nach den Unruhen weiter, so kam es am 03. September in East London zu einem bedrohlichen Aufmarsch der EDL (und im Anschluss zu sechzig Festnahmen).  

In Frankreich Ende 2005 versuchten die Rechte und die extreme Rechte, politisch von der Situation zu profitieren - und forcierten im Anschluss an die Riots vor allem die Debatte um den Einwanderer-Anteil in den „sozialen Brennpunkten“ sowie um die Polygamie als angebliche (familiäre) Ursache der „Verwahrlosung von Jugendlichen“ und dadurch auch der Krawalle. Letztere Debatte wurde, neben einschlägigen politischen Milieus, damals auch durch die bekannte reaktionäre Schriftstellerin Hélène Carrère d’Encausse angeheizt. Allerdings kam es nicht zu selbständigen Initiativen dieser Kreise während der Unruhen auf den Straßen. Jedenfalls wenn von einem überraschend durchgeführten Auftritt zweier rechtskonservativer bis rechtsextremer Prominenter (Philippe de Villiers von der nationalkatholischen Kleinpartei MPF, „Bewegung für Frankreich“, und Jacques Bompard als „Dissident“ und Überläufer vom Front National) zum Fototermin in der Pariser Banlieue am 03. November 2005 absieht. Kein Vergleich zu den mit Baseball- und Hockeyschlägern sich bewaffnenden „Bürgerwehren“ in England im Sommer 2011. Ein Grund dafür könnte, neben dem stärkeren Gewicht des Zentralstaates in der französischen Gesellschaft, auch daran liegen, dass die Polizei in Frankreich 2005 nicht so sehr als „überfordert“ dargestellt wurde und weniger in der Defensive wirkte als sechs Jahre später in London. 

Gemeinsamkeiten zwischen beiden Situationen bestehen natürlich darin, dass es sowohl im Raum London als auch im Raum Paris und anderswo in Frankreich starke Konzentrationen sozialen Elends gibt, in Frankreich in der Regel auf engerem Raum - die Ballungszone Paris ist drei mal so dicht besiedelt wie der Raum London - als nördlich des Ärmelkanals. Ebenso dürfte in beiden Fällen ein wichtiges Element in der Wahrnehmung der Situation durch die übrige Gesellschaft darin bestehen, dass die Lage in den betroffenen Armutszonen durch den Rest des Landes aufgrund eines relativ hohen Einwandereranteils durch eine stark ethnisierende Brille wahrgenommen wird.  

In beiden Fällen wirkte ein durch die Polizei ausgelöster Todesfall als Auslöser der Revolten. Im französischen Beispiel ging der zündende Funke vom Tod zweier Jugendlicher aus, Zyed Benna und Bouna Traoré, 17 und 15 Jahre alt. Sie hatten keinerlei Straftat begangen, wurden jedoch auf dem Nachhauseweg vom Sport durch die Polizei gehetzt, weil sie sich einer sinnlosen Personalienkontrolle zu entziehen versuchten. Zuflucht suchten sie in einem Trafohäuschen des Elektrizitätsversorgers EDF, in welchem sie einen tödlichen Stromschlag erlitten - die Polizei wusste von ihrem Aufenthaltsort und gab in Funksprüchen zynische Sprüche darüber ab.  

Kurz nach Bekanntwerden ihres Todes, am 27. Oktober 2007 in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois, fanden dort (zehn Kilometer östlich der Hauptstadt) die ersten Zusammenstöße zahlreicher junger Menschen mit der Polizei statt. Die Unruhen weiteten sich innerhalb von drei Tagen auf den ganzen Großraum Paris, und innerhalb von einer Woche auf 27 Bezirke (von insgesamt 100) im gesamten Land aus. Selbst in städtischen Peripherien innerhalb relativ ländlicher Zonen, etwa im Raum Evreux, fanden in diesem Zusammenhang Riots statt, brannten nächtlich Autos und wurden Steine auf die „Sicherheits“kräfte geworfen. Hingegen notierten viele Beobachter, dass der Raum Marseille mit seiner andersartigen Sozialstruktur damals nur in geringem Ausmaß berührt wurde - er sorgte erst in späteren Jahren durch Unruhen (2006) wie durch spektakuläre kriminelle Gewalttaten (2011) für Aufsehen. 

