Die verlorene Republik?

von Dieter Carstensen

10/11

trend
onlinezeitung

Gestern hatten wir bei uns im Ort mal wieder eines unser halbjährlichen Treffen mit einer bunten Mischung von Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, von der Hartz IV Empfängerin Petra*, 44 Jahre, alleinerziehend, über Hubert*, 35 Jahre, Sonderschullehrer, hin zu Jörg*, 62 Jahre, erfolgreicher Bauunternehmer. Mit allen Menschen die gestern dabei waren, verbindet mich seit Jahren eine tiefe Freundschaft oder zumindest enge Bekanntschaft. Wir treffen uns immer zu den unterschiedlichsten Themen, gestern ging es um das Thema "Zustand der BRD". Natürlich haben wir abends auch noch Party gemacht, aber zunächst haben wir einen ernsthaften Gedankenaustausch gehabt. Wir waren insgesamt 74 Personen aus ganz NRW.

Bekannter weise habe ich keinerlei Berührungsängste gegenüber Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten. Solange sie demokratisch sind, kein Problem für mich. Ich schreibe meine Meinung manchmal hier manchmal dort, je nach Thema, in Leserbriefen oder Artikeln.

Mein Taufpatenonkel, der leider viel zu früh gestorben ist, war viele Jahre CDU-Landtagsabgeordneter, ich war früher Vorsitzender der Jungsozialisten hier in unserem Kuhkaff, aber trotz so unterschiedlicher Ansichten:

Wir konnten miteinander reden, es blieb immer sachlich, wurde nie persönlich einander verletzend. So sollte es nach meinem Demokratieverständnis sein. Mein Taufpatenonkel war auf dem Gymnasium mein Geschichtslehrer und als ich in der zwölften und dreizehnten Klasse war, ging es ja in den Klassenarbeiten weniger um Jahreszahlen, denn um Zusammenhänge.

Obwohl ich sehr linke Ansichten hatte, bekam ich immer ein "sehr gut" für meine Arbeiten, trotz völlig anderer Ansichten meines Patenonkels, da es um die Sache ging und die kann, so sehe ich das heute, eben sehr unterschiedlich betrachtet werden.

Ein Grundmerkmal der Demokratie ist für mich, auch andere Meinungen aushalten zu können.

Leute wie dieser, ich zitiere, sehen es anders:

»Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.« US-Multimilliardär und Finanz-Warlord Warren E. Buffet, 2005

Und genau darum drehte sich die Diskussion gestern auf unserem Treffen.

Petra* ist eher den Linken zugeneigt, Hubert* den Grünen und Jörg* der CDU. Als Sozialarbeiter und Einladender zu unserem Treffen habe ich die Diskussion strukturiert und geleitet, ich bin eh in keiner Partei und wenn mich jemand fragen würde, was ich bei der nächsten Wahl wähle, könnte ich heute ehrlich gesagt darauf keine Antwort geben. Der Abend gestern war sehr spannend, weil für mich die Diskussion mit so unterschiedlichen Menschen, die ich aber persönlich, trotz aller Unterschiedlichkeiten alle sehr mag, mir wirklich was gegeben hat und darüber berichte ich hier.

Es ging hoch her, in unserer Diskussion:

Petra* wollte, wie sie wörtlich sagte, "die ganzen Hartz IV Verbrecherregierungen in den Knast" schicken.

Jörg* wollte, ich habe gestaunt, obwohl er Unternehmer ist, Mindestlöhne für alle, weil dadurch auch für Unternehmer mehr Chancengleichheit im Wettbewerb käme. Hat mir eingeleuchtet, denke ich ja seit Jahren so, aber das von einem CDU Unternehmer "live" zu hören ...

Unser Hubert* forderte dann ein generelles Tempolimit von 80 km/h für alle Straßen in der BRD.

Markus*, 49 Jahre, Elektriker, ein treuer Anhänger der Linken, meinte daraufhin "wir müssen alles verstaatlichen, dann werden Raserautos auch nicht mehr gebaut und die Banken nehmen uns nicht mehr aus."

Daraufhin lief Jörg* puterrot im Gesicht an und wurde stocksauer, meinte, er würde sich seinen kleinen mittelständischen Betrieb mit seinen 45 Beschäftigten von niemandem abnehmen lassen, wörtlich sagte er, "nur über meine Leiche", und außerdem würde er mit seinem Benz auf der Autobahn gerne schnell fahren, um seine Geschäftstermine einzuhalten.

Daraufhin wurde Petra* wütend und meinte, sie als Hartz IV Bezieherin könne sich noch nicht mal ein Auto leisten, gerade mal ein Fahrrad und was das alles, wörtlich zitiert, für eine "Schwachsinnsdiskussion" sei.

Es kam aber noch besser!

Karla*, 36 Jahre, Verkäuferin, griff dann auch in die Diskussion ein. Zitat:" Ey Leute, was soll der Scheiß hier? Ich kriege 7,50 Euro brutto die Stunde bei mir im Supermarkt und gehe voll arbeiten. Mich kotzt diese Regierung an, es reicht kaum zum Leben, was ich netto raus krieg. Die da oben sind alle Verbrecher!"

So ging es munter hin und her, bis sich Friedrich*, ein 75 jähriger Rentner, gelernter Dreher, seit eh und je in der IG Metall, zu Wort meldete:  "So Kinners", sagte er und ich habe mir jedes Wort mitgeschrieben, "jetzt erklär ich Euch mal, was hier abgeht: Mein Leben lang hab ich hart malocht, 4 Kinder groß gebracht, habe 7 Enkel und oft mussten wir jeden Pfennig rumdrehen, meine Frau und ich, soviel Penunse hab ich früher nich verdient. Mich widert es an! Erst wurden wir verschrödert, nun werden wir vermerkelt. Merkt hier überhaupt noch einer was los ist?  Ist die Republik verloren? Hier bekommt doch niemand mehr den Arsch hoch um für seine Rechte einzustehen! Wir sind 1957 für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf die Straße gegangen, 16 Wochen waren die Kollegen im Ausstand und ich war dabei. Und Ihr lasst Euch von den Typen in Schlips und Zwirn, die sich heute Banker und Politiker nennen, so ausnehmen? Seid Ihr alle verblödet? Setzt Euren Arsch in Bewegung und tut was. Ich bin zu alt, aber Ihr könnt noch was ändern."

Danach war erst Ruhe im Raum und dann tosender Beifall, auch von unserem Jörg, was mich verblüfft, aber auch gefreut hat.

Und damit endet mein Bericht, ist ja auch nur eine Momentaufnahme aus meinem Leben, dann ging es auf Party.

Mir ging die ganze Zeit während unserer Diskussion ein Witz durch den Kopf, den ich mal vor Jahren in der Oberbergischen Volkszeitung gelesen hatte und den ich dann als Schlusswort vor der Party zitiert habe:

"Prüfungsfrage an einen Studenten: "Was halten sie von der Zivilisation in den modernen Industriegesellschaften?" - Antwort: "Sie sollten endlich mal damit anfangen."

*Alle Namen und Daten zum Schutz der Beteiligten geändert, der Verfasser*

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor am 8.10.2011. Erstveröffentlicht wurde er auf dessen Website am 9.10 2011.

Der Autor hat eine eigene Website mit vielen interessanten Texten und Links.