Die unmittelbare politische Reaktion bestand darin, dass die konservative Regierung unter Premier Dominique de Villepin und dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy die eingesetzten Polizeikräfte massiv verstärkte. Zusätzlich wurden am 08. November 2005 die Notstandsgesetze, die am 03. April 1955 verabschiedet worden waren und historisch als Repressionsinstrument im Algerienkrieg gedient hatten, für drei Monate in Kraft gesetzt. Dieses Arsenal erlaubt u.a. präventive Festnahmen und Internierungen, die Einführung einer Pressezensur und die Verhängung von räumlich begrenzten Ausgangssperren. Die allermeisten Mabnahmen dieses Arsenals kamen konkret nicht zur Anwendung, mit Ausnahme der örtlichen Ausgangssperren, die in acht Fällen für die späteren Abend- und Nachtstunden rund um „Problemstadtteile“ bspw. in Evreux verhängt wurden. Die Riots flauten zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits im überwiegenden Teil Frankreichs von alleine ab. Nach anderthalb Monaten hob Präsident Jacques Chirac die Notstandsgesetzgebung um den Jahreswechsel 2005/06 wieder auf. 

Neben dieser, zumindest auf symbolischer Ebene spektakulären, Einschnitt in Sachen Repressionspolitik verstärkte die Regierung in den Wochen und Monaten nach den Unruhen aber auch ihre (jedenfalls vordergründig verfolgte) Anti-Diskriminierungs-Politik. In ihrem Diskurs erkannte sie Diskriminierung und rassistische Ausgrenzung auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, jedenfalls verbal, stärker an als zuvor und kündigte die Einleitung von Gegenmaßnahmen an. Zwar diente dies in der Praxis, neben einigen tatsächlichen Antidiskriminierungsmabnahmen oder Versuchen dazu - wie der, unvollendet gebliebenen, Einführung eines anonymisierten Bewerbungsverfahrens (,CV anonyme’) - allerdings ab dem Frühjahr 2006 vor allem zur Begründung wirtschaftsliberaler Beschlüsse: Der, gescheiterte, Abbau des Kündigungsschutzes für unter 30jährige wurde vor dem Hintergrund der nunmehr anerkannten Realität von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt als „Maßnahme zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Erleichterung der Jobsuche“ präsentiert. Letzterer Vorstoß scheiterte jedoch im April 2006 an einer massiven Protestbewegung. 

Sowohl eine zumindest verbal die Notwendigkeit von Diskriminierungsbekämpfung anerkennende Politik - sie führte unter Präsident Sarkozy ab 2007 zur Ernennung von MinisterInnen aus „ethnischen Minderheiten“ wie der kurzlebigen (und inkompetenten) Justizministerin Rachida Dati - als auch eine stark repressive Tendenz wurden beide in der öffentlichen Meinung durch die Riots von 2005 befördert. Letztendlich übrig blieb, aus heutiger Sicht, allerdings schlussendlich vor allem die repressive Strömung.

Aus Sicht der Linken und radikalen Linken gab es erhebliche Schwierigkeiten mit der Positionierung zu den Riots, aufgrund ihres nicht organisierten Charakters, des Ausbleibens artikulierter politischer oder sozialer Forderungen, und der Kluft in der Wahrnehmung der Unruhen zwischen den Bewohner/innen „sozialer Brennpunkte“ und einer relativ breiten Mehrheit in der übrigen Bevölkerung. Einige autonome Kreise setzten zwar - oft ziemlich naiv - auf die konkrete Form der Riots als vermeintliches Zukunftsmodell revolutionärer Aktivität: Gerade ihre Nichtorganisierung, das Fehlen jeglicher Vertreter/innen und „erfüll- und dadurch integrierbarer“ Forderungen stelle ein antagonistisches Element zur herrschenden Ordnung dar. Es ist jedoch nicht bekannt, dass daraus auf längere Sicht irgendeine Form von revolutionärer Bewegung entstanden wäre.  

In der übrigen Linken dominierten die Schwierigkeiten, sich zu positionieren. Was ihre Wählerschaft betrifft, so dominierte bei allen parteiförmig strukturierten Organisationen - von der Sozialdemokratie über die KP bis zur trotzkistischen radikalen Linken - unter den nicht organisierten Sympathisant/inn/en zu rund zwei Dritteln der Wunsch nach repressivem Umgang mit der Revolte. Unter den Aktiven sah dies anders aus. Zu Demonstrationen gegen die Repression kamen jedoch Teilnehmer/innen in nur relativ geringer Zahl, auf dem Höhepunkt waren es rund 2.000 (vielleicht auch 2500) Demonstrierende gegen die Verhängung der Notstandsgesetzgebung am 16. November 2005 in Paris. Ein Teil der radikalen Linken versuchte, durch den Vorschlag (etwa des trotzkistischen Ex-Präsidentschaftskandidat Olivier Bensancenot) für eine sternmarschförmige Mobilisierung von Demonstrant/inn/en aus den Trabantenstädten zu den „Zentren der politischen Macht“ in Paris die Kluft zwischen „sozialen Brennpunkten“ und Kernstädten zu überbrücken. Dazu kam es jedoch, aufgrund des Ausbleibens einer breiteren Mobilisierung, im Endeffekt nicht.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor. Es handelt sich um eine ausführliche Fassung eines Artikels, der gekürzt in der letzten Ausgabe von Analyse und Kritik erschien.